Der Ökonom Hans-Werner Sinn verteidigt seine Zunft gegen den Vorwurf, in der Krise versagt zu haben, und fordert einen Kurswechsel der Politik: Die langfristigen Folgen der Euro-Rettung seien gefährlicher als ein Austritt einiger Mitgliedsländer.
SPIEGEL: Herr Sinn, die Kanzlerin fühlt sich von den Ökonomen alleingelassen. Was sie von den Wirtschaftswissenschaftlern zu hören bekomme, sei "so unterschiedlich, wie es unterschiedlicher nicht sein kann", hat Angela Merkel einmal gesagt. Können Sie das nachvollziehen?
Sinn: Nein.
Wie bitte? Die Ökonomen haben völlig unterschiedliche Vorstellungen, wie der Euro gerettet werden kann. Sie schlagen zum Beispiel vor, dass Länder zeitweise aus dem Euro-Raum ausscheiden sollen, bis sie ihre Wettbewerbsfähigkeit wiederhergestellt haben. Andere empfehlen dagegen, die Schulden zu vergemeinschaften. Was sollen die Politiker mit solchen widersprüchlichen Ratschlägen anfangen?
Es gibt Unterschiede bei den empfohlenen Therapien, doch weniger bei der Analyse. Über die Defekte des Euro besteht heute weitgehend Einigkeit.
Aber nicht darüber, ob und wie der Euro gerettet werden kann.
Ich hoffe, dass er repariert werden kann. Die Euro-Krise verläuft in Phasen, und immer heißt es, die nächste Phase sei alternativlos, weil sonst der Euro zerbricht. Deshalb war es angeblich alternativlos, als die Europäische Zentralbank ihre Target-Kredite vergab, als sie die Bundesbank gegen deren Willen zwang, südliche Staatsanleihen zu kaufen, und als immer größere Rettungsschirme geschaffen wurden. Nun soll eine Bankenunion geschaffen werden, um die Schulden der Banken Südeuropas zu sozialisieren. Der nächste Schritt wird dann die Einführung von Euro-Bonds sein ...
... gegen die sich die Bundesregierung allerdings energisch sperrt.
Spätestens wenn Frankreich in die Krise kommt, was alle befürchten, wird sie sich dieser Forderung nicht mehr verweigern können. Am Ende dieser Entwicklung wird ein System stehen, das mit einer Marktwirtschaft wenig zu tun hat. Die EZB und der Rettungsschirm ESM leiten das Kapital dann unter öffentlichem Geleitschutz in Länder, in die es eigentlich nicht mehr will. Das wird dazu führen, dass es in ganz Europa Wachstumsverluste gibt und das Geld weiter in Südeuropa verbrannt wird. Außerdem wird es viel Unfrieden erzeugen, weil es befreundete Länder zu Gläubigern und Schuldnern macht.
Die von Ihnen propagierte Alternative, der Austritt einzelner Länder aus der Währungsunion, würde riesige Verwerfungen mit sich bringen, Unternehmen und Banken würden pleitegehen, Europa würde möglicherweise für viele Jahre in eine tiefe Rezession stürzen. Schreckt Sie das nicht?
Diese Prognose teile ich nicht. Wenn Griechenland austritt, kaufen die Griechen wieder ihre eigenen Waren, und die reichen Griechen kommen zurück, um zu investieren. Und wenn Portugal auch austritt, wird es ähnlich positive Erfahrungen machen. Das Ifo-Institut hat etwa 70 Abwertungen untersucht und gefunden, dass der Aufschwung nach ein bis zwei Jahren beginnt. Wir schlagen ja auch vor, dass man nur temporär austritt. Griechenland und Portugal müssen um 30 bis 40 Prozent billiger werden, um wieder wettbewerbsfähig zu werden. Das versucht man durch eine exzessive Sparpolitik innerhalb des Euro zu erreichen, aber es wird nicht gelingen. Man würde die Länder vorher an den Rand des Bürgerkriegs treiben. Temporäre Austritte würden diese Länder sehr schnell stabilisieren, neue Arbeitsplätze schaffen und die Bevölkerung vom Joch des Euro befreien.
Aber wer weiß, was auf die Bevölkerung im Fall eines Austritts zukommt?
Wir sollten aufhören, im Fall des Austritts den Weltuntergang zu proklamieren, sondern den Austritt als geordneten Prozess gestalten mit entsprechenden Hilfen für die Banken des betreffenden Landes und für den Kauf sensibler Importe. Im Moment erleben wir in Griechenland eine Katastrophe - und das ist keine Katastrophe durch Austritt, sondern durch Verbleib in der Euro-Zone.
Wie wollen Sie sicherstellen, dass beim Austritt eines Landes nicht automatisch gegen die nächsten potentiellen Kandidaten spekuliert wird?
Die Märkte sind nicht dumm, die packen nicht alle Länder in einen Topf. Das sieht man deutlich an Irland. Die irischen Zinsen sind seit Ende vergangenen Jahres gegenüber den anderen deutlicher gesunken, weil Irland seine Preise um 15 Prozent gesenkt hat und deshalb wieder Leistungsbilanzüberschüsse erwirtschaftet.
Portugal und Spanien sind nicht Irland.
Die Länder haben es in der Hand, die Kapitalanleger zu überzeugen. Spanien muss ja nur 20 Prozent abwerten. Das kriegt man im Euro-Raum hin. Griechenland und Portugal sind eine andere Kategorie. Diese beiden Länder, und nur sie, konsumieren mehr, als sie erwirtschaften.
Jetzt appellieren Sie an die Vernunft der Finanzmärkte. Aber Finanzmärkte neigen zu Übertreibungen und reagieren oft irrational.
Wo haben Sie das denn gesehen?
Oft genügen schon geringe Anlässe, um die Zinsen für Staatsanleihen der Südländer in die Höhe zu treiben.
Die Märkte handeln doch rational, wenn sie kalte Füße kriegen und sich aus den Fehlinvestitionen in Südeuropa zurückziehen. Im vergangenen Winter stiegen die Zinsen auf teilweise über 6,5 Prozent. Diese Länder haben vor Einführung des Euro zwischen 10 und 15 Prozent Zinsen zahlen müssen. Der Zins spiegelt das Risiko der Anleger wider, dass sie ihr Geld nicht wiedersehen. Was ist daran bitte irrational?
Wenn die Anleger fürchten, dass die Währungsunion auseinanderbricht, werden sie ihr Geld abziehen. Dann zerbricht die Euro-Zone tatsächlich.
Es sei denn, die Länder ändern ihren finanzpolitischen Kurs. Wenn sie den Anlegern Pfänder für Kredite bieten und glaubhaft machen, dass sie keine neuen Schulden machen wollen, dann gibt es keine Zinsspreizung.
Sie sagen, die langfristigen Folgen der derzeitigen Rettungspolitik sind gefährlicher als die Risiken eines Kurswechsels. Ist das Wissenschaft - oder eine Glaubenssache?
Ich weise aufgrund einer fundierten Analyse auf eine Gefahr hin, die viele nicht sehen, und wäge ab. Die Staatengemeinschaft hat für 1400 Milliarden Euro Rettungskredite zur Verfügung gestellt, wozu allein die Bundesbank 700 Milliarden mit ihren Target-Krediten beigetragen hat. Und dazu kommt der ESM mit 700 Milliarden, die mit Hilfe privater Investoren auf 2000 Milliarden gehebelt werden sollen. Das bedeutet zwar eine Stabilisierung der Kapitalmärkte, aber eine Destabilisierung der bislang noch stabilen Staaten Europas und eine Vernichtung von Ersparnissen der Rentner und Steuerzahler. Wir rutschen Schritt für Schritt in eine Falle, aus der wir uns nicht mehr befreien können. Dieses Risiko ist nach meiner Einschätzung das größte Risiko überhaupt.
Aber andere Ökonomen kommen bei dieser Abwägung zu anderen Ergebnissen. Hand aufs Herz, wenn Sie die Bundeskanzlerin wären, würden Sie da nicht genauso auf Sicht fahren, wie sie das tut?
Ich verstehe sehr gut, dass Politiker sich jeweils bis zur nächsten Wahl durchhangeln wollen, auch wenn die langfristigen Gefahren dadurch steigen. Mein Zeithorizont als Volkswirt ist aber länger.
Ist es nicht geradezu vernünftig, in dieser Situation sehr vorsichtig zu sein?
Sie können mich nicht davon überzeugen, dass es sinnvoll ist, tatenlos zuzusehen, wie wir immer größere Risiken auf uns nehmen. Wir destabilisieren unser Staatswesen durch diese exzessive Rettungspolitik ...
... es sei denn, diese Rettung gelingt.
Das halte ich für wenig wahrscheinlich, denn wir erhalten dadurch die falschen Preise und damit die fehlende Wettbewerbsfähigkeit der Länder, denen die öffentlichen Kredite zufließen. Drogensüchtige rette ich nicht, wenn ich ihrem Verlangen nach mehr Drogen nachkomme.
Die Vorschläge der Ökonomen stoßen auch deshalb auf Vorbehalte, weil ihre Wissenschaft in den vergangenen Jahren viel an Reputation eingebüßt hat. Nur wenige Ökonomen haben die Finanzkrise vorhergesehen. Da ist es doch kein Wunder, dass die Politiker auf ihre Ratschläge nicht mehr viel geben.
Den Zeitpunkt des Crashs haben nur wenige richtig vorhergesagt, das ist wahr. Vor den gefährlichen Entwicklungen auf den Finanzmärkten aber haben viele gewarnt. Ich habe zum Beispiel im Jahr 2003 ein ganzes Kapitel meines Buchs über den Systemwettbewerb der mangelhaften Regulierung der Banken gewidmet und eine Debatte losgetreten, in der ich mich für eine stärkere Regulierung eingesetzt habe. Auch amerikanische Ökonomen wie Martin Feldstein oder Robert Shiller haben wiederholt gemahnt, die Blase auf den US-Finanzmärkten werde irgendwann platzen.
Sie wollen doch nicht bestreiten, dass es bis ins letzte Jahrzehnt eine breite Mehrheitsmeinung in der Ökonomie gab, die Finanzmärkte möglichst weitgehend zu liberalisieren.
Nicht in Deutschland. Führende deutsche Vertreter der Finanzmarkttheorie wie etwa Martin Hellwig haben ähnlich wie ich immer mit Verve für eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte votiert.
In den USA zeichnen sich die Ökonomen durch übergroße Marktgläubigkeit aus, hierzulande durch Streitsucht. Im vergangenen Sommer meldeten sich zwei Ökonomengruppen mit völlig gegensätzlichen Positionen in der Euro-Frage zu Wort: Die eine Gruppe, zu der Sie gehörten, sprach sich strikt gegen eine europäische Bankenunion aus, die andere dafür. War das eine glückliche Aktion?
Sie sprechen von Gegensätzen, wo es gar keine Gegensätze gab. Beide Gruppen waren gegen eine Vergemeinschaftung der Bankschulden in Europa. Die zweite Gruppe sprach sich darüber hinaus für eine gemeinsame Bankenaufsicht in Europa aus, aber dazu hat sich die erste Gruppe nicht geäußert. Die Wahrheit ist also anders, als Sie sie wahrnehmen: 495 deutsche Ökonomen warnen die Bundesregierung vor einer Rettung der südeuropäischen Banken mit deutschen Steuergeldern.
Da stellt sich die Frage, warum Sie nicht gleich einen gemeinsamen Aufruf formuliert haben.
Ich habe den Aufruf nicht geschrieben, sondern ich habe ihn mitunterzeichnet. Der Autor war Walter Krämer von der Universität Dortmund. Krämer und ich haben aber einige Tage später einen Artikel in der "FAZ" geschrieben, in dem auch wir uns für die gemeinsame Aufsicht über die Banken ausgesprochen haben. Das hätte so auch schon im ersten Aufruf stehen können, in der Tat.
Zeigt das nicht, dass der Aufruf möglicherweise das falsche Mittel der ökonomischen Debatte ist?
Es ging nicht um eine ökonomische Debatte, sondern darum, die Öffentlichkeit aufzurütteln. Wir sahen die Gefahr, dass mit den Beschlüssen des Juni-Gipfels einer Vergemeinschaftung der Schulden der südeuropäischen Banken der Weg geebnet werden könnte. Die Schulden der Banken in den Krisenländern sind aber dreimal so hoch wie die Staatsschulden. Wer bitte, außer den Gläubigern der Banken, soll diese Lasten übernehmen?
Festzuhalten bleibt, dass ökonomische Empfehlungen mit großer Unsicherheit behaftet sind, zumal bei einem so komplexen Problem wie der Euro-Krise. Ihr Kollege Gert Wagner, Präsident des DIW, sagt: "Jeder, der sagt, er wisse genau, was zu tun ist, macht sich in einer historisch einmaligen Situation der Anmaßung von Wissen schuldig." Sind Sie anmaßend?
Die Professoren der Volkswirtschaftslehre werden nicht dafür bezahlt, dass sie sich in der Krise davonschleichen.
Und Sie wissen, was zu tun ist?
Ich wäge die Risiken ab und fälle ein Urteil. Würde ich das nicht tun, würde ich meiner Verantwortung als Wissenschaftler nicht gerecht.
Gibt es Einschätzungen von Ihnen, wo Sie im Nachhinein sagen würden: Da habe ich mich geirrt?
Ich habe den Euro zu bedenkenlos gutgeheißen, weil er den Kontinent von den ewig schwankenden Wechselkursen befreien würde. Mein Fehler war, dass ich geglaubt habe, die Staaten Europas würden sich an den Maastrichter Vertrag halten und die Schulden der Südländer nicht sozialisieren. Ältere Kollegen haben die Gefahr schon damals beschrieben.
Haben Sie jemals in Erwägung gezogen, selbst Politiker zu werden?
Nein, ich nehme meinen Beruf als Wissenschaftler ernst und fühle mich der Wahrheit verpflichtet. Das schließt die Unterwerfung unter einen Fraktionszwang aus. Ich will den Deutschen und den Europäern helfen, den Weg der europäischen Integration erfolgreich zu Ende zu gehen. Das kann ich besser, wenn ich mich nicht an eine Partei binde.
Herr Sinn, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Hans-Werner Sinn ist der streitbarste, aber auch der umstrittenste Ökonom des Landes. Seit er 1999 die Leitung des Münchner ifo Instituts übernahm, mischt er sich wie kein anderer Vertreter seines Fachs in die wirtschaftspolitischen Debatten ein. Mit seinen provokanten Thesen ist Sinn, 64, regelmäßig in Talkshows vertreten, viele seiner Bücher ("Ist Deutschland noch zu retten?", "Kasino-Kapitalismus") wurden Bestseller. Kontroversen löste vor allem seine These von der "Basar-Ökonomie" aus, wonach der deutsche Exporterfolg hauptsächlich auf importierten Vorleistungen beruht. Schon früh positionierte sich der ifo Chef gegen die aktuelle Politik der Euro-Rettung. Als erster Volkswirt machte er die Ungleichgewichte im Zahlungssystem der europäischen Notenbanken zum Thema. Er sieht in diesen sogenannten Target-Salden Kredite an die Südländer, die bei einem Scheitern der Währungsunion nicht mehr bedient werden können und deshalb das deutsche Risiko um 700 Milliarden Euro erhöhen. Diese Sichtweise wird inzwischen auch von anderen Ökonomen vertreten - und von wieder anderen heftig kritisiert.
Das Gespräch führten die Redakteure Armin Mahler und Michael Sauga im Münchner ifo Institut.