Die griechische Regierung schindet in der Frage der Schuldentilgung weiterhin Zeit. Der Ökonom Hans-Werner Sinn empfiehlt im FORMAT-Interview den Austritt der Griechen aus dem Euro. Er hält das für die beste Lösung für alle Beteiligten - insbesondere für die griechische Bevölkerung. Das bisher an Griechenland zur Unterstützung geliehene Geld sei nämlich “so oder so weg”.
Format: Herr Professor Sinn, Sie kritisierten kürzlich die EZB, sie würde mittels neuer Notfallkredite, sogenannter ELA-Kredite, Konkursverschleppung betreiben. Ist die Lage wirklich so dramatisch, oder haben Sie da nur überspitzt formuliert?
Sinn: Ja, es ist definitiv eine Konkursverschleppung. Denn die EZB ist im Fall Griechenlands bereits von normalen Refinanzierungskrediten, die durch Pfänder abgesichert sind, zu diesen ELA-Krediten übergegangen. Dabei geht die EZB von der Hypothese aus, das Risiko würde bei der griechischen Zentralbank liegen und würde nicht mit dem Rest der Eurozone geteilt.
Format: Folgt man der Argumentation der EZB, sollte das aber unproblematisch sein?
Sinn: Die ELA-Kredite sind ein ernsthaftes Problem. Schauen Sie sich die Dimensionen an: Griechenland verhandelt gerade über zwei Milliarden Hilfsgelder von der EU, die auch noch mit Sparauflagen verbunden sind. Aber über die ELA-Kredite sind alleine seit Anfang dieses Jahres bereits 68,5 Milliarden Euro bewilligt worden. Dabei liegt die maximale Haftungssumme, die die griechische Notenbank überhaupt verkraften könnte, bei 42 Milliarden. Für den Überschuss haftet in jedem Fall der Rest der Eurozone.
Format: Der Ökonom Martin Hellwig widerspricht Ihnen.
Sinn: Hellwig schreibt, die griechischen Banken seien solvent, und es wäre kein Risiko dabei, ihnen weiteres Geld zu leihen. Das wundert mich, weil er sich noch vor Kurzem ganz anders geäußert hat. Im Übrigen, wenn das kein Risiko ist, dann könnte man den Banken doch auch weiterhin über abgesicherte Kredite Geld leihen, anstatt zu Notkrediten überzugehen, oder? Das ganze System wird nur durch fortwährende Finanzhilfen der Staatengemeinschaft am Leben erhalten.
Format: Wie lange wird der Geldhahn noch offen bleiben? Griechenland ist bekanntlich hoffnungslos überschuldet. Wann können wir also mit dem Grexit rechnen?
Sinn: In Europa wirken unterschiedliche Kräfte. Es gibt einige, die das System der Nettozahlungen weiter aufrechterhalten wollen und den Grexit um jeden Preis verhindern wollen - weil er ein Tabubruch wäre. Dann wäre nämlich klar, dass es auch andere Lösungen gibt, als immer nur zu zahlen.
Format: Eigentlich gerade für die Nettozahler eine erfreuliche Perspektive?
Sinn: Nun, für die Gläubiger ist es ein Risiko. Dazu zählen viele französische, deutsche, aber auch englische Banken, die noch in Südeuropa stark engagiert sind. Der Grexit würde bedeuten, dass sich das Drohpotenzial der anderen Krisenländer für zusätzliche Rettungskredite verringert und die investierenden Banken insofern einem höheren Risiko ausgesetzt sind.
Format: In Griechenland sind die ausländischen Banken doch aus dem Schneider. Man hat deren Forderungen gegenüber Griechenland längst sozialisiert.
Sinn: Das ist richtig. In Griechenland hat man fünf Jahre lang die ausländischen Banken gerettet. Wenn man immer so lange mit dem Austritt eines Landes aus der Eurozone warten würde, bis alle seine Schulden von den Banken auf die Staatengemeinschaft umgeschichtet sind, dann würde der Austritt des Landes aus dem Euro für die Kapitalmärkte kein Risiko mehr bedeuten. Dafür wird es für den Steuerzahler freilich sehr teuer.
Format: Griechenland ist doch de facto pleite. Es gibt keinen ernsthaften Ökonomen weltweit, der behaupten würde, das Land könnte seine Schulden jemals zurückzahlen. Irgendwann muss doch die Insolvenz auch de jure festgestellt werden?
Sinn: Nein. Wir können auch eine Transferunion mit den Griechen eingehen. Dabei erhält man die Illusion, Griechenland sei solvent, und gibt dem Land immer weiter neue Kredite, um die alten abzulösen.
Format: Das tun wir jetzt: Die Griechen sollen formell die Schulden erst in 30 Jahren zurückzahlen. Dabei ist klar, dass sie es nicht werden tun können.
Sinn: Genau. Aber der Vorteil dabei ist, dass die Gläubiger-Staaten es nicht als Verlust verbuchen müssen. Das mag albern erscheinen, aber es ist ein wichtiges Motiv, warum man diesen Weg wählt, statt einen Schuldenschnitt zu machen.
Format: Was würde es zum Beispiel den deutschen Steuerzahler kosten, wenn Griechenland jetzt aus dem Euro austreten würde?
Sinn: Nichts. Es kostet jetzt schon etwa 85 Milliarden Euro. Das sind die Kredite, die Deutschland über die Rettungsschirme Griechenland zur Verfügung gestellt hat. Diese wird Griechenland zum größten Teil nicht zurückzahlen können. Dabei ist es egal, ob das Land im Euroraum verbleibt oder nicht. Das Geld ist also so oder so weg. Wenn die Griechen aber im Euroraum drinbleiben, werden immer mehr Milliarden hinzukommen.
Format: Dann schlittern wir in eine Transferunion?
Sinn: Wir sind schon in einer Transferunion. Nur werden die Transfers noch unter dem Deckmantel von Krediten gewährt. Die Kredite mutieren allmählich zu Transfers, indem man Laufzeiten verlängert, Zinsen aussetzt und letztlich auch Schuldenschnitte wird gewähren müssen.
Format: Sie denken, Griechenland sollte den Euro verlassen?
Sinn: Ja. Ich halte den Austritt des Landes aus dem Euro für die beste Lösung für alle Beteiligten - insbesondere für die griechische Bevölkerung.
Format: Das Vorgehen Griechenlands, aber auch Italiens wurde schon historisch mit der Lateinischen Münzunion verglichen. Ist das aus Ihrer Sicht zulässig?
Sinn: Im Prinzip ja. Die Mitgliedsstaaten der Lateinischen Münzunion einigten sich darauf, Münzen mit dem gleichen Anteil an Gold und Silber zu prägen, sodass diese Münzen aus unterschiedlichen Ländern gleichwertig waren. Die Griechen und vor allem die Italiener hatten aber bald wertloses Papiergeld gedruckt und es gegen gold- oder silberhaltiges, also wertvolles, Geld aus dem Ausland getauscht. Das hat natürlich für großen Ärger gesorgt. Es dauerte nicht lange, und viele Länder tauschten das italienische Papiergeld nicht mehr gegen Münzen ein. Griechenland musste die Union sogar zeitweilig verlassen.
Format: Der tschechische Ökonom Lukáš Kovanda sieht in Ihnen den Mann, der den Euro am Ende besiegt. Gefällt Ihnen die Vorstellung?
Sinn: Ich beabsichtige nicht, den Euro zu zerstören. Ich glaube daran, dass wir den Euro erhalten können, wenn wir Länder wie Griechenland temporär rauslassen. Wir müssen einen atmenden, flexiblen Euro schaffen, in den man nicht nur rein, sondern auch wieder raus kann. Sollte Griechenland austreten, würde ich ein Rückfahrtticket anbieten. Wenn das Land zur Drachme zurückkehrt, seine Währung abwertet, die notwendigen Reformen durchzieht und seine Wirtschaft dadurch wieder wettbewerbsfähig wird, dann sehen wir uns in zehn Jahren wieder.
Format: Sie gehörten zu den ersten von insgesamt 270 Ökonomen, die im Jahr 2012 den Aufruf gegen die Vergemeinschaftung der Bankenschulden unterzeichnet haben. Ärgert Sie das nicht, dass die Politik nicht auf den Sachverstand der Ökonomen hört?
Sinn: Sagen Sie das nicht! Der Aufruf hat immerhin bewirkt, dass wir in Europa eine Diskussion über den Bail-in hatten. Das führte im Fall Zyperns dazu, dass die Gläubiger der zypriotischen Banken einige Verluste realisieren mussten.
Format: Also sind die Politiker nicht völlig beratungsresistent?
Sinn: Nein. Sie reagieren schon auf den Druck. Auch wenn Sie öffentlich bei solchen Aufrufen zuerst abwinken oder behauptet, dass hätten Sie schon vorher gewusst. Vor allem in Krisenzeiten ist die Bereitschaft da, zuzuhören, was da aus der Wissenschaft so empfohlen wird.
Format: Sie nehmen oft kontroversielle Positionen ein und werden deshalb angegriffen. Wie können Sie dem standhalten?
Sinn: Weil ich als Volkswirt mein Bezugssystem in der Wissenschaft habe. Natürlich beeinflusst die öffentliche Meinung manchmal meine Gemütslage, aber ich lasse mich nicht irgendwo hintreiben. Ich sehe es als meine Aufgabe an, die öffentliche Meinung mit den richtigen Erkenntnissen zu beeinflussen und den Diskurs mit sachlichen Argumenten zu füttern. Wofür sich die Öffentlichkeit nach Abwägung dieser Argumente letztendlich entscheidet, liegt nicht in meinem Aufgabenbereich. Das ist der Unterschied zwischen Wissenschaftlern und den Politikern.
Format: Das “Handelsblatt” zum Beispiel hat Sie als “falschen Propheten” tituliert, weil Sie in einer Berechnung zu dem Schluss gekommen sind, dass die Zuwanderer für den Staat ein Verlustgeschäft sind.
Sinn: Na ja, das ist wieder eine typische mediale Darstellung. Ich hatte in einem umfangreichen Artikel dargelegt, dass die Zuwanderung für den Arbeitsmarkt positiv ist, dass sie aber negative fiskalische Effekte produziert. Das wurde dann etwas verkürzt dargestellt.
Format: Können Sie uns erklären, wie die Zuwanderung gesamtgesellschaftlich ein Gewinn und fiskalisch ein Verlust sein kann?
Sinn: Natürlich. Gesamtgesellschaftlich nutzt die Zuwanderung im Prinzip allen Beteiligten. Das zweite Thema ist der Staat, also das fiskalische System. Hier sind die Migranten auf der einen Seite Steuerzahler und tragen somit mit einem bestimmten Teil zu den Einnahmen des Staates bei. Auf der anderen Seite nutzen sie die Leistungen des Staates und verursachen damit Kosten. Wenn man diese beiden Größen gegenüberstellt, kommt eben heraus, dass die Zuwanderer per saldo von der Staatstätigkeit profitieren.
Format: Sie meinen, weil sie im Durchschnitt mehr Sozialleistungen in Anspruch nehmen?
Sinn: Nein, nicht mal. Der Aspekt der Sozialleistungen ist in der Berechnung zwar berücksichtigt, jedoch nicht ausschlaggebend. Es ist generell in einem Sozialstaat so, dass durch die Umverteilung der Einkommen die Geringverdiener zu den Nettoempfängern gehören. Da die Zuwanderer unterdurchschnittlich qualifiziert sind und deshalb unterdurchschnittlich verdienen, sind sie Nettoempfänger staatlicher Leistungen. Nur darum ging es bei der Aussage: dass die Migranten per saldo mehr bekommen, als sie zahlen müssen.
Die Fragen stellte Petr Bystron
Nachzulesen auf www.format.at