Alle Hoffnungen von Kapitalanlegern sind auf die Europäische Zentralbank gerichtet. Sie werde die Konjunktur in Euroland durch unkonventionelle Maßnahmen ankurbeln und über den Erwerb von ASS-Papieren sowie Staatsanleihen weiter Liquidität in die Märkte pumpen. "Vorsicht", warnt Professor Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchner ifo-lnstituts, "Erstens lassen sich die Wachstumsprobleme in Europa nicht mit Geldpolitik lösen. Und zweitens bewegt sich die EZB, rechtlich gesehen, auf sehr dünnem Eis."
"Mein Ziel ist es, über die Entwicklungen in der Eurozone aufzuklären. Ich möchte den fundamentalen Aufgabenwechsel beschreiben, den die Europäische Zentralbank in Abkehr von den Maastrichter Verträgen vorgenommen hat", erläutert Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchner ifo-Instituts: "Die EZB von heute macht keine Geldpolitik mehr. Sie ist eine Rettungsbehörde für die Staaten und Banken Südeuropas geworden. Und eine Zentralplanungsbehörde für Zinsen und Kapitalverkehr. Das müssen die Menschen wissen."
Deshalb hat Sinn ein Buch geschrieben. Noch ein Buch. Nach der Target-Falle nun "The Euro-Trap". Auf Englisch. Mit Absicht. "Der zweite Punkt, der nie richtig verstanden wurde, ist die Natur der Eurokrise. Viele denken ja, gerade in der angelsächsischen Welt, dass es sich um eine konjunkturelle Krise handelt, die sich mit keynesianischen Mitteln lösen ließe - also mit einer Nachfragepolitik der Staaten oder auch mit Geldpolitik. Doch das stimmt eben nicht."
Um zu erklären, worum es wirklich geht, ist ein kleiner Anlauf nötig. In Wahrheit, erläutert Sinn, gehe es in Europa um eine Wettbewerbskrise. Mit der Einführung der Gemeinschaftswährung Euro fielen die Zinsen in Südeuropa auf das deutsche Niveau. Von durchschnittlich etwa zehn auf rund fünf Prozent. Kredit war plötzlich billig wie nie. Das erhöhte die Kreditnachfrage in diesen Ländern. Haushalte und Staaten verschuldeten sich. Der Bausektor boomte.
Relativ zum Rest der Eurozone stiegen die Preise und Löhne dramatisch an. In Spanien, illustriert Sinn, sei das Preisniveau zwischen 1995 und dem Zeitpunkt der Lehman-Krise im Herbst 2008 um 25 Prozentpunkte stärker gestiegen als bei seinen Wettbewerbern. "Das ist so, als hätte Spanien die Peseta noch und hätte diese um 25 Prozent aufgewertet. Dadurch wurde die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie zerstört." Ganz ähnlich fällt die Diagnose in Portugal und Griechenland aus. All diese Länder, erklärt Sinn, müssten nun den Rückwärtsgang einlegen. Und das sei eine Herkulesaufgabe.
Um eine grobe Idee von der gewaltigen Dimension zu geben, zitiert Sinn eine Studie des Investmenthauses Goldman Sachs. Sollen die Exzesse der Vergangenheit bereinigt werden, müssen Länder wie Spanien, Griechenland oder Portugal um 30 Prozent billiger werden. Frankreich bräuchte eine Abwertung um 24 Prozent, Italien um elf Prozent. Viel passiert sei demgegenüber nicht. Italien, Frankreich und Portugal seien noch nicht billiger geworden. Nur Spanien und Griechenland hätten ihre Preise seit Beginn der Krise durch schmerzhafte Anpassungsmaßnahmen um sechs Prozent gegenüber ihren Wettbewerbern reduziert. Nur um sechs Prozentpunkte!
"Diese Problematik", meint Sinn, "lässt sich - ohne dass jemand den Euro verlässt- nur dadurch lösen, dass entweder die südlichen Länder in eine anhaltende Deflation oder die nördlichen in eine größere Inflation kommen. Beides würde außerordentlich schwierig." Denn eine weitere Deflation im Süden verschärfe das Arbeitslosigkeitsproblem und führe zu Insolvenzen und Staatspleiten. Eine Inflation im Norden dagegen entwerte dort die Ersparnisse. Wenn im Süden keiner seine Preise senke, sei im Norden eine Preissteigerung von 70 Prozent nötig. Das seien 5,5 Prozent Inflation für zehn Jahre. "Dann sinkt der Realwert der Ersparnisse aber um 40 Prozent. Wollen wir das?" Es gebe, meint Sinn, keine "gute" Lösung des Problems.
Sondern nur eine "etwas weniger schlechte". Der Münchner Professor schlägt drei Maßnahmen vor. Erstens eine Schuldenkonferenz, um denjenigen Ländern Teile der Staats-, der Bank und der Notenbankschulden (die sogenannten Target-Schulden) zu erlassen, die sie nicht mehr tragen können, ohne sich permanent über die Gemeinschaftswährung mit Ersatzkrediten zu versorgen. Zweitens die Möglichkeit temporärer Austritte aus der Währungsunion, um über eine Abwertung die Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen. "Danach sollte jedes Land die Möglichkeit erhalten, wieder in die Währungsunion einzutreten." Und drittens eine Neuorganisation des Zentralbanksystems. "Es geht nicht an, dass sich jeder das Geld druckt, das er gerade braucht", erklärt Sinn.
Das ist Sprengstoff, weil es die Überzeugungen von Investoren ins Wanken bringt. Bisher gehen diese felsenfest davon aus, dass die Europäische Zentralbank "was immer nötig ist" macht und auch machen darf, um den gesamten Euroraum zusammenzuhalten und die Wirtschaft wieder zum Laufen zu bringen. Was aber, wenn sich zeigt, dass dies gar nicht möglich ist? Weil die Therapie auf einer falschen Diagnose beruht. Und was, falls die EZB im nächsten Jahr vom deutschen Verfassungsgericht gestoppt wird? Lauern da - derzeit noch im Hintergrund- Risiken für Anleger? Es gibt viel zu besprechen.
private wealth Herr Professor Sinn, das Durchwursteln der Europolitiker scheint doch zu funktionieren. Europa kam im Frühjahr aus der Rezession heraus, die Exporte der Südländer nehmen zu, ihre Budgetdefizite gehen zurück. Es geht zwar langsam, aber der Trend scheint zu stimmen. Warum können wir nicht einfach zehn fahre so weitermachen?
Professor Hans-Werner Sinn Die Entwicklung sah nur bis vor wenigen Monaten so aus, wie Sie das eben beschrieben haben. lnzwischen hat es eine allgemeine konjunkturelle Abschwächung gegeben. Länder wie Italien sind mittlerweile in die nächste Rezession zurückgefallen. Die Arbeitslosigkeit in Spanien und in Griechenland ist mit rund 25 Prozent nach wie vor extrem hoch. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt dort bei über 50 Prozent, in Italien bei 44 Prozent. Das sind doch keine Erfolgsmeldungen. Wir müssen erkennen, dass die umfangreichen geldpolitischen Maßnahmen doch nur Strohfeuer waren. Und nicht zu einer nachhaltigen Gesundung der Wirtschaften geführt haben.
pw Erfasst die Schwäche in Europa nun auch uns? Wie groß ist die Gefahr einer Rezession in Deutschland?
HWS Wir haben keine Rezession und wir prognostizieren auch keine. Wobei die Möglichkeit aber natürlich immer besteht. Denn wir geben ja bei unseren Prognosen- die aktuelle liegt bei nur etwa einem Prozent für 2015 - auch Intervalle für die Wahrscheinlichkeiten an. Danach ist es keinesfalls ausgeschlossen, dass wir in eine Rezession kommen. Doch es ist nicht wahrscheinlich. Wir sehen aber schon, dass die Probleme in den Südländern uns ebenfalls treffen. Es muss ja als Kompensation für die fehlende Wettbewerbsfähigkeit immer mehr Geld in die Krisenländer gelenkt werden. Dieses Geld steht nicht mehr für Investitionen in rentable Projekte zur Verfügung. Wir beklagen uns darüber, dass in Deutschland so wenig investiert wird. Unsere Ersparnisse werden doch investiert. Aber eben im Ausland.
pw Wieso reicht das dort nicht für einen Aufschwung?
HWS Investitionen haben zwei Effekte. Erstens einen Nachfrageeffekt. Das ist ein kurzfristiger Stimulus. Und zweitens schaffen sie mehr Angebotskapazität. Das wirkt langfristig. Genau um diesen Teil mache ich mir Sorgen. Er würde nur greifen, wenn die Investitionen in wettbewerbsfähige Strukturen erfolgen. Das ist aber nicht der Fall. Ich halte es deshalb nicht für richtig, die Kreditnachfrage in Südeuropa nun künstlich weiterzustimulieren. Diese Länder müssen sich stattdessen bescheiden. Das Sparkapital sollte dort investiert werden, wo es echte Renditen bringt. Sonst findet das mögliche Wachstum, das aus der Ersparnis hätte kommen können, nicht statt.
pw Warum geht das Kapital dann in diese Länder?
HWS Die EZB betreibt Investitionslenkung und trägt Kredite nach Südeuropa, indem sie deren Schulden quasi garantiert oder die Zinsen so weit senkt, dass dort mehr Kreditnachfrage entsteht. Diese Länder müssen dann die Ochsentour der realwirtschaftlichen Anpassung gar nicht mehr gehen und können sich stattdessen über die Gemeinschaftsmechanismen mit Ersatzkrediten versorgen, die sonst auf den Kapitalmärkten nicht mehr zu bekommen wären. Das kritisiere ich ja.
pw Ließe sich das nicht als ein Beitrag unsererseits akzeptieren, um das Europrojekt am Laufen zu halten?
HWS Das ist der Euro nicht wert. Der Euro hatte das Potenzial, um allen Ländern Wohlstand und Vorteile zu bringen. Aber wenn das bedeutet, dass ein Land wie Deutschland jährlich Zinsverluste von 60 Milliarden Euro hat, dann hört die Sache auf, akzeptabel zu sein. Diesen Preis sollten wir nicht noch weitere zehn oder 20 Jahre tragen.
pw Unser Finanzminister profitiert aber auch von den niedrigen Zinsen. Sonst hätte er die schwarze Null nicht geschafft.
HWS Dass es innerhalb des Landes auch Gewinner gibt, steht außer Frage. Bei uns sind das die Schuldner und dazu gehört der Staat. In der Summe sind wir aber keine Schuldner, sondern Gläubiger des Restes der Welt. Und zwar diejenigen, deren Forderungen pro Jahr schneller wachsen als in jedem anderen Land.
pw Welche Möglichkeiten hat die Wirtschaftspolitik denn im aktuellen Umfeld, der Wirtschaftsschwäche gegenzusteuern?
HWS Wir müssen dringend zu einer Politik höherer Zinsen zurückkehren. Und da dies die Staaten und Banken in Südeuropa sofort in den Konkurs treiben würde, müssen wir zugleich einen Schuldenschnitt verhandeln.
pw Höhere Zinsen als Konjunkturprogramm klingt zumindest ungewöhnlich.
HWS Höhere Zinsen sind tatsächlich kein Konjunkturprogramm. Wir brauchen aber auch kein Konjunkturprogramm, weil Europa kein Konjunkturproblem hat. Sondern ein strukturelles Problem. Ich wiederhole: Die Diagnose, Europa habe ein Konjunkturproblem, das sich mit mehr Investitionen und noch höherer Staatsverschuldung lösen ließe, ist strikt falsch. Die Schuldensituation muss bereinigt werden. Es gibt einfach Länder, die nicht in der Lage sein werden, ihre Schulden zurückzuzahlen. Wenn dieses Problem gelöst ist, haben wir reinen Tisch. Dann werden auch normale Zinsen nicht mehr zu übermäßig hohen Belastungen führen, weil sie ja nur noch einen Teil der ehemaligen Schulden betreffen. Und dann kann Europa allmählich in normales Fahrwasser zurückkehren.
pw Könnte die Finanzindustrie dies verkraften?
HWS Ach, wissen Sie, vor dem Schuldenschnitt Griechenlands 2012 wurde auch der Untergang des Kapitalmarkts an die Wand gemalt. Und was ist passiert? Eigentlich doch nichts. Es gab überhaupt keine Turbulenzen.
pw Wer würde die Verluste denn tragen müssen?
HWS Im Fall Griechenlands sind das im Wesentlichen die öffentlichen Schuldner. Bei privaten Schuldnern würden nicht mehr besonders viele Verluste anfallen.
pw Und wenn dann die Portugiesen oder die Spanier auch einen Schuldenschnitt verhandeln möchten?
HWS Dann würde es natürlich mehr das ist schon klar. Im Übrigen beharre ich darauf, dass das ja keine echten Verluste sind . Sondern nur Verbuchungen von Verlusten, die sowieso schon eingetreten sind. Denn die Alternative zum Schuldnerschnitt ist die Nullzinspolitik und die Ausdehnung der Rettungsschirmpolitik ad infinitum. Es gibt doch viele Formen eines Schuldenschnitts. Es gibt einen offenen in Form des Forderungsverzichts. Es gibt die Zinssenkung. Oder die Laufzeitverlängerung. Mir kommt es nur darauf an, den Schuldnerschnitt als solchen auch offen zu zeigen, statt ihn über eine Zinssenkung zu machen, die sich noch lange in die Zukunft erstreckt. Dann kann ich jetzt wieder mit normalen Zinsen anfangen. Und neue Kredite zu höheren Zinsen vergeben.
pw Was wäre der Vorteil?
HWS Die Länder würden sich künftig weniger verschulden. Durch die Nullzinspolitik, die ja nur dazu da ist, die Schulden der Vergangenheit erträglich zu machen, wird zusätzlich ein Anreiz gesetzt, immer mehr neue Schulden aufzubauen. Weil die Länder ja nicht mehr an sich halten können angesichts dieser guten Gelegenheiten.
pw Haben wir nicht den Fiskalpakt, um die Länder zu disziplinieren?
HWS Der Versuch ist mit den Vereinbarungen des Jahres 2012 unternommen worden. Damals haben wir der Niedrigzinspolitik, den Garantien der EZB und den Garantien des Rettungsschirms im Austausch von Schuldenschranken in Form des Fiskalpakts zugestimmt. Doch dieses Modell ist gescheitert. Der französische Ministerpräsident Valls und sein italienischer Kollege Renzi haben erklärt, dass sie den Fiskalpakt nicht einhalten und wieder mehr Schulden machen wollen. Wir müssen es deshalb schaffen, dass der Kapitalmarkt wieder dafür Sorge trägt, dass keine Überschuldung stattfindet. Wenn kein öffentliches Geld mehr zur Verfügung gestellt wird, sind die Privatinvestoren am Zug. Sie werden ganz genau überlegen, wem sie zu welchem Zins ihr Kapital geben. Dann haben wir automatisch die Budgetrestriktionen des Markts. Und die sind hart.
pw Wie soll der Markt dann das Zepter übernehmen, solange die EZB plant, alle Staatstitel zu kaufen?
HWS Deshalb muss die EZB ja wieder zurück zu einer Institution, die Geldpolitik macht. Und sich bei wirtschaftspolitischen Maßnahmen zurückhält. Solange die EZB einen kostenlosen Versicherungsschutz für den Kauf von Staatspapieren von Krisenländern gibt, wird das Sparkapital über unsere Banken und Versicherungen dorthin gelenkt, statt in deutsche Investitionen zu fließen. Wir sollten aufhören, das zu tun.
pw Aber wie kann die EZB tatsächlich den Weg zurückfinden?
HWS Das ist in der Tat schwierig. Es geht nur durch das Beharren der Bundesregierung auf einem entsprechend restriktiven Kurs der Notenbank. Sie muss ja bislang mit dem Vorwurf leben, dass sie die EZB-Politik augenzwinkernd toleriert hat. Mehr noch: Sie hat dem "whatever it takes" auch explizit im Sommer 2012 zugestimmt. Das müsste sie nun revidieren. Die EZB agiert ja nicht ohne die Rückendeckung der Politik. Wenn Deutschland als größtes Land in Europa diesen exzessiven Kurs unter Verletzung der Maastrichter Verträge nicht mehr mit deckt, wird die EZB sich wohl ändern. Im Zweifel müsste Deutschland androhen, eine Neuverhandlung des Maastrichter Vertrags zu verlangen.
pw Ist das nicht komplett unrealistisch?
HWS Das Verfassungsgerichtsurteil vom Februar 2014 könnte ja schon diese Implikation haben. Das Verfassungsgericht hat erklärt, dass keine deutsche Institution das Recht hat, sich an Handlungen europäischer Institutionen zu beteiligen, wenn diese ihre Befugnisse überschreiten. Ganz im Gegenteil. Die Bundesregierung habe dann sogar die Pflicht, aktiv gegen solche Handlungen vorzugehen. Sollte das Verfassungsgericht bei seiner Meinung bleiben, dass das OMT ein Machtmissbrauch ist, darf die Bundesbank sich daran gar nicht mehr beteiligen.
pw Wie sind die aktuellen Pläne der EZB, sogenannte ABS-Papiere zu kaufen, vor diesem Hintergrund zu bewerten? Sie sollen ja die Kreditnachfrage und damit das Wachstum fördern.
HWS Na ja, das sagt die EZB. Aber erstens ist es ja - wie gesagt- falsch, die Kreditnachfrage in Südeuropa künstlich zu stimulieren. Dort ist ohnehin schon zu viel Kapital verbrannt worden. Tatsächlich geht es auch gar nicht in erster Linie darum. Es geht um Bail-out, um Bankenrettung. Die EZB hat ja erklärt, auch ABS-Käufe von Schuldnern mit schlechter Bonität, also mit einem Rating unterhalb der Grenze von BBB-, durchführen zu wollen. Sie übernimmt die Papiere zwar zu Marktkursen aus den Bankbilanzen. Aber allein schon dadurch, dass sie kauft oder Käufe ankündigt, treibt sie den Marktkurs hoch. Sie kauft also definitiv über dem Kurs, der sich ergeben hätte, wenn sie nicht interveniert hätte. Das bedeutet: Sie verschenkt Geld und übernimmt Risiken zulasten der Steuerzahler. Es ist also eine Subvention zugunsren derjenigen, die diese Forderungstitel besitzen, der Banken Südeuropas. Das deckt sich nicht mit dem Mandat der Zentralbank.
pw Welche Optionen hat der Europäische Gerichtshof nun?
HWS Der EuCH kann zum einen sagen, das OMT-Programm ist eine korrekte Interpretation des Maastrichter Vertrags und deshalb noch im Rahmen des Mandats. Oder er kann feststellen, es verletzt das Mandat. Wenn Ersteres der Fall ist, hat der EuGH ein Problem mit dem deutschen Verfassungsgericht. Dann wird dieses vermutlich der Politik sagen, dass sie bei einer derartigen Interpretation des Maastrichter Vertrags nicht weiter mitmachen darf. Weil der Vertrag dem Grundgesetz widerspricht. Im Extremfall müsste Deutschland den Vertrag kündigen. Oder alternativ eine neue Verfassung bekommen. Einem entsprechenden Referendum würde die Bevölkerung aber wohl nicht zustimmen. Das alles wird der EuGH wissen. Immerhin hat der Vorsitzende, Vasilios Skouris, lange Jahre in Bielefeld unterrichtet. Es ist deshalb zu vermuten, dass der Europäische Gerichtshof doch noch einen Schritt auf das deutsche Verfassungsgericht zu machen wird.
pw Die Äußerungen von Mario Draghi lassen vermuten, dass die EZB schon die Käufe von Staatsanleihen vorbereitet. Was, wenn die Notenbank das durchzieht, bevor die Richter sich geäußert haben?
HWS Dann müsste die EZB möglicherweise wieder einen Schritt zurück machen. Der einzige Witz des OMT-Programms für den Kapitalmarkt ist ja, dass die EZB so der letzte Besitzer der Papiere vor der Pleite wird. Und eben nicht die privaten Gläubiger. Das beruhigt ja die Märkte. Damit trägt die EZB aber sehr wohl das Verlustrisiko. Und genau das darf sie nach Meinung des deutschen Verfassungsgerichts nich t. Ich bin wirklich gespannt, wie der Formelkompromiss aussehen wird, den der EuGH hier anbieten wird. Und ob der dem Verfassungsgericht dann wirklich reichen wird.
pw Sind die Kapitalanleger in diesem Punkt zu sorglos?
HWS Ich finde die Marktreaktionen auf die Ankündigungen der EZB ausgesprochen verwunderlich. Man nimmt hier offenbar die Rechtslage nicht ernst und sieht die Macht des Faktischen bei der EZB und ihrer gegenwärtigen Politik. Die Märkte gehen davon aus, dass der Widerstand der Bundesbank nun ein für alle Mal gebrochen ist. Sie glauben den Schutzversprechen der EZB uneingeschränkt. Und damit an eine Regelung, die dem Maastrichter Vertrag widerspricht. Das ist riskant. Gut möglich, dass dies zu massiven Enttäuschungen führt.
pw Angenommen, die Politik hört nicht auf Sie und macht weiter wie bisher. Und auch zwischen dem EuGH und dem deutschen Verfassungsgericht gibt es irgendeinen faulen Kompromiss. Wie sieht dann die Zukunft Europas aus?
HWS Wir werden weiterhin das Sparkapital Nordeuropas im Süden für die Aufrechterhaltung von maroden Staatsgebilden und Wirtschaften verbrauchen, die ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren haben. Sehr viel mehr Sparkapital wird vernichtet werden. Das Wachstumspotenzial Europas wird dauerhaft beschädigt. Und spätestens in zehn bis 15 Jahren wird diese Gemengelage den Staat und die ganze Gesellschaft vor eine größere Belastungsprobe stellen.
pw Was kommt da auf uns zu?
HWS Die demografische Krise. Wir haben ja jetzt ein System, in dem alles nach dem Schneeballprinzip funktioniert. Alte Kredite werden nicht getilgt, sondern einfach mit neuen Krediten bezahlt. Die meisten Länder gehen noch weiter und nehmen immer mehr zusätzliche Kredite in den Bestand. Es muss also auch immer mehr Sparkapital mobilisiert werden- um die alten Kredite zu überrollen und neue Kredite aufnehmen zu können Aber in 15 Jahren wollen die Baby-Boomer überall in Europa ihr Geld zurück. Auch in Deutschland. Sie werden dann nicht bereit sein, Anschlusskredite zu geben. Im Gegenteil: Sie wollen in ihrer Gesamtheit eine Tilgung der Kredite. Sie brauchen das Kapital ja, um da von w leben. Dann ist das Überrollen nicht mehr möglich. ln diesem Moment droht eine Vertrauenskrise des Kapitalmarkts. Die Banken, die Lebensversicherer und die Regierungen bekommen Schwierigkeiten, ihre Verpflichtungen zu erfüllen.
pw Was hat das mit Europa zu tun?
HWS Die Rettungsarchitektur ist ja auch langfristig angelegt. Zu den oben genannten Problemen kommen dann die Belastungen der Staaten aus den Schulden hinzu, die ihnen aus den Rettungsschirmen zugerechnet werden. Sodann muss auf die Gewinne des Zentralbankensystems verzichtet werden, das ja dann auch mit Verlusten kämpft. Die Staaten, die ohnehin durch ihre umlagefinanzierten Rentensysteme überlastet sind, haben zusätzliche Lasten aus der Rettung Südeuropas zu tragen. Heute könnten wir zumindest dieses Problem noch bereinigen. Wie das später gehen soll , weiß ich nicht.
Das Interview führte Klaus Meitinger.