Prof. Dr. Hans-Werner Sinn, Ifo München, lobt
Er ist der kritische Beobachter der Finanzkrise, der Chef des Instituts für Wirtschaftsforschung. „Dialog“ fragte Prof. Sinn zur aktuellen Wirtschaftslage und deren Auswirkungen auf den deutschen Arbeitsmarkt.
Wenn der Bundesfinanzminister Steinbrück im Parlament erklärt, die aktuelle Finanz- und Bankenkrise verändere die Welt, dann muss es schon schlimm sein. Wie schlimm ist es wirklich? Muss der Arbeitsmarkt noch eine dicke Rechnung bezahlen?
Prof. Hans-Werner Sinn: Die Arbeitslosigkeit war zum Jahresende 2008 auf dem tiefsten Stand seit langem - auch dank Der Agenda 2010. Die Konjunktur geht aber nun tief in den Keller. Deutschland steht am Beginn einer schweren Rezession. Insofern werden auch die Arbeitslosenzahlen wieder hochschnellen. Wenn die Flaute so schlimm wird wie die letzte, werden wir die Fünf-Millionen-Grenze nicht mehr erreichen, denn der Sockel ist jetzt viel kleiner als damals. Allerdings sind die konjunkturellen Gefahren wegen der noch lange nicht bewältigten Finanzkrise und der riesigen Anpassungsprobleme in Amerika, wo die Menschen aufhören müssen, über ihre Verhältnisse zu leben, diesmal größer als bei der letzten Flaute vor fünf Jahren. Ich hoffe, dass uns die Fünf-Millionen-Grenze im Winter 2010/2011 trotzdem erspart bleibt.
Die Berteismann-Stiftung behauptet in einer Studie, der Mittelstand breche weg - wie in den USA. Gehören wirklich immer noch alle zwischen 1.500 und 3.250 Euro (brutto!) im Monat zum Mittelstand?
Sinn: Die Definition des Mittelstands ist Willkür, wie die meisten Definitionen. Der deutsche Mittelstand oder besser die Mittelschicht wird vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung durch den Einkommensbereich zwischen 70 und 150 Prozent des bedarfsgewichteten Medianeinkommens definiert.
Was bedeutet das jetzt im Klartext?
Sinn: Bei einem Single war das im Jahr 2005 der Bereich von 911 bis 1951 Euro monatlich netto. Die Mittelschicht wurde im Vor-Agenda-Sozialsystem der Bundesrepublik immer weiter geschwächt und hatte im Jahr 2005, dem Maximum der Arbeitslosigkeit, auf die sich die meisten Studien beziehen, einen Tiefststand. Danach wurde sie aber wieder stärker, wie die neuesten Zahlen des sozioökonomischen Panels für das Jahr 2006 beweisen. Vermutlich werden die Zahlen für 2008, die wir erst in zwei Jahren haben werden, noch viel besser sein, weil die Arbeitslosigkeit in dem Jahr bei einem temporären Minimum angekommen war. Nichts erklärt die Änderung in der Stärke der Mittelschicht so wie die Änderung der Arbeitslosigkeit. Die jetzt anstehende Zunahme der Arbeitslosenzahlen wird die Mittelschicht gegenüber 2008 wieder stärken, aber bis wir das messen können, ist die Flaute hoffentlich schon wieder am Abklingen.
Muss nicht eine neue Definition her, die auch die Lebenshaltungskosten berücksichtigt?
Sinn: Wenn man relative und nicht absolute Maße heranzieht, darf man die Lebenshaltungskosten nicht berücksichtigen, denn durch die Bildung der Relation findet ja bereits eine Normierung und Bereinigung statt. Eine Bereinigung durch einen Lebenshaltungskostenindex wäre nur bei absoluten Armutsmaßen sinnvoll. Aber mit absoluten Maßen würde man der Problematik auch nicht gerecht. Mit ihnen erschiene Deutschland als ein Land ohne Armut, weil auch die relativ Armen bei uns besser leben als die Mittelschicht in vielen Ländern der Erde. Es geht also nur relativ und nur mit international einheitlichen Definitionen. Alles andere macht keinen Sinn. Wollte man die Definitionen nach politischer Stimmungslage ändern, würde man sich der Manipulation verdächtig machen.
Arbeitslose finanziell fördern und von ihnen im Gegenzug Bemühungen zur Selbsthilfe zu fordern, ist schon o.k., aber haben wir auch genug Arbeit in der Wirtschaft - vor allem im Niedriglohnsektor?
Sinn: Wie viel Arbeit wir insgesamt haben, hängt von der Konjunktur und außerdem davon ab, wie teuer die Arbeit ist. Wenn wir den Arbeitslosen Lohnzuschüsse zahlen, wie Es die Agenda 2010 bei 1,3 Millionen Menschen tut, dann sinkt dadurch der Mindestlohnanspruch, zu dem sich das Arbeiten lohnt, und es entsteht ein Niedriglohnsektor, weil es für die Unternehmen attraktiv wird, auch weniger produktive Jobs zu bewirtschaften. Der gerade zu Ende gegangene Aufschwung hat in aller Deutlichkeit gezeigt, dass es keinen festen Arbeitstopf gibt und dass die Menge der Jobs außer von der Konjunktur auch von den Löhnen abhängt Es stimmt ja, dass die Löhne im letzten Aufschwung kaum gestiegen sind, aber genau deshalb hatten wir das Jobwunder: einen Rückgang der Arbeitslosigkeit, der allein in Westdeutschland um eine Million über das hinausging, was durch den Konjunkturboom selbst erklärt wird.
Plötzlich reden alle über eine „Bildungsrepublik Deutschland". Aber die Bemühungen heute zeigen erst nach längeren Zeiträumen ihre volle Wirkung. Liegen wir im Vergleich zu anderen Ländern nicht schon hoffnungslos zurück?
Sinn: Nein. Nehmen wir z.B. den Freistaat Bayern, in dem die Zentrale der Bundesagentur für Arbeit ihren Sitz hat. Wenn man die Bundesländer wie Staaten im Pisa-Test zählt, liegt Bayern auf Platz 5 unter 44 Ländern, und Bremen liegt auf Platz 39. Das zeigt, dass man es sowohl besser als auch schlechter machen kann. Aber auch Bayern ist noch steigerungsfähig. Ich denke, dass wir die Kinder nicht schon im Alter von zehn Jahren auf die verschiedenen Schultypen aufteilen sollten. Außerdem brauchen wir die Ganztagsschule und den kostenfreien Kindergarten. Kinder mit Migrationshintergrund haben nur dann eine faire Chance, wenn sie bis zum Beginn der Grundschule die deutsche Sprache beherrschen und an das Zusammenleben mit deutschen Kindern gewöhnt sind.
Wie schätzen Sie die Leistung der reformierten BA in den letzten Jahren und was raten Sie uns für die nächste Zukunft?
Sinn: Ich bin beeindruckt von der sichtbaren Leistungsfähigkeit der Behörde und würde den Weg in die Richtung einer aktivierenden Sozialpolitik konsequent fortsetzen. Die reformierte BA hat sich als Erfolgsmodell erwiesen.
Text: Anton Schosch, Redaktion „Dialog“