"Ein Euro-Austritt gibt endlich Hoffnung"

Interview mit Hans-Werner Sinn, Der Standard, 27.10.2012, S.13

Der deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn plädiert für eine Reparatur des Euro. Warum Griechenland ohne Austritt aus der Eurozone zu zerbrechen droht, sagt er im Gespräch mit Lukas Sustala.

Die EU hat heuer den Friedensnobelpreis erhalten. Freuen Sie sich?

Ich finde es völlig richtig, dass die EU den Friedensnobelpreis bekommen hat. Aber dem Euro hätte ich diesen Preis nicht gegeben. Wir müssen aufpassen, dass wir wegen des Eurosystems jetzt nicht alles zerstören, was wir in der EU aufgebaut haben.

Aber darum ringt die europäische Politik. Sie will wieder das Primat der Politik herstellen.

Es gibt kein Primat der Politik über die ökonomischen Gesetze, genauso wenig wie es ein Primat des Architekten über die Gesetze der Statik gibt. Der Euro war ja ein politisches Projekt. 20 Jahre nach dem Maastrichter Vertrag sehen wir, dass er überhaupt nicht funktioniert und Unfrieden in Europa schafft, weil eine Reihe von Ländern in eine schwere Krise gestürzt sind.

Sollten wir den Euro daher abschaffen?

Nein. Der Euro hat offenkundige Defekte, und die müssen repariert werden. Das heißt aber nicht, dass wir den Euro abschaffen.

Standard: Wie können wir den Euro reparieren?

Es braucht Reformen, etwa bei der Europäischen Zentralbank. Wir müssen die Aktivitäten der EZB begrenzen, denn sie macht Regionalpolitik, und das ist nicht ihre Aufgabe. Die Zentralbank kauft in der Eurozone nur die Anleihen der Krisenländer. Das würde etwa in Amerika nie passieren. Die Fed (US-Notenbank, Anm.) würde die Geldmenge gleichmäßig verstreuen. Daher müssen wir die Stimmverhältnisse im EZB-Rat ändern. Die Länder müssen je nach ihrer Haftung entscheiden können. Deutschland hat heute in der EZB so viel zu sagen wie Malta und wird permanent überstimmt. Seit Mai 2010 ist die Bundesbank in die Minorität geraten. Bundesbank-Chef Axel Weber und EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark sind aus Protest gegen die Politik der Anleihenkäufe zurückgetreten, und der amtierende Bundesbank-Chef Jens Weidmann tritt zwar nicht zurück, protestiert aber öffentlich, auch gegen die Target-Salden.

Sie kritisieren das Zahlungsverkehrssystem Target sehr scharf. Was ist Target?

Das sind grenzüberschreitende Zahlungen, die durch das Zentralbankensystem laufen. Wenn also Griechen deutsche Waren kaufen oder ihre Schulden bei deutschen Gläubigern tilgen, dann entsteht ein Saldo mit der griechischen und der deutschen Notenbank. Die Bundesbank kreditiert diese Zahlungen für die Griechen, indem sie dem deutschen Empfänger der Zahlung eine Gutschrift gibt. Normalerweise würde sich das ausgleichen, weil auch die griechische Zentralbank Zahlungen für die Bundesbank durchführt. Das ist aber schon lange nicht mehr der Fall. Die Bundesbank hat auf diese Weise inzwischen Kredite von 700 Milliarden Euro an andere Zentralbanken des Eurosystems gegeben. Dafür erhielt sie eine Forderung, die in ihrer Bilanz steht. Die Südländer haben bei der Bundesbank anschreiben lassen.

Davon ist aber nichts verloren, nur verliehen, oder?

Wir werden einen erheblichen Teil verlieren, aber die Art des Verlustes ist noch nicht klar. Ein Szenario ist, dass die Salden einfach jahrelang stehen bleiben und durch die Inflation verdampfen. Es könnte sein, dass die Target-Salden wieder runtergehen. Etwa wenn die EZB weiter Staatsanleihen kauft. Aber das wäre in etwa so, als würden wir die Platin-Kreditkarte auf den Tisch legen, weil wir nicht wollen, dass die goldene Karte zu sehr genutzt wird.

Sie sind gegen Staatsanleihenkäufe der EZB?

Ich halte die aktuelle Rettungspolitik für politisch gefährlich. Wenn sich private Kreditnehmer in Spanien oder Portugal heute verschulden, tun sie das nicht mehr über private Geldgeber, sondern über die EZB, über das Target-System, oder über die Rettungsfonds. Damit heben wir die Kreditbeziehung zwischen Firmen und Investoren von der privaten auf die staatliche Ebene. Das ist gefährlich und führt zu einem Maximum an Streit in Europa, weil Schuldner und Gläubiger nie in einer guten Beziehung zueinander stehen.

Brauchen wir eine noch engere Währungsunion?

Wir brauchen eine offene Währungsunion. Wir haben nun mal nicht den gemeinsamen europäischen Staat, also können wir es auch nicht machen wie die Amerikaner. Wir müssen die rigide Währungsunion reformieren und zulassen, dass an den Rändern der Gemeinschaft jene Länder, die gar nicht mehr wettbewerbsfähig sind, austreten und abwerten.

Kann Griechenland im Euro wettbewerbsfähig werden?

Wenn man durch Sparprogramme die Löhne und Preise so stark drückt, bis das Land wettbewerbsfähig ist, zerbricht uns zuvor die Gesellschaft des Landes. Das geht nicht. Daher müssen wir eine verträgliche Alternative schaffen, einen Austritt ohne Ansteckungsgefahren und ohne Katastrophenszenario. Das geht.

Wie?

Wir müssen den Austritt begleiten: mit einer Bankenrettung, mit Zuschüssen für sensible Importe, die mit der Zeit teurer werden. Und wir müssen die Rückkehroption in den Euro bereitstellen. Ein Euro-Austritt gibt endlich Hoffnung. Im Moment opfern wir in Griechenland eine ganze Generation junger Leute, die keine Stelle kriegen. Mehr als die Hälfte der jungen Menschen ist arbeitslos. Das alles im Namen des Euro.

Aber Wettbewerbsfähigkeit ist ein relatives Konzept. Sollte Deutschland eine etwas höhere Inflation haben, durch höhere Lohnabschlüsse, damit wir das Ungleichgewicht in Europa abbauen?

Wir müssen an allen Schrauben drehen, und dazu gehört auch die Inflation in Deutschland. Doch künstliche Inflationierung über Lohnabschlüsse ist kontraproduktiv, weil sie Arbeitsplätze vernichtet und Deutschland in die Rezession schickt. Dann werden Deutsche nicht mehr aus anderen Ländern Europas importieren, doch nur dann bauen sich Ungleichgewichte in der Eurozone ab.

Die britische Notenbank diskutiert, die in der Krise gekauften Staatsschulden in naher Zukunft einfach zu erlassen. Wird das auch in Europa passieren?

Auf diese oder andere Lösungen wird es hinauslaufen. Genau das stört mich ja so. Man lässt zu, dass die privaten Gläubiger ohne große Verluste die maroden Papiere an die öffentlichen Gläubiger abgeben. Das ist das normale Spiel nach Krisen. Die privaten Gläubiger versuchen noch in allerletzter Minute, ihre Papiere an den Steuerzahler loszuwerden, und sagen, dass sonst die Welt zusammenbreche.

Aber wird eine Pleite nicht tatsächlich zu einem Kaskadeneffekt führen und andere Schuldner anstecken, weil das Vertrauen verschwindet?

Das Argument mit dem Kaskadeneffekt gilt auch in die andere Richtung. Die Lasten der Eurokrise für die gesunden Länder der Eurozone werden gravierend sein. Wir destabilisieren derzeit die Staaten Europas, und diese Gefahr ist mindestens genauso groß, wie wenn wir irgendwelche Banken destabilisieren.

Bild: Hans-Werner Sinn, Leiter des deutschen ifo-Instituts: "Wir destabilisieren derzeit die Staaten Europas. Und diese Gefahr ist mindestens so groß, wie wenn wir irgendwelche Banken destabilisieren."