Hans-Werner Sinn, ist die Schuldenkrise Ihrer Ansicht nach überstanden?
Hans-Werner Sinn: Für die Anleger hat eine Beruhigung stattgefunden, weil die Rettungsversprechen der EZB einigermassen glaubhaft sind. Die Länder sind aber zum Teil noch immer weit davon entfernt, ihre Schulden zurückzahlen zu können.
Wird dieser Fall denn überhaupt eines Tages eintreten?
Sinn: Bei Griechenland und Portugal sehe ich schwarz. Ihre Probleme lassen sich kaum lösen, solange sie Mitglieder des Euroraumes sind. Spanien tut sich auch schwer. Italien hat nicht so grosse Schwierigkeiten. Die Italiener haben ihre Schulden im eigenen Land gemacht. Der italienische Staat könnte jederzeit seine Schulden tilgen, wenn er die Steuern erhöhen würde. In Italien ist es nur ein internes Verteilungsproblem, die Bevölkerung hat ein unheimlich grosses privates Vermögen.
Wurden denn bereits Erfolge bei der Entschuldung verzeichnet?
Sinn: Es ist ruhig geworden durch das Versprechen der EZB, den Investoren die Papiere der gefährdeten Staaten abzukaufen. Ausserdem gibt es ja noch den Rettungsschirm. Das Problem ist nur, dass diese Sicherheiten die Anstrengungen erlahmen lassen, die Schulden abzubauen. Jetzt sind wir in einer Phase, in der das Rettungsgeld der EZB verhindert, dass die Staaten den Gürtel allzu eng schnallen müssen. In Griechenland sind die Preise und Löhne nur ganz wenig gefallen. Das ist fast nichts im Vergleich zu dem, was nötig wäre. Griechenland und andere südliche Euroländer sind durch den Euro-Boom zu teuer geworden. Griechenland müsste die Preise und Löhne um 30 Prozent senken, um wieder wettbewerbsfähig zu werden.
Sie sind kein grosser Freund der Gemeinschaftswährung der EU?
Sinn: Bei der Einführung des Euro war ich noch optimistisch. Ich war der Meinung, dass wir den Euro brauchen, und dachte, durch die Sicherungsklauseln des Maastrichter Vertrags wäre es eine positive Entwicklung. Ich habe mich aber sehr getäuscht. Der Maastrichter Vertrag, der den Freikauf der überschuldeten Länder durch die besser gestellten ausschliesst, wurde kurzer Hand über Bord geworfen. Auch die 60-prozentige Schuldengrenze wurde nicht ernst genommen. Das ätte ich mir alles nicht vorstellen können. Diese Desillusionierung hat bei mir zum Umdenken geführt.
War die Einführung des Euro also ein Fehler?
Sinn: Bei all den Vertragsverletzungen, ja eindeutig. Ich hoffe allerdings nach wie vor, dass es möglich sein wird, den Euro zu retten. Dazu muss der Euroraum verkleinert werden. Ein Austritt überschuldeter Staaten sollte möglich sein, damit sie ihre Wettbewerbsfähigkeit durch eine Abwertung wiedererlangen können. Dazu werden Regeln benötigt, eine Art Konkursordnung für Staaten. Aber die will die Mehrheit der Staaten nicht.
Die Schweizer fühlen sich durch die Schuldenkrise in ihrem Entscheid gegen die EU bestätigt. Kann ein Land in der Mitte Europas wirklich langfristig aussen vor bleiben?
Sinn: Die Schweiz würde einen grossen Fehler machen, dem Euroraum beizutreten. Vor einer Erweiterung des Euroraums müssten erst fundamentale Reformen durchgeführt werden.
Wäre ein Beitritt der Schweiz zur EU nicht sinnvoll?
Sinn: Im Moment setzt die Schweiz ja alle Beschlüsse der EU um und verhält sich wie ein EU-Land, kann aber nicht mitbestimmen. Somit könnte ein Beitritt sinnvoll sein. Ich bin aber vorsichtig geworden, wenn es um die Entwicklung der EU geht. Es ist schwer zu sagen, ob ein Beitritt eine gute Idee wäre.
Sind Sie kein bisschen stolz auf die EU?
Sinn: Doch, die EU hat vor der Einführung des Euro durchaus segensreich gewirkt. Gerade beim Handel ist die EU für alle Partner von Vorteil. Der freie Handel fördert die Arbeitsteilung in ganz Europa, und auch die Freizügigkeit ist eine gute Sache für die Menschen in Europa. Die EU halte ich für ein Erfolgsrezept, den Euro allerdings nicht Ich sehe aber auch, dass es verhängnisvolle Rückwirkungen der Europolitik auf die EU gibt. Die EU muss sich auf das beschränken, was nur zentral erledigt werden kann. Sie darf nicht sinnlos in die Mitgliedsländer reinregieren. Komischerweise tut sie nicht das, was sie eigentlich sollte. Sie erledigt weder eine gemeinsame Aussenpolitik, noch unterhält sie eine gemeinsame Streitmacht.
Warum müssen dann aber alle EU-Bürger auf ihre Glühbirnen verzichten, warum kann das nicht jedes Land für sich selbst entscheiden?
Der Euro braucht meiner Meinung nach eine viel stärkere zentralstaatliche Gewalt, um die Länder an einer übermässigen Schuldenaufnahme zu hindern. Aber die Bereitschaft, einen europäischen Bundesstaat zu schaffen, ist leider immer noch sehr klein. Nach dem Schuldenproblem hat Europa nun ein wachsendes Flüchtlingsproblem. Viele fordern nun eine liberalere Einwanderungspolitik.
Würde diese das Problem lösen?
Sinn: Die Armutsmigration hat beängstigende Ausmasse angenommen. Nach Deutschland sind zum Beispiel aus Rumänien und Bulgarien in den letzten fünf Jahren 250 000 Hartz-IV-Empfänger eingewandert. Das muss ein Land verkraften können. Wir können den Ländern nicht einfach so viel Geld geben, bis die Migranten nicht mehr kommen. Ich will damit nicht sagen, dass Wanderung schlecht ist Wanderung in Arbeitsplätze ist sogar sinnvoll. Aber wenn Wanderung getrieben wird durch die Geschenke des Sozialstaates, dann ist sie nicht gut.
Was wäre die Lösung?
Sinn: Auch hier kann man die Schweiz zum Vorbild nehmen. Sie hatte früher ein Heimatlandprinzip bei der Sozialhilfe. Wurde man bedürftig, konnte man sich an den Heimatort wenden. Das hat dazu geführt, dass es keine Sozialmigration gab und auch keinen Negativwettbewerb der Kantone bei den Sozialleistungen. In Europa kann jeder in ein anderes Land gehen und dort die Hand aufhalten. Lässt man das System so, wie es heute ist, wird der Staat, in den die Leute einwandern, die Sozialleistungen für alle kürzen, um die Kostenlawine zu stoppen. In der EU sollten nur Länder zugelassen werden, die entsprechende Sozialstandards garantieren, und die Leute sollen das Geld aus ihrem Heimatland dort beziehen können, wo sie möchten.
Dafür müsste sich Europa abschotten.
Sinn: Ja, wir können unmöglich die Tore öffnen für die Armen der Welt. Dann bricht Europa zusammen. Die Grenzen müssen gegen Wirtschafts- und Armutsflüchtlinge gesichert werden. Bei echten Asylbewerbern gilt natürlich etwas anderes.
Das Interview führte Nelly Keune