Weil die Euro-Südstaaten nicht auf die Beine kommen, kauft die EZB den Banken nun sogar Schrottpapiere ab. Ohne einen radikalen Schuldenschnitt samt Austritt einiger Staaten sieht Ifo-Chef Hans-Werner Sinn den Euro am Ende.
Von Hans Sedlmaier
FOCUS-MONEY: Herr Professor Sinn, Sie kritisieren das Wertpapier-Aufkaufprogramm, das die Europäische Zentralbank (EZB) jüngst beschlossen hat. Warum?
Hans-Werner Sinn: Es bedeutet einen radikalen Wechsel in der Politik der EZB - weg von der Geldpolitik, hin zur Übernahme der Investitionsrisiken in Südeuropa.
Was ändert sich konkret?
Ursprünglich war es so, dass die EZB ihr Geld ausgab als kurzfristige Kredite an die Banken, über Nacht oder ein paar Tage, die über hochrangige Sicherheiten abgesichert waren. Der Schuldner war dabei immer die Bank, und die Sicherheiten dienten zur zusätzlichen Absicherung der EZB und damit also der Steuerzahler. Die Steuerzahler müssen für die Abschreibungsverluste der EZB aufkommen, weil sich diese Verluste in einer Verringerung der Gewinnausschüttungen der EZB äußern.
Und was ist jetzt anders?
Die EZB ist dazu übergegangen, den Banken deren Kreditforderungen abzukaufen. Diese Forderungen sind aber zum Teil toxisch. Das sind Forderungen gegen Unternehmen, übrigens häufig aus der Immobilienwirtschaft, die notleidend geworden sind. Um die Banken vom Risiko ihrer Fehlinvestitionen zu entlasten, werden jetzt deren Forderungstitel gekauft.
Wer profitiert davon?
Damit sollen die Banken Südeuropas gerettet werden. Als Nebeneffekt kann man hoffen, dass die Privatwirtschaft wieder eher neue Kredite bekommt.
Immerhin will die EZB nur gute Papiere kaufen.
Das wollte sie, aber dazu hätte die Europäische Investitionsbank die schlechten kaufen müssen, was die Politik abgelehnt hat. Jetzt hat sich die EZB durchgerungen, dann eben auch Schrottpapiere mit einem Rating unter BBB- zu kaufen.
Die Steuerzahler kommen also so oder so stärker in die Haftung?
Natürlich. Und zwar nicht so, dass jedes Land seine eigenen Steuerzahler in Anspruch nimmt, um den Banken die Haftung abzunehmen. Vielmehr werden auch die Steuerzahler anderer Länder in Proportion zu ihrer Größe in Anspruch genommen. Man erwägt übrigens, in Zukunft sogar wieder Staatspapiere zu kaufen, wie man es auch in den vergangenen Jahren schon für mehr als 200 Milliarden Euro getan hat.
In den USA hat die Notenbank Fed auch in großem Umfang Wertpapiere gekauft.
Da gibt es einen großen Unterschied: Die Fed kauft keine Staatspapiere von Krisenstaaten. Wenn also Kalifornien pleite ist - und es steht am Rand der Pleite -, dann kauft die Fed keine kalifornischen Staatsanleihen. Beides gilt auch für Minnesota und Illinois, die in einer ähnlichen Lage sind. Ganz im Gegensatz dazu die Europäische Zentralbank, die das in riesigem Umfang mit Staatspapieren der südeuropäischen Krisenländer bereits getan hat.
Warum ist das in den USA anders?
Dort gilt einfach das Prinzip: Wenn sich Staaten übernommen haben, dann gehen sie halt pleite. Und Anleger, die Papiere dieser Staaten kaufen, wissen auch, dass sie im Risiko stehen. Deshalb verlangen sie vorab Zinsaufschläge, oder sie vergeben solche Kredite gar nicht. Das führt im Übrigen dazu, dass diese Staaten sich gar nicht so stark verschulden können. Die drei genannten US-Bundesstaaten haben allesamt Schuldenquoten von unter zehn Prozent, während wir in Europa vom Zehnfachen oder mehr sprechen.
Sie plädieren also gegen das Prinzip der Lastenverteilung und Quersubventionierung, das beinhaltet, dass im Krisenfall alle für einen eintreten?
Quersubventionierung gibt es in den USA schon, etwa Bundesausgaben, die in Kalifornien getätigt werden, oder die gemeinsame Arbeitslosenversicherung. Aber erstens sind die USA ein gemeinsamer Staat, und zweitens gibt es die Quersubvention von Bundesstaaten durch die Notenbank nicht.
Die EZB-Politik wirkt zunehmend kurzatmiger, manche sagen: verzweifelt.
Die EZB hat durch ihre Zinspolitik ihr Pulver weitgehend verschossen - jedenfalls im Rahmen ihres Mandats der Geldpolitik. Sie hat die Zinsen im Herbst 2008 bei der Lehman-Krise zu Recht stark gesenkt. Aber als der Interbankenmarkt im Frühjahr 2009 wieder in die Gänge kam und die Weltwirtschaft im Herbst 2009 und 2010 in den Boom geriet, hätte sie zu normalen Zinsen zurückkehren müssen. Das tat sie aus Rücksicht auf die fortdauernde Krise in Südeuropa nicht und hat damals schon die Staaten und Banken Südeuropas mit niedrigen Zinsen retten wollen. Jetzt, in einem neuen Konjunkturabschwung, müsste sie eigentlich die Zinsen senken, kann es aber nicht, weil sie ja schon fast bei null sind.
Die Spreads der Südländer-Anleihen, also die Abstände zu Top-Papieren wie deutschen Bundesanleihen, befinden sich wieder auf Vorkrisenniveau. Das wird allenthalben als Normalisierung und Erfolg der EZB-Politik gewertet. Aber waren nicht diese Spreads vor der Krise geradezu unnatürlich niedrig und damit ein Auslöser für Spekulation?
Natürlich ist es, wenn die Spreads so hoch sind, dass sie die Ausfallrisiken bei den Staatspapieren abdecken. Wenn man die Spreads unter dieses Niveau drückt, wie das durch die Maßnahmen der EZB geschieht, dann ist das nichts anderes als eine kostenlose Versicherung der Anleger, die diese Staatspapiere der Länder Südeuropas kaufen.
Ist das nur ärgerlich oder auch gefährlich?
Es ist nicht sinnvoll in einer Marktwirtschaft, den Kapitalfluss zu subventionieren und in bestimmte Verwendungen zu lenken. Denn dadurch entstehen Wohlfahrtsverluste. Durch die EZB-Maßnahmen wird das Kapital weiter in diese Krisenländer gelenkt. Die Politik der Europäischen Zentralbank und der Rettungsschirme läuft darauf hinaus, dem störrischen Sparkapital Geleitschutz auf dem Weg nach Südeuropa zu geben.
Und bei uns fehlt es?
Das Sparkapital hatte ja schon angefangen, hier investiert zu werden, wie man am Bauboom sieht. Wenn die EZB ihre Politik konsequent genug fortführt, wird sie den deutschen Bauboom wieder kaputtmachen. Es könnte auch erneut zu mehr Arbeitslosigkeit in Deutschland kommen.
Die Gegenseite argumentiert, dass marktkonforme Zinsen, die viel höher wären, die Konjunktur in den südeuropäischen Ländern komplett abwürgen würden.
Das ist nicht ganz falsch, aber es geht nicht um Konjunktur, sondern um Wettbewerbsfähigkeit. Marktkonforme Zinsen würden zeigen, dass manche Länder bereits bankrott sind. Diese Länder sind überschuldet und können die Zinssätze nicht zahlen, die sie Kapitalgebern bieten müssen, um von ihnen Geld zu erhalten. Um den Konkurs abzuwenden, haben wir die Kollektivierung der Haftungsrisiken. Aber die Folge ist, dass diese Länder sich angesichts der künstlich gesenkten Zinsen noch mehr verschulden wollen. Dazu wollen sie die Schuldengrenzen aufweichen, die sie im Jahr 2012 als Gegenleistung dafür akzeptiert haben, dass Deutschland sich in die Haftung nehmen ließ. Die Lösung ihrer Probleme schieben sie so immer weiter hinaus.
Wie sähe diese Lösung aus?
Wir brauchen in Europa eine Schuldenkonferenz, um die südlichen Länder durch Schuldenschnitte zu entlasten. Und die Länder, die davon Gebrauch machen wollen, sollten auch den Euro-Raum verlassen.
Das will doch kein Land!
Dann sollen sie drin bleiben, aber aufhören, den Schutz der Steuerzahler anderer Länder einzufordern.
Aber wie soll die Konjunktur in Südeuropa ohne billige Kredite in Gang kommen?
Mit billigen Krediten lässt sich ihr Problem erst recht nicht lösen. Sie leiden eben nicht unter einem keynesianischen Konjunkturproblem. Keynesianische Maßnahmen sind ein kurzfristiges Strohfeuer, aber nicht Maßnahmen, die eine über Jahre hinweg schwelende Wettbewerbskrise wirklich beheben können. Das ist wie Valium, das Sie einem Kranken geben. Es gibt ihm im Moment ein Wohlgefühl, aber es behindert die Heilung.
Viele sagen, Spanien, Irland und auch Griechenland hätten die Zeitfenster für Reformen genutzt und seien auf gutem Weg. Reformunfähige Länder wie Italien und Frankreich seien dagegen die wahren Krisenstaaten.
Letzteres stimmt. Irland hat sich nicht reformiert, doch seine Löhne gesenkt, schon bevor es Hilfen bekam und weil es solche Hilfen nicht erwartete. Ich bezweifle, dass Griechenland und Spanien sich wirklich so reformiert haben, dass das zu den nötigen Preisänderungen führt.
Wie meinen Sie das?
Alles muss an der Frage gemessen werden, ob eine Deflation erzeugt wird, die stark genug ist, um die Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen. Bisher gibt es nur ganz, ganz leichte Deflationstendenzen. Griechenland und Spanien haben im Vergleich zu 2007 und zum Rest der Euro-Zone real gerade mal um sechs Prozent abgewertet. Sie müssen aber um 30 Prozent abwerten, um wieder wettbewerbsfähig zu werden.
Also falsche Reformen?
Es kommt nicht auf die Menge, sondern auf die Wirkung von Reformen an. Führen sie zu Preissenkungen, wirken sie. Tun sie das nicht, wirken sie auch nicht.
Welche Reformen wären nötig?
Reformen, die die Lohnstarrheit nach unten beseitigen, Konkurrenz am Arbeitsmarkt schaffen, Lohnsenkungen herbeiführen und so zu Preissenkungen führen, die die Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen. Denn wenn die Krisenländer nicht billiger werden, haben sie im Euro keine Chance.
Sie propagieren also eine Deflation für die Krisenländer. Das ist das genaue Gegenteil der EZB-Politik, die Inflation erzeugen will.
Diese Länder haben in einer inflationären Kreditblase ihrer Wettbewerbsfähigkeit verloren. Der Euro hat ihnen sehr viel billiges Geld zugeschwemmt, das Griechenland und Portugal zur Aufblähung der Staatsapparate und auch dafür verwendet haben, ihre Löhne weit über ihre Produktivität hinaus zu erhöhen. Das hat die Preise nach oben getrieben und sie ihrer Wettbewerbsfähigkeit beraubt. In Spanien und Irland floss das Geld in extrem hohe Immobilienkredite, was eine Immobilienblase entstehen ließ und die Löhne im Bausektor hochtrieb. All das führte zu einem temporär steigenden Wohlstand und zu chronischen Leistungsbilanzdefiziten.
Was halten Sie von Euro-Bonds?
Ein gefährlicher Vorschlag. Der Weg aus der Schuldenkrise führt nicht über noch mehr Schulden. Es lässt sich nicht beliebig Kapital aus dem Hut zaubern, auch wenn manche das zu glauben scheinen. Wenn wir über unsere Verhältnisse leben, dann müssen wir den Gürtel enger schnallen. Wenn der Lebensstandard mit ausländischen Krediten zeitweise erhöht wurde, dann muss er wieder zurück auf das alte Niveau. Die Krisenländer wollen nun Transfersysteme erzwingen, um so ihren Lebensstandard zu halten. Doch das geht nicht, jedenfalls nicht, solange wir nicht die Vereinigten Staaten von Europa gegründet haben, mit allem, was dazugehört: Souveränitätsverlust der Einzelländer, gemeinsame Regierung und Streitmacht. Wenn wir bereit sind, diesen Weg zu gehen, und ich wäre das durchaus, dann können wir anschließend in begrenztem Umfang Transfersysteme errichten, etwa eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung wie in den USA. Aber eine Sozialisierung ohne Staatsgründung halte ich für vollkommen abwegig, denn die Staatsgründung ist so etwas Ähnliches wie der Abschluss eines Versicherungsvertrags.
Das müssen Sie erklären.
Ein Staat ist ein Schutz- und Trutzbündnis auf Gegenseitigkeit. Viele wollen jetzt den Versicherungsschutz der Staatengemeinschaft, ohne dass der Versicherungsvertrag geschlossen wurde. Ich sehe aber nicht ein, dass ich als Deutscher diesen Schutz gewähren sollte, wenn nicht das Versprechen der anderen da ist, umgekehrt auch uns Schutz zu gewähren, wenn es uns mal dreckig geht. Das geht eben nur, wenn man einen entsprechenden Versicherungsvertrag auf Gegenseitigkeit abschließt - und das ist eben die Gründung des Staates. Diese Reihenfolge kann nicht einfach umgedreht werden.
Wird sie jetzt aber doch de facto?
Es kann nicht sein, die Schuldenlasten für die kommenden fünf bis zehn Jahre zu sozialisieren. So wird der Euro nie Bestand haben.
Was befürchten Sie?
Wenn alles sozialisiert ist, wenn die Bilanzen gereinigt sind und man sich aller Altlasten entledigt hat, dann können die Krisenländer aus dem Euro austreten, um sich anschließend durch Abwertung wieder wettbewerbsfähig zu machen. Unsere Politiker glauben, dass durch die Übernahme der Schulden der Südländer der Bestand des Euro gesichert werden kann. Ich sage Ihnen: Das Gegenteil ist der Fall! Denn wenn die Schulden übernommen sind, dann gibt es keinen weiteren Grund für diese Länder, im Euro zu bleiben.
Das wäre ein perfider Plan zu Lasten deutscher Steuerzahler.
Ich will nicht sagen, dass da jemand einen konkreten Plan hat, aber die Gesetzmäßigkeiten werden so sein. Jetzt können die Südländer nicht austreten, weil dann das Schuldenproblem für ihre Banken unlösbar ist. Dann hätten sie Euro-Schulden, die sie in heimischer Währung nicht bedienen können. Aber wenn das Schuldenproblem durch Sozialisierung gelöst ist und die Schulden bei der EZB und bei den Rettungsschirmen abgeladen werden können, wenn es durch die Bankenunion gemeinsame Abwicklungsfonds gibt, dann können sie austreten.
Sie halten die Bankenunion für den falschen Weg?
Ja und nein. Eine gemeinsame Bankenaufsicht ja, einen gemeinsamen Abwicklungsfonds, wie er jetzt aber beschlossen worden ist, nein.
Die Lage erscheint sehr verfahren. Harte Reformen in den Krisenländern sind sozial unerträglich, politisch nicht durchsetzbar und haben schon jetzt radikale Parteien stark gemacht. Umgekehrt wird die Rolle Deutschlands als Lastenesel von unseren Bürgern zunehmend kritisch gesehen, wie das Erstarken der AfD zeigt.
Ja, wir sind alle in die Falle geraten. Die Südländer samt Italien und Frankreich sind in einer Wettbewerbsfalle, und Deutschland ist in der Haftungsfalle. Nun drohen Streit und Missgunst in Europa zuzunehmen.
Womit wir wieder bei der von Ihnen vorgeschlagenen Schuldenkonferenz wären. Was könnte da realistisch beschlossen werden?
Eine Kürzung der Schulden der Banken, der Schulden der Privatleute gegenüber den Banken, der Schulden der Staaten und auch der Schulden der Banken gegenüber dem EZB-System, also der sogenannten Target-Schulden. Erfolgt das nicht, wird nur die Illusion noch eine Weile aufrechterhalten, diese Kreditforderungen würden jemals bedient werden. Die Entfernung von der Realität wird so aber immer größer, weil das Schuldenmachen ja weitergeht.
Es würde also alle treffen?
Es gibt kein Entrinnen. Es trifft die Gläubiger, also uns selbst als Sparer, wenn Banken und Versicherer Verluste erleiden. Aber nicht nur wir würden Verluste erleiden, sondern die Anleger aus aller Welt, die sich engagiert haben. Wenn wir aber stattdessen immer wieder Anschlusskredite geben, die öffentlich besichert sind, bleibt ein immer größerer Teil der Verluste bei den Steuerzahlern der Euro-Zone hängen. Dann wird auch der Prozentsatz der Verluste, der hier in Deutschland liegenbleibt, immer größer werden.
Und die Banken?
Die Banken haben ja nichts. Die arbeiten ja praktisch ohne Eigenkapital. Die Verluste liegen entweder bei den Sparern, die Forderungen gegenüber den Banken haben. Oder sie liegen bei den Steuerzahlern, die die Banken raushauen. Der typische deutsche Vermögensbesitzer kann sich also aussuchen, in welcher Form er seine Verluste gern hätte: als Steuerzahler oder als Sparer.
Aktienbesitzer erwähnen Sie nicht - diese stünden demnach besser da?
Ja, die Aktienbesitzer sind hier draußen. Die Frage ist allerdings, inwieweit sie indirekt betroffen wären, wenn etwa ihre Unternehmen oder sie selbst mit höheren Steuern belastet würden.
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