Die Weihnachtspredigt des ifo Chefs
Die Lage an den Finanzmärkten entspannt sich. Doch ifo Chef Hans-Werner Sinn hält die Schuldenkrise noch lange nicht für gelöst, wie er im FOCUS-Online-Interview erklärt. Besonders über die Lage in Frankreich macht er sich Sorgen.
FOCUS Online: Die Sparguthaben in Gefahr, gewaltige Risiken für den Steuerzahler – Sie werden nicht müde, vor den Gefahren der Euro-Rettung zu warnen. Haben Sie schon ans Auswandern gedacht?
Hans-Werner Sinn: Nein, es hilft Deutschland nicht, wenn ich auswandere.
Sollen denn die Bürger auswandern?
Wohin denn? In Deutschland ist man immer noch gut aufgehoben.
Führende europäische Politiker wie ESM-Chef Klaus Regling oder EU-Währungskommissar Olli Rehn sagen, dass in der Eurokrise jetzt das Schlimmste vorbei sei. Teilen Sie diese Meinung?
Man muss unterscheiden. Die Finanzkrise hat sich seit der Ankündigung von EZB-Präsident Draghi, dass seine Notenbank im Notfall Staatsanleihen im unbegrenzten Ausmaß kaufen werde, in der Tat entspannt. Die Kapitalanleger freuen sich, dass Draghi die Steuerzahler und Rentner der noch gesunden Länder Europas, die hinter der EZB stehen und für Verluste aufkommen müssen, notfalls in Anspruch nehmen wird. Aber der zweite Teil, die realwirtschaftliche Krise, ist noch längst nicht gelöst. Das Problem ist: Die Krisenländer müssen ihre Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen.
Der Euro hat ihnen einen Boom beschert und die Preise gewaltig ansteigen lassen. Nun müssen sie wieder billiger werden.
Wie lange wird das dauern?
Wahrscheinlich bis zum Ende des Jahrzehnts – wenn nicht noch länger. Die Preise müssen runter, weil die Länder ihre Währung, den Euro, nicht selbst abwerten können. Das geht aber nur über eine langanhaltende Wirtschaftsflaute. Doch halten die Länder das durch? Südeuropa steckt in der Falle des Euro. Wie die Länder da rauskommen, steht in den Sternen.
Nach langen Diskussionen sind die Euro-Finanzminister nun sicher, dass die Finanzierung Griechenlands bis 2014 in trockenen Tüchern ist. Sind Sie es auch?
Nein. Ich bin überzeugt, dass die Griechen die Hilfsmilliarden nicht zurückzahlen können. Insofern sind immer wieder neue Hilfen nötig, um die alten Kredite abzulösen, oder es gibt einen dritten großen Schuldenschnitt für das Land. Es stellt sich nur noch die Frage, wann man die Kredite zum Geschenk erklärt, nicht ob man das tun sollte.
Sie sagen immer wieder, dass es für die Griechen das Beste wäre, die Euro-Zone zu verlassen. Sie könnten dann ihre Währung abwerten und so ihre Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen. Warum machen sie es nicht?
Ein Austritt ist nicht für alle Griechen von Vorteil. Die Besitzer von Staatsanleihen, also vor allem die reichen Griechen und die Banken, möchten das Land im Euro halten, damit sie ihr Geld zurückbekommen. Für den Großteil der Bevölkerung wäre aber ein Austritt das Beste. Die Menschen leiden unter Arbeitslosigkeit und Rezession. Eine ganze Generation junger Leute wird ihrer Zukunft beraubt, weil sie kaum irgendwelche Arbeitslätze findet. Statt den Weltuntergang für den Fall eines Euro-Austritts zu beschwören, sollten die Politiker einen Plan für einen geordneten Austritt entwickeln.
„Die Entwicklung in Frankreich ist gefährlich“
Wie müsste so ein Plan aussehen?
Griechenland bräuchte Hilfe in der Übergangsphase. Wichtige Importe wie Medikamente und Energie müssten zum Beispiel nach einem Austritt aus dem Euro von den anderen Ländern subventioniert werden, und man müsste die Banken stützen. Vor allem müsste man dem Land zugleich eine Perspektive für den Wiedereintritt zu einem späteren Zeitpunkt geben – nämlich dann, wenn die Wirtschaft wieder wettbewerbsfähig ist, weil die Drachme hinreichend abgewertet, und die Regierung die für ein geordnetes Staatswesen nötigen Reformen umgesetzt hat.
Aber das Beispiel Irland zeigt doch, dass ein harter Sparkurs gelingen kann.
Der Weg ist gangbar, ja. Irland hat die Preise im Euro um 15 Prozent im Vergleich zu seinen Wettbewerbern gesenkt. Aber der Weg ist für Griechenland zwei- bis dreimal so lang wie für Irland. Das griechische Leistungsbilanzdefizit, das sich bei einer ausgeglichenen Wirtschaftslage ergeben würde, ist wesentlich größer als das irische. Bislang zeigen die Preise der griechischen Firmen noch keine Entwicklung, die man als Nachahmung des irischen Kurses interpretieren kann. Griechenland ist heute sogar noch teurer als es zu Beginn der Eurokrise war.
Würden Konjunkturprogramme weiterhelfen?
Das Gegenteil ist der Fall. Sie halten die falschen Preise aufrecht und verhindern die Wiedererlangung der Wettbewerbsfähigkeit.
Auch wenn die griechische Regierung nicht freiwillig austreten will – vielleicht muss sie es, weil die anderen Eurostaaten die Geduld verlieren und den Geldhahn zudrehen.
Das kann passieren. Das neue Programm läuft bis 2014, und wenn es dann um eine Anschlussfinanzierung geht, stellt sich natürlich für die Eurostaaten die Frage, ob sie noch einmal Milliarden bereitstellen wollen. Ich halte einen Austritt Griechenlands im Jahr 2014 für möglich, wenn sich kein Fortschritt zeigt. Deshalb ist es wichtig, sich darauf vorzubereiten.
Welche Folgen hätte ein Austritt Griechenlands für die Euro-Zone?
Dem Fass würde ein Boden eingezogen. Die anderen Krisenländer würden sich verstärkt anstrengen, im Euro wettbewerbsfähig zu werden. Vermutlich würden aber auch noch ein, zwei andere Länder austreten. Das wäre auch sinnvoll, weil sie nur so ihre Probleme überwinden können.
Die EZB versucht, die Währungsunion zusammenzuhalten und mit einer lockeren Geldpolitik die Schuldenkrise zu entspannen. Gehören Sie auch zu denen, die eine Inflationswelle auf uns zurollen sehen?
Vorerst droht uns keine Inflation. In unserer Jahresprognose rechnen wir für 2013 mit einer Teuerungsrate von 1,6 Prozent – das liegt unter dem Durchschnitt der Euro-Zone von 1,8 Prozent. Tatsächlich würde eine höhere Inflationsrate helfen, das Wettbewerbsproblem in der Euro-Zone abzumildern. Entweder werden wir teurer oder die Südländer billiger. Daran führt kein Weg vorbei.
Als Argument für den Euro wird immer auf seine Bedeutung für die Exportindustrie verwiesen. Doch der Anteil der Euro-Zone an den deutschen Exporten fällt seit Jahren. Braucht unsere Wirtschaft überhaupt noch den Euro?
Ganz unwichtig ist die Euro-Zone nicht. Noch immer gehen 39 Prozent unserer Exporte dorthin. Aber es stimmt: Es findet eine gewisse Neuorientierung statt. Bei der Ankündigung des Euro auf dem Gipfel von Madrid, im Jahr 1995, gingen 47 Prozent der Exporte dorthin. Die Behauptung, dass die Exportindustrie den Bach runtergeht, wenn wir den Euro nicht mehr haben, ist falsch. Das heißt aber nicht, dass ich für den Euro-Austritt bin. Er ist wichtig als Schutz vor Wechselkursschwankungen und als Garant für die weitere Integration Europas.
Nicht nur in Südeuropa ist die Lage ernst. Auch Frankreich kämpft mit hohen Schulden und schwachem Wachstum. Entsteht da ein neuer Krisenherd?
In Frankreich ist Not am Mann. Das Land hat ein Problem. Die Arbeitslosigkeit wächst laufend. Die Regierung kann nicht mehr mit immer neuen Ausgaben gegensteuern. Die Staatsquote steht bereits bei 56 Prozent und ist damit hinter Dänemark die zweithöchste aller OECD-Länder. Kein anderes Euroland ist dem Sozialismus so nah wie Frankreich. Die Franzosen müssen die Löhne senken, um wieder wettbewerbsfähig zu werden. Bis jetzt sieht es aber nicht danach aus, als wolle Staatspräsident Hollande die nötigen Reformen anpacken. Er will die nötigen Anpassungen mit immer mehr neuen Schulden hinausschieben.
Was heißt das für die Stabilität der Euro-Zone?
Die Entwicklung in Frankreich ist gefährlich. Es ist zu erwarten, dass sich Hollandes Drängen, den ESM weiter in Richtung Eurobonds zu treiben, die für jedes Land verfügbar sind, verstärken wird.
Als Lösung für die Schuldenkrise fordern viele Ökonomen und Politiker eine stärkere Integration der Eurostaaten. Ist das der richtige Weg?
Integration ja, aber dann muss man einen Quantensprung machen. Eine Transferunion braucht eine starke politische Klammer, sonst zerfällt sie. Nur ein gemeinsamer Staat könnte das verhindern: die Vereinigten Staaten von Europa. Aber das wollen die Franzosen ja nicht. Altschulden sollte man im Übrigen nie sozialisieren. Damit haben die USA nach ihre Gründung ganz schlechte Erfahrungen gemacht.
Sie glauben, Deutschland wäre bereit, auf Souveränität zu verzichten?
Eher als Frankreich – wegen unserer Geschichte: Wir haben gelernt, wie wichtig der Frieden in Europa ist. Und wir sind angesichts der Geschichte eher bereit, unsere Identität aufzugeben. Wir wollen Europa mehr als die anderen.
Im nun zu Ende gehenden Jahr waren Sie viel beschäftigt, haben Vorträge und Reden zur Schuldenkrise und ihrer Lösung gehalten. Was sind eigentlich Ihre guten Vorsätze für 2013?
Beharrlich bleiben, dicke Bretter bohren, nicht irritieren lassen und den Finger in weiter in die Wunde legen.