Die Krise ist noch lange nicht vorüber, sagt der deutsche Wirtschaftsprofessor Hans-Werner Sinn. Ohne drastische Reformen sieche die EU schleichend dahin.
Hans-Werner Sinn, 66, ist Leiter des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung der Universität München und einer der renommiertesten Ökonomen Deutschlands. Der Nationalökonom und Finanzwissenschaftler arbeitete als Gastprofessor in Princeton, Stanford und an der London School of Economics. Er war Gutachter für das Bundesverfassungsgericht beim Prozess um den Aufkauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank.
Beobachter: Die Krise des Euro ist nicht mehr in den Schlagzeilen. Ist sie tatsächlich vorbei?
Hans-Werner Sinn: Nein, sie schwelt bloss unter dem Teppich.
Beobachter: Das heisst, sie wird erneut ausbrechen?
Sinn: Es gibt mehrere Möglichkeiten. Etwa dass die Finanzmärkte aus irgendeinem Grund wieder nervös werden. Aber wir haben so viele Rettungsschirme aufgespannt, dass das nicht wahrscheinlich ist. Oder dass sich die Arbeitslosen in Spanien oder Griechenland Parteien zuwenden, die radikalere Lösungen vorziehen.
Beobachter: Rechnen Sie damit?
Sinn: Ich gehe eher davon aus, dass es zu einem schleichenden Siechtum kommt. Die Lösung der realwirtschaftlichen Probleme der südlichen Länder wird sich noch über lange Zeiträume hinziehen.
Beobachter: Wo liegt das Problem der Länder im Süden?
Sinn: Sie sind zu teuer. Sie gerieten durch den Euro in eine Kreditblase, als Folge wuchs die Wirtschaft von 1995 bis etwa 2007 ein wenig. Da sah alles prächtig aus. Dann traten die osteuropäischen Länder der EU bei, was eine völlig neue Wettbewerbslage ergab. Selbst mit den alten Löhnen hätten die Länder Südeuropas Schwierigkeiten gehabt. Mit den neuen, kreditfinanzierten Löhnen wurde es für sie aber schier unmöglich. Wir haben heute in Spanien dreimal so hohe Löhne wie in Polen. Selbst in Griechenland sind sie noch doppelt so hoch. Das ist das fundamentale Problem.
Beobachter: Werden sich die Länder angleichen, werden also die reichen ärmer und die armen reicher?
Sinn: Die Annäherung hat bereits stattgefunden. Seit der Ankündigung des Euros auf dem Gipfel in Madrid 1995 stieg der Lebensstandard in den südlichen Ländern dramatisch an. Nur war dieser Anstieg auf Kredit finanziert. Nun ist der Lebensstandard so hoch, dass sie dadurch ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren.
Beobachter: Was ist denn der grundsätzliche Fehler?
Sinn: Die Nichtbeistandsklausel des Maastrichter Vertrages besagt: Hat sich ein Land Geld geliehen und kann dieses nicht zurückzahlen, dann geht es in Konkurs, und der Gläubiger muss verzichten. Diese Regel wurde nie ernst genommen. Hätte man das getan, wären von vornherein nicht so viele Kredite geflossen, und die inflationären Blasen wären gar nicht entstanden. Einer der Hauptgründe war die Erwartung der Anleger, dass die Länder ihre Schulden im Notfall mit der Druckerpresse würden zurückzahlen können. Diese Erwartungshaltung muss man ändern - mit einem Tilgungssystem. Müsste man in der Eurozone die Schulden mit Gold tilgen, wie das in Amerika üblich war, dann hätte es den Ausweg via Druckerpresse nicht gegeben, und Gläubiger wären vorsichtiger gewesen.
Beobachter: Sie wehrten sich dagegen, dass die Europäische Zentralbank Staatsanleihen kaufen darf. Wieso?
Sinn: Es ist schlicht eine Verlagerung des Risikos vom Anleger auf den Steuerzahler. Wenn die Zentralbank die Papiere hat und sie abschreiben muss, weil ein Staat in Konkurs geht, dann gibt es Zinsverluste in alle Ewigkeit aus der Geldschöpfung. Das heisst, die Steuerzahler tragen den Verlust.
Beobachter: Man erhält den Eindruck, die Verantwortlichen löschen den Brand nur da, wo er entsteht.
Sinn: Ja, natürlich. Aber es steht eben möglicherweise ein Ziel dahinter: die Länder des Südens mit billigeren Krediten zu versorgen als am Markt möglich. In diesem Fall, indem man kostenlose Versicherungsleistungen anbietet. Die Zentralbank sagt den Anlegern: «Ihr könnt ruhig die Staatspapiere kaufen, habt keine Angst vor dem Konkurs, wenn was schiefgeht, kommt ihr zu mir, ich kauf sie euch ab.» Der Wert dieser Versicherung, den die Zentralbank hier erbringt, liegt in einer Grössenordnung von 75 Milliarden Euro im Jahr.
Beobachter: Man wiederholt den immer gleichen Fehler. Warum werden die Politiker nicht schlauer?
Sinn: Weil es eine Lebensform ist, mit der man unter Umständen auch zurechtkommt. Jedenfalls als Empfänger. Wenn man die politischen Mehrheiten hat, kann man diese Politik fortsetzen.
Beobachter: Welchen Vorteil haben denn die Politiker der Geberländer?
Sinn: Sie vermeiden, dass der Crash in ihrer Legislaturperiode stattfindet.
Beobachter: Ein Denken in kurzen Wahlperioden also.
Sinn: Ja, und natürlich geben sie sich auch der - unterstellen wir mal: ehrlichen - Hoffnung hin, dass sich das Problem von alleine löse.
Beobachter: Wie sieht denn Ihre Lösung aus?
Sinn: Wir sollten das Spiel beenden, einen grossen Schuldenschnitt machen und die Steuerzahler und Vermögensbesitzer des Nordens zwingen, die Wahrheit zu erkennen.
Beobachter: Wer wäre davon betroffen?
Sinn: Anleger aus aller Welt. Amerikanische Pensionskassen genauso wie deutsche Banken. Aber vor allem französische Banken. Die haben im Wesentlichen das Geld auf der Welt aufgesaugt und es nach Südeuropa weitergeliehen. Die Krise des Euroraums ist eine Krise Frankreichs, der französischen Banken und der französischen Industrie, die ihre Produkte weitgehend in diese Länder verkaufte. Wir müssen anerkennen, dass bestimmte Kreditforderungen nicht bedient werden - wir als private Gläubiger und wir als Staatsbürger, die hinter den Staaten stehen. Sodann sollten wir ein Regime ansteuern, unter dem jene Länder aus der Eurozone austreten, die nicht mehr wettbewerbsfähig sind.
Beobachter: An welche Länder denken Sie?
Sinn: Das müssen die betroffenen Länder selber entscheiden. Fest steht, dass die Abwertungssätze, die nötig sind, um Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen, in Griechenland, Portugal und Spanien besonders hoch sind.
Beobachter: Was wären die Konsequenzen?
Sinn: Die erste Konsequenz wäre, dass diese Länder alle möglichen Träume aufgeben müssten, genauso, wie die Gläubigerländer ihre Träume aufgeben müssten. Alle müssten sich der Realität zuwenden. Aber der Neustart der Eurozone, der darauf folgt, lässt den Computer wieder laufen. Unsere Untersuchungen zeigten, dass die Wirtschaft in Ländern, die abwerteten, schon nach ein oder zwei Jahren wieder wuchs.
Beobachter: Wie soll denn Griechenland wachsen? Das Land produziert ja kaum eigene Güter.
Sinn: Für Wachstum braucht es nicht unbedingt produzierende Industrie. Es wäre ein grosser Fehler, wenn Griechenland versuchen würde, Deutschland zu imitieren. Der Handel lebt von der Unterschiedlichkeit der Länder, von ihrer Spezialisierung. Der Unterschied macht den Wohlstand, nicht die Imitation.
Beobachter: Wo sehen Sie konkret Wachstumspotential?
Sinn: In Griechenland können Tourismus und Landwirtschaft durchaus florieren. Wertet Griechenland ab, kaufen die Griechen keine Agrarprodukte in Frankreich, sondern gehen zu ihren eigenen Bauern. Die haben dann zu tun und stellen Leute ein. Die Touristen werden zurückkehren. Ebenso die reichen Griechen, die ihr Geld in der Schweiz oder sonstwo geparkt hatten - sie werden nämlich auf Schnäppchenjagd gehen. Das Kapital kehrt heim, wird investiert, und die Nachfrage der heimischen Bevölkerung richtet sich wieder auf heimische Produkte.
Beobachter: Was braucht es neben dem Schuldenschnitt und dem Austritt schwacher Länder?
Sinn: Ein neues, funktionsfähiges System. Die Regeln müssen geändert werden, und die wichtigste Regel ist der Goldstandard im Innern. Man muss die Löcher in der Zahlungsbilanz, die durch übermässige Benutzung der Druckerpresse in Südeuropa entstanden, mit Gold tilgen. Gold ist ein internationales Zahlungsmittel. Wenn man nicht genug Gold hat, kann man Vermögensobjekte verkaufen, um welches zu bekommen.
Beobachter: Braucht Europa auch mehr Integration?
Sinn: Das ist die einzige Möglichkeit, um eine Währungsunion zu fahren. Wir brauchen eine politische Union, die die Zentrifugalkräfte der Währungsunion einfängt, ähnlich wie die Schweizer Konföderation. Das wäre eine denkbare Möglichkeit. Was es gerade nicht braucht, ist eine Fiskalunion. Die Schweiz hat 350 Jahre gebraucht, bis sie halbwegs etwas Fiskalisches entwickelt hat, vorher war sie eine reine Verteidigungsunion. Wir hingegen fangen mit dem Geld an, wollen dann zum Fiskalischen und dann zur politischen Union.
Beobachter: Aber die meisten Europäer wollen doch gar keine weitergehende Integration.
Sinn: Das ist richtig, aber nur so geht es. Weil sie es nicht wollen, geht der Euro so nicht. Und die Fiskalunion schon gar nicht. Das verschlimmert die Sache ja. Das wäre der zweite grosse Fehler nach dem Euro.
Beobachter: Auch die Schweiz will nicht in die EU. Kann sie trotzdem prosperieren?
Sinn: Kommt darauf an, was die anderen zulassen. Eine Freihandelssituation wäre für die Schweiz natürlich eine attraktive Möglichkeit. Wenn aber der Rest sagt, wir wollen keinen Freihandel, sondern machen die Grenzen zu, es sei denn, ihr macht eure auch politisch auf, dann hat die Schweiz ein Problem.
Beobachter: Was sagen Sie zum Schweizer Ja zur Zuwanderungsinitiative?
Sinn: Die Migration ist eine Grundvoraussetzung für Freizügigkeit in Europa, und es ist schade, wenn ein Land seine Grenzen zumacht. Andererseits ist Migration nur dann effizienzsteigernd, wenn sie aus echten ökonomischen Erwägungen betrieben wird, weil man anderswo einen besser bezahlten Arbeitsplatz findet. Eine Migration in den Sozialstaat, die nur dazu dient, anderswo hinzugehen, weil da die Geschenke des Staates grösser sind als zu Hause, ist ineffizient.
Beobachter: Den Kampf um die besten Köpfe gewinnen stets wohlhabende Länder. Aus ärmeren saugt man jene ab, die dort für Wachstum sorgen könnten.
Sinn: Das sehe ich nicht so, denn wir haben ja auch Kapitalwanderung. Kapital wandert gleichzeitig in diese Länder, weil die Löhne entsprechend niedrig sind. Arbeitskräfte und Kapital wandern in die entgegengesetzte Richtung. Die Arbeitskräfte gehen in das Hochlohnland, das Kapital geht ins Niedriglohnland. Das ist sinnvoll, weil durch beide Massnahmen das europäische Sozialprodukt steigt. Beide, Kapital und Arbeit, gehen dorthin, wo sie einen grösseren Beitrag zum Sozialprodukt leisten können.
Beobachter: Würden Sie der Schweiz mehr oder weniger politische Integration in Europa empfehlen?
Sinn: Das kann man so allgemein nicht sagen. Die Schweizer Bevölkerung hat jetzt die Notbremse gezogen, was ich für verständlich halte. Und das ist vielleicht auch ein gewisser Anreiz für Europa, darüber nachzudenken, ob alles, was hier so läuft, richtig ist. Ich glaube, dass die Freizügigkeit für Sozialwanderungen falsch ist. Das ist einer der grundsätzlichen Konstruktionsfehler des europäischen Systems. Wir haben das Inklusionsprinzip, das ist die heilige Kuh in den EUVerträgen. Es bedeutet, dass jemand, der von einem EU-Land in ein anderes geht, dort Anspruch auf die sozialen Leistungen hat, auch wenn sie steuerfinanziert sind. Die Alternative zum Inklusionsprinzip wäre das Heimatlandprinzip, das es in der Schweiz gab. Die Heimatgemeinde blieb zuständig für einen Sozialhilfeempfänger. Das haben wir in der EU ja gerade nicht. Das ist der Grundfehler.
Beobachter: Was können die EU und die Schweiz voneinander lernen?
Sinn: Ich glaube, die Schweizer Konföderation ist ein gutes Modell für die Art, wie die EU sich weiterentwickeln kann. Das heisst, die Schweiz hat eine starke politische Union, mit einer gemeinsamen Armee. Davon sind wir ja weit entfernt. Die Länder haben ihre eigenen Armeen, die sind vielleicht locker verbunden über die Nato, aber jeder behält den Schlüssel zum eigenen Waffenschrank. Das ist für meine Begriffe innerhalb der EU vollkommen unerträglich. Das muss als Erstes geändert werden, wenn man den Integrationsweg geht, so wie das in der Schweiz ist. Wir müssen eine relativ dezentral organisierte Union schaffen, mit vielen Rechten noch auf der nationalstaatlichen Ebene…
Beobachter: …das Subsidiaritätsprinzip…
Sinn: …ja, genau. Und man braucht die Nichtbeistandsklausel. Wenn ein Einzelstaat pleitegeht, geht er pleite. Und nichts in der Welt hilft. Das ist ja in der Schweiz seit dem Konkurs der Walliser Gemeinde Leukerbad mindestens auf der Ebene der Gemeinden etabliert. In den USA ist es genau das Gleiche: Geht ein Staat pleite, kommt kein Bund zu Hilfe - und schon gar nicht die US-Notenbank - und kauft Staatspapiere. Das sind die Dinge, die man lernen kann aus funktionierenden Föderationen.
Beobachter: Weniger Europa wäre doch auch eine Lösung?
Sinn: Ja, gut. Das ist die andere Möglichkeit. Was wir jetzt haben, das ist so zwischendrin. Das funktioniert halt gar nicht. Ich würde den ersten Weg vorziehen, weil der andere uns zurückführt in kriegerische Zeiten.
Beobachter: Es ist doch der Handel, der für Frieden sorgt?
Sinn: Nein. Handel hatten wir immer, und Europa ist eine Geschichte der Kriege. Dass Kriege plötzlich nicht mehr möglich sein sollten, wo wir doch immer welche hatten, halte ich für für eine gefährliche Illusion.