Der Starökonom Hans-Werner Sinn über die Folgen eines Grexit, das Heilsame an der Griechenland-Krise, die Tücken des Mindestlohns - und warum deutsche Volkswirte so gern auf Regeln pochen.
@LR von Karl Gaulhofer und Gerhard Hofer
Wie wird es in den nächsten Tagen und Wochen in Griechenland weitergehen?
Hans-Werner Sinn: Das hängt davon ab, wie das Referendum ausgeht. Wenn das Volk die Vorschläge der Institutionen annimmt, wird es vielleicht neues Geld geben. Das alte Rettungsprogramm wird dann womöglich um ein paar Monate verlängert. Die griechische Notenbank würde wieder Notkredite vergeben. Wenn es freilich nach dem Recht geht, ist das alte Programm bereits zu Ende, und es muss erst einmal ein neues verhandelt werden. Das wird vor allem Frau Merkel in Deutschland in Schwierigkeiten bringen, weil ihre Partei ihr da nicht ganz folgt.
Und wenn die Griechen ablehnen?
Dann ist es unwahrscheinlich, dass es zu neuen Verhandlungen kommt. Man wird zunächst die Zahlungsverpflichtungen an Beamte und Rentner mit Schuldscheinen erfüllen. Aber der Weg zum Grexit ist vorgezeichnet. Um die Situation bei einem Konkurs ohne neues Geld von außen zu stabilisieren, muss Griechenland die Eurozone verlassen und abwerten. Das stellt die Wettbewerbsfähigkeit wieder her.
Daran gibt es starke Zweifel. Vor allem, weil es um eine geschlossene Volkswirtschaft geht, deren Exportsektor sehr klein ist.
Der Effekt läuft auch nicht über die Exporte, sondern über die Importe. Heute führt Griechenland um ein Viertel mehr Agrarprodukte ein, als es ausführt. Es kauft Tomaten in Holland und Olivenöl in Deutschland. Das ist doch absurd! Mit einer abgewerteten Drachme kaufen die Griechen dann nicht mehr die teuer gewordenen Importprodukte, sondern wenden sich heimischen Waren zu. Die Bauern hätten wieder zu tun. Die alte Baumwoll- und Textilindustrie könnte wieder hochkommen. Das Fluchtkapital würde zurückkehren, um Immobilien zu kaufen und zu renovieren, sodass auch ein Bauboom einsetzt. Im Tourismus ist Griechenland heute viel teurer als die Türkei. Wenn es billiger wird, kommen die Touristen zurück.
Gut ausgebildete Menschen sollen dann Bauern, Bauarbeiter oder Kellner werden, um wieder einen Job zu bekommen?
Sie könnten sich auch neuen Industrien zuwenden, in denen sie ihre Intelligenz einsetzen. Warum sollten die Griechen nicht dem israelischen Beispiel folgen und eine Softwareindustrie entwickeln?
So etwas dauert doch viele Jahre. Bis dahin gibt es schwere soziale Spannungen.
Die Gefahr wird durch den Grexit nicht größer, sondern kleiner. Sie ist schon da, durch die fehlende Wettbewerbsfähigkeit und die Verweigerung weiterer Hilfskredite. Das ist ja die Variante, die wir im Moment diskutieren.
Andere Krisenstaaten haben den Euro behalten und sind trotzdem aus schweren Krisen gekommen. Zum Beispiel Irland.
In einem gewissen Umfang geht auch eine interne Abwertung im Euro. Griechenland hat, gemessen am Preisniveau, um acht Prozent abgewertet. Das ist nur ein Drittel des nötigen Weges. Irland hat schon um 13 Prozent abgewertet. Das hat gereicht, weil es nicht so weit aus dem Ruder gelaufen ist.
Und Spanien?
Spanien ist auch hart getroffen. Aber der spanische Staat ist, ganz anders als in Griechenland, funktionsfähig und setzt mit recht eiserner Konsequenz Reformen durch. Und das Land hat eine ganz andere Wettbewerbsfähigkeit. Im Norden Spaniens stehen Europas produktivste Autofabriken.
Manche Ökonomen haben vor einer Ansteckungsgefahr für Finanzmärkte gewarnt . . .
Seit Montag sagen sie das nicht mehr!
In anderer Form schon: Das Eurosystem sei auf Dauer geschwächt. Wenn irgendwann ein anderer Eurostaat in eine Krise kommt, bricht die Jagd der Spekulanten aus.
Sie sollten einen zweiten Ansteckungseffekt bedenken, den ich für viel gefährlicher halte: Wenn ein Land mit öffentlichen Krediten von außen finanziert wird, verlässt sich das nächste darauf, dass mit ihm das Gleiche passiert. Die privaten Gläubiger vergeben leichtfertig Kredite, weil sie an eine gesamtschuldnerische Haftung glauben. Dann kommt es in Europa zu einer Verschuldungslawine, die alles herunterreißen kann. Deshalb ist die Griechenland-Krise heilsam. Sie wird zur Umbesinnung führen, und manche Regierung zu sparsamerer Haushaltsführung veranlassen. Die Möglichkeit von Krisen, die Finanzmärkte destabilisieren, stabilisiert Staatssysteme, und das ist wesentlich wichtiger. Eine Finanzkrise kann Europa überleben, einen Massenkonkurs von Staaten nicht.
Wir glauben genau zu wissen, was für Griechenland richtig ist. Sitzen wir da nicht auf einem zu hohen Ross? In Österreich und Deutschland hat es auch schon lang keine Reformen mehr gegeben . . .
Genau. Wir Deutschen verfrühstücken gerade unsere Reform der Schröder-Zeit. Wenn es einem Land gut geht, verliert es seine Disziplin, dann kommt wieder die Krise und man ergreift wieder Maßnahmen. Das ist ein ewiger Zyklus, überall.
Sie sind ein Euroskeptiker. Politisch geht das meist Hand in Hand mit Kritik an der EU. Sie aber wollen Brüssel stärken. Wie passt das zusammen?
Das passt sehr gut zusammen! Meine Kritik am Euro ist, dass er das Einigungswerk unterminiert, weil er die Völker Europas gegeneinander aufhetzt. Seine Einführung war ein Fehler. Der zweite Fehler waren die Rettungsschirme, die private Gläubiger durch öffentliche ersetzen. Damit richtet sich der Zorn der Griechen nicht mehr auf Banken, sondern auf Frau Merkel. Der Euro hat sich zur Gefahr für das Friedensprojekt entwickelt. Daraus folgere ich nicht, dass er abzuschaffen ist. Aber er ist dringend zu reformieren: Wir müssen die Regeln wieder ernst nehmen.
Ihr Argument ist typisch für einen deutschen Volkswirt. Anderswo spielen Regeln keine Rolle. Es regiert der Pragmatismus. Ist da ein Konsens überhaupt möglich?
Die ordnungspolitische Tradition hat in Deutschland eine große Rolle gespielt, in der Auseinandersetzung mit dem alternativen Regime in der DDR. Andere Länder haben das so nie gehabt. Was man dort Pragmatismus nennt, ist oft nur eine Lösung durch das Geld der Steuerzahler anderer Länder. In den USA gibt es aber unter den Ökonomen, wenn man von den Linken Krugman und Stieglitz absieht, sehr viel Sympathie für unser ordnungspolitisches Denken. Das ist dort Mainstream. Ähnlich denkt man auch in Nordeuropa. Nur in Südeuropa und Frankreich denkt man anders.
Wünschen Sie sich mehr Unterstützung aus dem Osten und Norden der EU?
Ich möchte das nicht durch die nationale Brille sehen. Es geht um die Funktionsweise einer Föderation. Das geht weit über die momentanen Interessen einzelner Länder hinaus. Ich verweise auf die Erfahrung der Amerikaner: Die USA realisierten 1791 und 1813 eine Schuldensozialisierung. Die Folge war eine Verschuldungsblase, deren Platzen viele Bundesstaaten in den Konkurs trieb. Streit und Hass entstanden. Das trug neben der Sklavenfrage zu den Spannungen bei, die sich dann 1861 im Bürgerkrieg entluden. Seither ist die No-Bail-out-Regel selbstverständlich. Wenn Kalifornien pleitegeht, hilft weder der Bund noch die amerikanische Zentralbank. Was die EZB macht, wäre in Amerika undenkbar!
Ihr Institut hat den deutschen Mindestlohn kritisiert. Jetzt gibt es ihn. Die Arbeitslosigkeit ist kaum gestiegen. Falscher Alarm?
Warten Sie mal ab! Nach einem halben Jahr kann man gar nichts beurteilen. Zumal alles von konjunkturellen Effekten überlagert wird. Wir haben immer gesagt: Die Auswirkungen kommen in fünf bis zehn Jahren, wie bei der Agenda 2010. Der Mindestlohn wird massive negative Effekte für die Beschäftigungslage haben.
Sie geben Ende März 2016 die Leitung des IFO-Instituts ab. Müssen wir dann ohne provokante Interviews und Schlagzeilen von Ihnen auskommen?
Ich strecke dann erst einmal alle viere von mir und lasse die Krisen ohne mich stattfinden. Es gibt noch ein anderes Leben.