Der Ifo-Chef warnt vor den verheerenden ökonomischen Folgen der Alterung in Deutschland und sieht die Politik in der Verantwortung. Im Interview spricht er über seine Ideen für eine fundamentale Rentenreform.
Wenn Hans-Werner Sinn über die politischen Herausforderungen unserer Zeit spricht, lässt er sich Zeit Der Chef des Münchener Ifo-Instituts macht Pausen, denkt lange nach. So lange, bis sich auch die vertracktesten Probleme in sein ökonomisches Koordinatensystem einfügen Jassen. Sein Glaube an die Marktwirtschaft ist unerschütterlich - auch das Demografie-Problem, davon ist Sinn überzeugt, lässt sich langfristig über die richtigen ökonomischen Anreize überwinden.
Herr Sinn, Sie warnen vor den katastrophalen Folgen des demographischen Wandels. Könnten Sie uns kurz das Bild der deutschen Volkswirtschaft im Jahr 2030 beschreiben?
Von 2025 bis 2035 gehen die Babyboomer in Rente, die heute den Rest an wirtschaftlicher Dynamik erzeugen, der in Deutschland noch anzutreffen ist. Dann werden wir in Deutschland unter Berücksichtigung der Zuwanderung 7,5 Millionen Rentner mehr und 8,5 Millionen erwerbsfähige Personen weniger haben. Die Ruheständler wollen dann ihre Renten von Kindern kassieren, die sie nicht haben. Außerdem kommt uns die Arbeitsbevölkerung abhanden. Das wird der Wirtschaft ganz erheblich zusetzen.
Der eine oder andere wird vielleicht denken, so löse sich wenigstens das Problem der Arbeitslosigkeit.
Eine völlig falsche Vorstellung. Die Alterung entfernt ja nicht nur die Arbeitnehmer, sondern auch Arbeitgeber aus dem Arbeitsmarkt. Neue Unternehmen, die neue Arbeitsplätze schaffen, werden in der Regel von eher jungen Leuten von Mitte Dreißig gegründet. Nein, die verheerende demografische Entwicklung bedroht die Funktionsfähigkeit der staatlichen Sozialsysteme und damit auch die Funktion des Staatswesens an sich.
Das hört sich an, als wären die Milliardenlasten, die durch die Eurokrise entstehen, eher das kleinere Problem.
Nein, das würde ich nicht so sehen. Diese Lasten kommen ergänzend dazu. Und sie werden womöglich dann akut, wenn wir vor den unlösbaren Verteilungskämpfen zwischen den Alten und den jungen stehen, die das politische System der Bundesrepublik erschüttern werden.
Sind wir zu dieser Entwicklung verdammt oder kann man etwa über gezielte Zuwanderung das Schlimmste noch verhindern?
Man sollte die Möglichkeiten nicht überschätzen. Wollten wir die negativen Effekte für die Volkswirtschaft über die Zuwanderung kompensieren, wären wir schnell in einer Größenordnung, die unser Vorstellungsvermögen strapaziert. Um die Relation von Alten und Jungen auf dem jetzigen Niveau zu halten, bräuchten wir rechnerisch bis zum Jahr 2035 ungefähr 30 Millionen junge Zuwanderer.
Das hört sich nicht so an, als ließe sich das realisieren ...
Nein, das ist auch nicht zu realisieren - schon allein, weil die Assimilationskraft für so viele Einwanderer gar nicht vorhanden ist. Aber sicherlich ist eine gezielte Zuwanderung ein wichtiges Instrument, um die Folgen der Überalterung in Deutschland zu lindern.
Wie sieht eine gute Einwanderungspolitik aus?
Als erstes sollte die Politik festlegen, wen Sie einwandern lassen will. Allen ist klar, dass sich Deutschland verändern wird. Schon jetzt haben 20 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund, ein Drittel der Neugeborenen sind Kinder von Migranten. Wir sollten dem US-amerikanischen oder kanadischen Beispiel folgen und über ein Punktesystem eine gezielte Einwanderungspolitik anstreben.
Deutschland ist aber Mitglied der EU, da ist die Freiheit in der Einwanderungspolitik begrenzt.
Das ist richtig, wir brauchen eine EU-einheitliche Einwanderungspolitik Viele der anderen EU-Länder haben ja das gleiche Problem wie Deutschland. Unser Land profitiert derzeit von einem Immigrationssturm, der an die Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung erinnert. Im Jahr 2013 kamen netto, also nach Abzug der Auswanderer, 437.000 Menschen nach Deutschland. Noch vor Kurzem war Deutschland ein Auswandererland. Nun kommen die Menschen in Scharen. Warum sollten wir diesen Prozess nicht steuern?
Was sollte die Politik noch unternehmen, um das Demografie Problem zu lindern?
Wir brauchen dringend einen pragmatischeren Umgang mit dem Thema Familienplanung und Fertilität, um die Folgen der Vergreisung des Landes zu bekämpfen. Dazu muss auch der Staat umsteuern. Er muss sich stärker an den Kosten der Kindererziehung beteiligen und die Kinder auch steuerlich mehr berücksichtigen. Dazu gehört ein Kindersplitting nach französischem Muster.
Der Staat trägt die größte Schuld für das Demographie-Desaster, weil er all diese Dinge über Jahrzehnte vernachlässigte?
Ja, ganz eindeutig. Denn er hat durch seine sozialen Sicherungssysteme, die das Schicksal des Einzelnen von den Konsequenzen seiner Fertilitätsentscheidungen abgetrennt haben, ganz maßgeblich zur Änderung des gesellschaftlichen Wertes der Familie und zur Kinderlosigkeit der Deutschen beigetragen.
Das hätte der Papst nicht besser formulieren können. Aber im Ernst: Die Rentenversicherung ist alleinige Ursache für die Kinderarmut hierzulande?
Sie ist die hauptsächliche Ursache dafür, dass die Deutschen bei der Zahl der Neugeborenen pro Tausend den letzten Platz der OECD-Statistik einnehmen. Es ist doch kein Zufall, dass ausgerechnet jenes Land, das als erstes Land eine umfassende staatliche Rentenversicherung einführte, heute ganz hinten steht. Über Generationen haben Deutsche seit 1889, als Bismarck die Versicherung einführte, die Erfahrung gemacht, dass man auch ohne eigene Kinder im Alter zurechtkommen kann. Die Rentenversicherung hat den Menschen die Verantwortung für ihr Einkommen im Alter genommen und damit die Kinderlosigkeit der Deutschen maßgeblich mitverursacht
Das klingt ja eher nach einer pädagogischen Herausforderung ...
Nein, es ist eine Frage der ökonomischen Anreize. Das wohl großzügigste Rentensystem der gesamten Welt hat die Deutschen zu Tourismus Weltmeistern gemacht und eine atemberaubende Infrastruktur von Seebädern auf Mallorca geschaffen. Heerscharen von Rentnern lassen sich, finanziert vom deutschen Umlagesystem, von Luxuslinern durch die Weltmeere schaukeln. Nur Kinder hat das System nicht hervorgebracht. Wir brauchen eine Rentenreform.
Wie genau sollte diese Reform aussehen?
Erstens brauchen wir von der Kinderzahl abhängige Rentenansprüche. Zweitens bin ich dafür, die feste Altersgrenze für die Beendigung des Arbeitslebens wie in den USA vollständig abzuschaffen. Der Beschäftigte sollte einen Rechtsanspruch gegenüber dem Arbeitgeber auf Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu gleichen Bedingungen haben. Wer diese Option dann wählt, erhält seine Rente später, aber dann versicherungsmathematisch aufgestockt.
Die Regierung macht derzeit aber das Gegenteil, sie fördert mit der Rente 63 die Frühverrentung.
Das ist tatsächlich das falsche Signal. Wir brauchen eine längere Lebensarbeitszeit, keine kürzere. Und es ist jetzt schon klar, dass diese Reform schon in wenigen Jahren wieder rückgängig gemacht werden muss.
Frankreich gilt wegen seiner Reformschwäche gemeinhin als kranker Mann Europas, hat aber mit 2,02 gegenüber 1,36 in Deutschland eine wesentlich höhere Geburtenrate. Würden Sie so weit gehen und sagen, dass die langfristigen Wirtschaftsperspektivenjenseits des Rheins besser sind?
Ja, Frankreich hat langfristig genau aus diesem Grund viel bessere Entwicklungschancen als Deutschland. Wir wähnen uns stark und kräftig, weil die Babyboomer noch da sind. Aber der Eindruck täuscht. In Wahrheit sind wir auf dem besten Weg, uns als dynamische Wirtschaftsnation von der Weltbühne zu verabschieden. Das ist tatsächlich das falsche Signal. Wir brauchen eine längere Lebensarbeitszeit keine kürzere. Und es ist jetzt schon klar, dass diese Reform schon in wenigen Jahren wieder rückgängig gemacht werden muss.