EurActiv: Beunruhigt Sie die wirtschaftliche Situation Spaniens?
SINN: Ja, natürlich. Spanien hat eine hohe Arbeitslosigkeit von mehr als 23 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit geht auf die 50 Prozent zu. Die privaten und staatlichen Außenschulden im Bezug zum Bruttoinlandsprodukt liegen bei 93 Prozent des BIP und sind damit so hoch wie die griechischen.
EurActiv: Was passiert, wenn die Regierung Rajoy sich nicht an die vereinbarten Defizitziele hält?
SINN: Dass die nachverhandelten Schuldengrenzen nicht respektiert werden, ist ein schlechtes Signal. Wenn Spanien dieses Sparprogramm nicht umsetzt, wird die nötige Deflation nicht erreicht. Es führt aber einfach kein Weg daran vorbei, dass Länder, die durch den billigen Kreditstrom in den Zeiten vor der Krise zu teuer geworden sind, jetzt die Uhr wieder zurückdrehen. Die gemeinsame Währung kann nur überleben, wenn es zu einer Änderung der relativen Preise innerhalb des Euroraumes kommt.
Goldman Sachs hat berechnet, dass Spanien um zwanzig Prozent abwerten muss, um wettbewerbsfähig zu werden. Doch die Anpassung wird nicht von heute auf morgen geschehen. Deutschland hat letztlich 13 Jahre gebraucht, um seine Wettbewerbsfähigkeit durch eine reale Abwertung wiederherzustellen. Bislang hat Spanien in der Krise gerade mal um einen einzigen Prozentpunkt abgewertet. Das ist so gut wie nichts. Irland hat um 15 Prozent abgewertet. Das ist der Maßstab.
Die EZB überschreitet ihr Mandat
EurActiv: Benoit Coeure, Mitglied des Direktoriums der EZB, schließt nicht aus, dass die Bank über das "Securitis Market Programme" spanische Staatsanleihen kauft. Was halten Sie davon?
SINN: Gar nichts. Die EZB überschreitet ihr Mandat. Es ist nicht ihre Aufgabe, Staaten zu finanzieren. Das ist ihr explizit im EU-Vertrag verboten. Die EZB darf nicht den Kapitalmarkt ersetzten. Wenn sie das außer in akuten Notlagen tut, verhindert sie die notwendige reale Abwertung und damit die Rückkehr der Eurozone zum Gleichgewicht.
EurActiv: Muss die EU Spanien mit einer Finanzspritze unter die Arme greifen?
SINN: Zeitlich begrenzte Liquiditätshilfen für ein, zwei Jahre maximal würde ich nicht ausschließen. Mehr geht nicht. Jedes Land muss sich letztlich selber finanzieren. Und ein Land wie Spanien ist so groß, dass eine Lösung wie bei Griechenland gar nicht in Frage kommt. Griechenland hat das Zweidreiviertelfache des Volkseinkommens an Hilfen bekommen, inklusive des "haircuts", etwa 500 Milliarden Euro, bei einem Nettonationaleinkommen von 180 Milliarden. Das ist eine astronomische Summe relativ zur Größe des Landes. Wenn man das auf Spanien oder Italien ausdehnen würde, dann wären wir alle pleite. Und deswegen bleibt diesen Ländern nichts anderes übrig, als ihre Hausaufgaben zu machen.
EurActiv: Die EU sollte also keine Rolle spielen?
SINN: Die EU hat schon eine viel zu große Rolle gespielt, indem sie über das EZB-System auch Spanien in erheblichem Umfange mitfinanziert hat. Ich glaube nicht, dass sie darüber hinaus noch Kredite geben sollte. Spanien muss sich unabhängig machen vom Kreditfluss aus dem Ausland.
EurActiv: In Frankreich wirft man den Deutschen oft vor, nicht solidarisch zu sein mit den Krisenländern.
SINN: Die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes lässt sich durch Geldgeschenke nicht verbessern, sondern nur zerstören. Jedes Land möchte importieren. Das Geld dazu kann es sich durch Exporte verdienen. Oder es kann sich das Geld leihen oder schenken lassen. Die Geldflüsse verteuern das Land aber, vergrößern die Importe und unterminieren die Wettbewerbsfähigkeit der Exporte. Das hat der griechische Minister Michalis Chrysochoidis am 9. Februar in einem Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sehr richtig und treffend zum Ausdruck gebracht. Die griechische Exportindustrie wurde nach seiner Meinung durch die EU-Hilfen zerstört.
Transferunion - der Keim der Zerstörung
EurActiv: Der französische Diplomat Francois Heisbourg hat in einem Interview in der österreichischen Zeitung Der Standard gesagt, dass Deutschland die EU zerstört, wenn es keine Transferunion akzeptiert. Die EU werde zerfallen wie die Sowjetunion.
SINN: Der Vergleich mit der Sowjetunion ist beängstigend. Sind wir schon so weit, dass man nur mit Zwang und Drohungen beieinander bleibt? Das ist keine Basis für Europa. Bislang war die EU stabil, weil wir im Gegensatz zur Sowjetunion ein System hatten, an dem jeder freiwillig teilnahm und aus dem man jederzeit wieder aussteigen konnte, wenn man das wollte. Eine Transferunion lässt sich nur mit Zwang schaffen, aber im Zwang liegt der Keim der Zerstörung. Die EU wird nur Bestand haben, wenn sie darauf verzichtet, eine Transferunion zu werden.
Gefahr eines Kollapses der Eurozone
EurActiv: Muss man Transfers nicht akzeptieren, um die Märkte zu beruhigen, Zeit zu gewinnen und den Ländern zu ermöglichen, die notwendigen strukturellen Reformen umzusetzen?
SINN: Seit Beginn der Krise sind fünf Jahre vergangen, in denen die betroffenen Länder ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern hätten können. Dies hätte sich in einer Absenkung des Preisindexes des Bruttoinlandsproduktes relativ zu den Wettbewerbern widerspiegeln müssen. Dies ist bisher aber nicht der Fall. Das Argument, Zeit gewinnen zu wollen, wird genutzt, um die notwendigen, harten, realen Anpassungen hinauszuschieben.
Wenn man die Kredithilfen der EZB oder des EFSF bzw. ESM ausdehnt, gewinnt man keine Zeit, man verliert sie, denn jedes Jahr, um das man mit den schmerzlichen Lohn- und Preissenkungen wartet, lässt die Außenschuld weiter ansteigen. Das vergrößert die Gefahr eines Kollapses der Eurozone. Die Politik der Dauerfinanzierung der Leistungsbilanzdefizite mit der Notenpresse und öffentlichen Hilfskrediten ist unverantwortlich. Sie bereitet den Boden für eine letztendlich nicht mehr beherrschbare Krise. Die EZB finanziert einige der Krisenländer nun schon im fünften Jahr.
EurActiv: François Hollande möchte den Fiskalpakt neu verhandeln. Ist das realistisch?
SINN: Ich hätte nichts dagegen, wenn Frankreich sich selbst finanzieren würde. Dann kann es tun und lassen, was es will. Aber auch Frankreich lässt sich über das EZB-System in erheblichem Maße finanzieren. Die Banque de France schafft Geld und verleiht es an die französische Wirtschaft, um den wegbrechenden Fluss von Interbankenkrediten zu ersetzen. Frankreich tilgt also seine Auslandsschulden mit frisch gedrucktem Geld. Wer über das EZB-System Zugang zur Druckerpresse hat, der muss auch Schuldengrenzen akzeptieren.
EurActiv: Europa braucht wieder Wachstum. Wie kann das gelingen?
SINN: Europa braucht wieder einen funktionsfähigen Kapitalmarkt. Wenn man durch öffentliche Kreditkanäle, sei es durch die EZB oder Rettungsschirme, das Kapitel dahin lenkt, wo es gar nicht freiwillig hin will, kommt es zu Wachstumseinbußen. Die impliziten Schutzsysteme unter dem Euro haben zu einer Vernachlässigung der Risiken geführt und das Investitionskapital von Kerneuropa in die Peripherie gelenkt. Dort wurden viele unrentable Projekte finanziert. Das ist einer der Gründe, warum Europa im letzten Jahrzehnt beim Wachstum das Schlusslicht der ganzen Welt war, statt ihre dynamischste Region, wie es in der Lissabon-Agenda noch hieß. Wachsen kann Europa nur, wenn wir dem Kapitalmarkt die Allokation des Kapitals überlassen und den staatlichen Einfluss zurücknehmen.
Jeder Staat muss sich um seine eigenen Banken kümmern
EurActiv: In Frankreich ist man sich einig. Die Europäische Zentralbank muss sich zu einem "lender of last resort" entwickeln. Die Deutschen lehnen dies ab. Sind sie in diesem Punkt zu dogmatisch?
SINN: Das "lender of last ressort"-Argument heißt, dass die Banken eines Landes von den Steuerzahlern eines anderen bezahlt werden. Dass kann doch wohl nicht ernst gemeint sein. Erst einmal müssen die Aktionäre der Bank selber bluten. Und wenn man Hilfen gibt, dann müssten es Eigenkapitalhilfen im Austausch gegen Aktien sein, so dass die Banken gerettet werden und nicht die Aktionäre. Das kann nur über fiskalische Einrichtungen gemacht werden, die dann eine Miteigentümerschaft an den Banken begründen.
Solange wir keinen europäischen Nationalstaat mit einem gemeinsamen Rechtssystem und einer gemeinsamen Streitmacht haben, kommt nur der Nationalstaat als Miteigentümer der Banken in Frage. Jeder Staat muss sich um seine eigenen Banken kümmern. Wer das im Euro nicht schafft, sollte dieses Währungssystem verlassen.
Frankreich will die Lasten der Rettung vergemeinschaften
EurActiv: Wie erklären Sie sich die unterschiedlichen Auffassungen von Franzosen und Deutschen?
SINN: Die französischen Banken sind stärker betroffen von der Krise, weil sie sich wesentlich stärker in Südeuropa engagiert haben als die deutschen. Es ist verständlich, dass sie die Lasten der Rettung vergemeinschaften wollen. Im Endeffekt wird aber auch Frankreich nicht von einer Vergemeinschaftung der Schulden in Europa profitieren, denn die führt zu noch mehr Schulden, bis wir alle im Schuldensumpf ertrinken. Es ist unverantwortlich, in welchem Maße die Regierungen Europas zukünftige Generationen, die noch nicht wählen können, mit Steuern belasten.
Eurobonds: Anreiz, sich übermäßig zu verschulden
EurActiv: Was halten Sie von der Schaffung von Eurobonds?
SINN: Die Eurobonds führen zu einer Sozialisierung der Haftung und bedeuten, dass der Anreiz sich übermäßig zu verschulden noch größer wird. Selbst die Amerikaner haben keine ähnlichen Konstruktionen. Jeder Staat muss dort seine eigenen Staatspapiere ausgeben. Und wenn er die nicht bedienen kann, dann geht er pleite. Die Angst davor führt zu Zinsspreizungen, und diese wiederum veranlassen die Staaten, vorsichtig zu sein bei der Kreditaufnahme.
EurActiv: Die Europäische Zentralbank hat im Dezember 2011 und im Februar 2012 den Banken 1000 Milliarden Euro zu einem sehr niedrigen Zinssatz geliehen. Hat es etwas gebracht?
SINN: Ja, natürlich haben sie etwas gebracht. Sie haben die Märkte beruhigt. Die Frage ist nur, ob man die Märkte beruhigen sollte. Ich bezweifle das. Eine gewisse Unruhe der Märkte ist angebracht bei Ländern, die sich überschuldet haben. Diese Unruhe entsteht aus der rationalen Befürchtung, dass man sein Geld nicht zurück bekommt. Auch führt nur sie zu Zinsspreizungen, die dann wiederum Verhaltensänderungen bei den Regierungen auslösen. Denken Sie an Italien. Als die Zinsen sich spreizten, wählte man eine andere Regierung. Als die Zinsen wieder zurückgingen, torpedierten die Gewerkschaften Mario Montis Arbeitsmarktreformen.
Der Euro schadet den Griechen
EurActiv: Hat Griechenland eine Zukunft in der Eurozone?
SINN: Der Euro schadet den Griechen, weil sie keine Chance haben, im Euro wettbewerbsfähig zu werden. Dazu müssten sie um 30 Prozent billiger werden, wenn man den Berechnungen von Goldman Sachs und dem ifo-Institut glauben will, aber der Versuch, das durch eine Sparpolitik zu erzwingen, wird das Land überfordern. Finanzmärkte und Kapitalanleger halten die Griechen als Geiseln im Euro, damit die öffentliche Kreditflüsse weiter anhalten, mit denen die Griechen nun den Rest ihrer alten Schulden zurückzahlen sollen. Manche Griechen glauben auch, sie hätten etwas davon, wenn sie ein wenig Geld für sich abzweigen können.
In Wahrheit schadet das Ganze der Bevölkerung, weil es das Land in eine Massenarbeitslosigkeit treibt und die Gefahr politischer Unruhen heraufbeschwört. Zukunftsperspektiven für junge Griechen gibt es nur, wenn die griechische Wirtschaft wieder wettbewerbsfähig wird, aber das lässt sich nur durch einen Austritt mit Abwertung erreichen. Der Austritt muss ja nicht dauerhaft sein. Wenn die Preiskorrekturen stattgefunden haben, kann Griechenland dem Euro wieder beitreten.
EurActiv: Sind die Risiken eines Austritts nicht unkalkulierbar?
SINN: Risiken gibt es, sie werden aber von der Finanzindustrie übermäßig dramatisiert, um noch genügen Zeit zu haben, die Staatspapiere Griechenlands abzustoßen. Wenn Griechenland austritt, wird hier nichts zusammenbrechen außer ein paar Vermögensportfolios. Jeder hat sich auf diesen Fall schon lange vorbereitet. Die einzige Chance, dass die Griechen überhaupt was zurückzahlen können, besteht darin, dass sie wettbewerbsfähig werden. Und das werden sie nicht mit dem Euro.
EurActiv: Aber würden die Zinsen für Staatspapiere anderer Länder wie Spanien oder Italien nicht in astronomische Höhen schnellen?
SINN: Warum astronomisch? Die Zinsen, die im Herbst in Italien gezahlt werden mussten, wurden für hoch empfunden, obwohl sie viel niedriger waren als die Zinsen vor der Schaffung des Euros. In den zehn Jahren vor der Ankündigung des Euro, also von Mitte der achtziger bis Mitte der neunziger Jahre, lagen die Zinssätze der meisten südeuropäischen Länder über 10 Prozent.
Selbst Deutschland musste über sechs Prozent zahlen. In den siebziger und achtziger Jahren waren die Zinsen teilweise noch höher. An den absehbaren Zinslasten zerbrechen diese Länder also nicht. Man hat sich einfach an die niedrigen Zinsen gewöhnt. Und selbst wenn die Refinanzierung teurer wird, was ich ja nicht leugne, so darf man das primäre Ziel nicht aus den Augen verlieren. Es geht nicht darum, kurzfristig durch Transfers die Zinsen zu senken, sondern es müssen die notwendigen strukturellen Anpassungen vorgenommen werden, die zu einer realen Abwertung über Preissenkungen oder eine Inflation im Kerngebiet führen. Wenn die die reale Abwertung der Südländer nicht erreicht wird, wird der Euro zerbrechen.
Das Interview führte Julian Schorpp für EurActiv Frankreich.
Eine gekürzte französische Version des Interviews erschien auf EurActiv.fr. Ebenfalls abgedruckt in Commentaire 2012/2 (Nr. 138), S. 569-571.