Der ifo Präsident fordert radikalere Lösungswege in der Euro-Krise und kritisiert die Rolle der EZB (Interview von Dorit Heß)
Herr Professor Sinn, das Jahr 2012 geht in Europa nach turbulenten Monaten chaotisch zu Ende: Italiens Ministerpräsident Mario Monti hat seinen Rückzug angekündigt, ob Spanien unter den Rettungsschirm schlüpft, ist nach wie vor unklar, in Griechenland ging das Schuldenrückkaufprogramm in die Verlängerung. Welches europäische Land besorgt Sie so unmittelbar vor einem weiteren Krisengipfel am meisten?
Eindeutig Spanien. Denn die Außenschuld des Landes ist höher als die aller anderen europäischen Krisenländer zusammen. Hinzu kommt die katastrophale Lage auf dem Arbeitsmarkt, die beinahe so schlimm ist wie in Griechenland. Die Kombination ist beängstigend.
Was in Italien passiert, schreckt Sie nicht?
Warten wir erst mal ab, ob sich Monti 2013 nicht doch zur Wahl stellt. Es wäre ein Segen. Er ist Professor der Volkswirtschaftslehre und war EU-Kommissar - eine bessere Mischung aus Fachkompetenz und politischer Kompetenz findet man nicht. Seine Reformen kamen erst zum Stocken, als der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, mit seiner „dicken Bertha" finanzielle Lockerung angekündigt und damit einen anderen Ausweg suggeriert hat. Dann haben die Gewerkschaften blockiert. Reformen werden eben nur aus der Not heraus gemacht.
Sind Sie auch so voll des Lobes über das Krisenmanagement hiesiger Politiker?
Ich nehme mit Interesse zur Kenntnis, dass der Bundesfinanzminister eine entschiedenere Gangart hinsichtlich der geplanten europäischen Bankenunion wählt und dass die Bedenken, die von den Fachökonomen und dem Sparkassenverband vorgebracht wurden, in seine Entscheidungen einfließen. Er will eine Repräsentanz der Länder nach ihrer Größe im Entscheidungsgremium der Bankenaufsicht und die Bankenaufsicht von der EZB trennen. Beides beruhigt mich etwas.
Wird sich Wolfgang Schäuble (CDU) damit durchsetzen können?
Deutschland kann sich mit allem durchsetzen, wenn es nur will. Da die Entscheidungen einstimmig sein müssen und es um das deutsche Geld geht, muss Deutschland nur Nein sagen, wenn ihm das Ergebnis nicht passt.
Das ist aber eine Frage des politischen Drucks ...
Das stimmt. Aber Frankreichs Staatspräsident François Hollande braucht unser Geld. Er muss sich fügen.
Wenn Sie auf 2012 zurückblicken, hat sich die Krise zugespitzt im Jahresverlauf - oder eher beruhigt?
Die Finanzkrise hat sich erst einmal etwas gelegt. Die Krise hat aber eine zweite, ungelöste Dimension: die fehlende Wettbewerbsfähigkeit einzelner Länder.
In der Hinsicht kommt noch einiges auf uns zu.
Und die Finanzkrise, hat sie sich dank der EZB beruhigt?
Die EZB hat den Anlegern erklärt, dass die Steuerzahler Deutschlands und anderer gesunder Länder für die Rückzahlung der Krisenländer einstehen, denn sie stehen ja hinter ihr. Diese Beruhigung beunruhigt mich. Das Wettbewerbsproblem der Krisenländer wird durch Draghis Schutzversprechen nicht gelöst. Der einzige Weg, die Leistungsbilanzdefizite zu senken, ohne dass die Länder in die Rezession oder gar Depression getrieben werden, besteht darin, die Nachfrage von fremden auf eigene Produkte umzulenken, indem die Preise relativ zu den anderen Ländern im Euro-Raum sinken. Mit Ausnahme von Irland ist das bislang nicht passiert.
Was sollte stattdessen geschehen?
Im Euro kann man das nur über eine lange Phase der Stagnation hinkriegen, durch die die Inflationsraten unter das deutsche Niveau gedrückt werden. Wir dürfen diese Phase nicht durch immer mehr Transfers in die Zukunft verschieben. Solange das staatliche Geld fließt, werden die betroffenen Länder nicht zu dem schmerzlichen Prozess der realen Abwertung durch Preiszurückhaltung bereit sein. Im Endeffekt müssen die Länder, die nicht billiger werden wollen, aus dem Euro austreten. Austretenden Ländern sollte man mit einem Schuldenschnitt und weiteren Krediten für die Banken helfen. Je länger man mit radikaleren Maßnahmen wartet, desto mehr privaten Anlegern gelingt es, ihre toxischen Papiere noch vor dem Schnitt an die staatlichen Rettungseinrichtungen zu verkaufen und sich aus dem Staub zu machen, desto teurer wird also die Sache für die Steuerzahler und Rentner der Bundesrepublik Deutschland.
Es sieht derzeit allerdings nicht nach raschen Aktionen aus ...
Stimmt. Die Anleger gewinnen Zeit, die Steuerzahler und Rentner verlieren sie. Dass die deutsche Regierung davon spricht, dass man Zeit gewinnen könne, lässt nur den Schluss zu, dass sie die Position der Anleger übernimmt. Die Feuerkraft der Finanzindustrie beeinflusst die öffentliche Meinung mit großem Erfolg. Deshalb hält die Politik es für eine Lösung, wenn sie die Gläubiger der Südländer mit dem Geld der Steuerzahler der Nordländer beruhigt.
Was kommt 2013 auf uns zu?
Es bleibt vermutlich bis zur Wahl ruhig, weil die EZB die Politik der niedrigen Zinsen fortsetzt und die Bundesregierung hofft, bei einer allgemeinen Ruhe wiedergewählt zu werden. Danach wird neu entschieden. Langfristig kann sich die EZB-Politik in einer europäischen Inflation entladen. Man wird speziell in Deutschland mit Inflation rechnen müssen, weil das Kapital im sicheren Heimathafen bleibt und die Zeichen mittel und langfristig auf Wachstum stehen. Das Niedrigzinsumfeld hat für einen Boom auf dem deutschen Immobilienmarkt gesorgt.
Droht gar eine Blase?
Nachdem die erste Welle der Finanzkrise überwunden war, hat Deutschland eine wundervolle Entwicklung erlebt. Der Bausektor hat den Binnenmarkt angeschoben und für Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze gesorgt. Die Baukonjunktur wird sich 2012 etwas abschwächen. Aber selbst wenn das nicht der Fall wäre, droht vorläufig keine Blase, denn die Immobilienpreise sind in Deutschland immer noch recht niedrig. Ein Immobilienboom dauert im Schnitt 17 Jahre. Am Ende des Jahrzehnts können wir uns einmal fragen, ob sich eine Blase bildet.
Die Schwächephase der deutschen Wirtschaft hält also nur kurz an?
Danach sieht es aus. Deutschland ist strukturell besser aufgestellt als der Rest Europas. Die weltweite Nachfrage nach unseren Produkten ist nach wie vor hoch.
Wird denn auch die Bundestagswahl die Konjunktur beeinflussen?
Die Prognose ist schon deswegen schwer, weil die Regierung meist das Gegenteil von dem macht, was sie ankündigt - um der Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Schröder hat die Steuern gesenkt und mit der Agenda 2010 Sozialabbau betrieben. Merkel hat Mindestlöhne eingeführt und den Atomausstieg beschlossen. Welcher Kanzlerkandidat hat die größere Wirtschaftskompetenz: Sozialdemokrat Peer Steinbrück oder CDU-Chefin Angela Merkel?
Peer Steinbrück ist ein ausgebildeter Volkswirt und hat als Finanzminister die Schuldenbremse im Grundgesetz durchgeboxt, das war eine große Leistung. Aber ob er aus der Sicht der Wirtschaft der bessere Kanzler wäre, ist offen, weil unklar ist, ob er sich von den Wünschen seiner Partei befreien kann - da gibt es manchmal Wünsche, die man als Ökonom nicht gutheißen kann.
Herr Professor Sinn, vielen Dank für das Interview.