„Der Austritt ist überfällig”

Interview mit Hans-Werner Sinn Freie Presse, 23.05.2012, Nr. 119, S. 7

ifo Präsident sieht im Verbleib Griechenlands in der Eurozone eine Ansteckungsgefahr für andere Länder

MÜNCHEN/DRESDEN — Der Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone ist überfällig. „Im Euro-Raum kann das Land nicht existieren", sagt Hans-Werner Sinn (64). Im Gespräch mit Hubert Kemper beschreibt der Präsident des Münchener ifo Instituts die Gefahr einer Ansteckung der Griechenland-Krise auf Portugal, Spanien und Italien und das Risiko eines Scheiterns des Euro. Sollte der Euro zerbrechen, würde Deutschland mit einer Billion Euro haften.

Freie Presse: Die Griechen wollen den Euro behalten. Sie aber plädieren für die Rückkehr zur Drachme. Sollen wir Griechenland zwingen, den Euro zu verlassen?

Hans-Werner Sinn: Nein, das können und sollten wir nicht. Dar-Ober entscheiden die Griechen allein. Allerdings haben sie nicht das Recht, beliebig viel Geld zu bekommen. Sie haben in Form der Rettungspakete, der Target-Kredite der EZB und des Schuldenschnitts schon jetzt 460 Milliarden Euro erhalten. Das sind die 116 Marshall-Pläne.

Bisher hat die Politik die Konsequenzen eines Euro-Austritts gescheut. Ist jetzt die Zeit reif?

Keiner will das, aber der Austritt ist überfällig. Im Euro-Raum können die Griechen nicht existieren, ohne dass sie laufend finanziert werden oder untergehen. Die billigen Kredite, die der Euro dem Land gebracht hat, haben Preise und Löhne künstlich erhöht. Von diesem Niveau muss das Land herunter. Der Austritt bietet die Gelegenheit, wieder wettbewerbsfähig zu werden.

Bei den Neuwahlen im Juni könnten Linksradikale an die Macht kommen, die den Sparkurs rigoros ablehnen. Ein Grund mehr, Griechenland den Euro-Austritt nahezulegen?

Ich sehe nicht, dass die bisher regierenden Parteien vernünftig waren. Der gesamte Kurs führt ins Chaos. Wir sehen das an der ausufernden Arbeitslosigkeit. Mehr als die Hälfte der jungen Menschen hat keine Zukunft mehr. Die bisher regierenden Parteien, die den Sparkurs verteidigen, um im Euro-Raum zu bleiben, machen eine für ihre Bevölkerung unverantwortliche Politik. Natürlich sollten sie sich an das Sparpaket halten. Aber sie sollten nicht im Euro bleiben.

Griechenland im Euro zu halten, wurde bisher mit der Gefahr eines Domino-Effekts begründet. Wie groß ist diese Gefahr?

Sie wird immer größer. Weil die Außenschulden, die Griechenland und die anderen Krisenländer nicht bedienen können, Jahr für Jahr wachsen. Uns hilft jetzt nur die Aussicht auf ein Ende mit Schrecken. Man hätte den Schnitt schon vor zwei Jahren machen müssen, dann wäre der Schaden begrenzt gewesen.

Was passiert in Portugal, in Spanien oder in Italien, wenn in Griechenland die Bankschalter gestürmt werden?

Natürlich ist das eine Gefahr. Aber die Gefahren, die drohen, wenn Griechenland drinbleibt, sind viel größer, denn entweder müssen wir dann große Teile unseres Vermögens für die Rettung der überschuldeten Südländer hergeben, oder die betroffenen Länder werden an den Rand des Bürgerkriegs getrieben. Es ist wie bei einer Operation. Sie bedeutet ein Risiko, aber ohne Operation stirbt der Patient.

Wird Spanien der nächste Krisenkandidat?

In der ersten Krisenwelle waren kleine Länder betroffen. Dafür reichte unser Geld noch. Jetzt sind die Großen dran, nämlich Spanien, Italien und potenziell auch Frankreich. Mit den bisherigen Methoden lässt sich das Problem nicht mehr lösen. Diese Länder sind so groß, dass sie sich selbst helfen müssen. Spanien ist der nächste Kandidat, der in der Schusslinie ist. Spaniens Außenschulden sind so groß wie die aller anderen Krisenländer zusammen.

Der neue französische Präsident Hollande verlangt eine Wachstumskomponente. Wie passt das zu einem Sparkurs?

Hollande will neue Schulden machen. Das ist das Gegenteil von Wachstum. Er will sich am Markt verschulden und zwar mit deutscher Unterstützung. Deutschland kommt immer stärker in die Haftung. Wenn sich Frankreich und andere Länder auf eigenes Risiko zu marktüblichen Konditionen verschulden wollen, so sollen sie das gern tun. Aber in Wahrheit wollen sie sich billig bei Deutschland verschulden oder zumindest Deutschland in die Haftung nehmen, um billige Zinsen zu kriegen. Dies mit dem Begriff Wachstumspolitik zu verklären. ist unehrlich.

Wie groß ist der Betrag, für den der deutsche Steuerzahler im Fall einer Staatspleite von Griechenland, Portugal, Irland, Spanien und Italien haften würde?

Das wären mehr als 600 Milliarden Euro. Sollte auch der Euro zerbrechen, würden wir bei rund tausend Milliarden Euro liegen.

Sehen Sie die Gefahr, dass der Euro scheitert?

Ja, die sehe ich.

Was raten Sie dem Sparer, der sein Geld in Euro angelegt hat?

In Deutschland ist man auf der sicheren Seite. Das Kapital drängt nach Deutschland. Wenn der Euro zerbricht, wird es eine Aufwertung der D-Mark geben. Es besteht überhaupt keinen Grund, aus Finanzanlagen in Deutschland zu flüchten. Das ist ja der sichere Hafen.