Die Spitzenökonomen Hans-Werner Sinn und Michael Burda im Gespräch über die drohende Pleite von Staaten, Inflation und über die große Angst vor dem Zerfall des Euro: „Wir opfern eine ganze Generation junger Menschen.“
INTERVIEW: MARKUS BALSER UND CATHERINE HOFFMANN
Sie sind die Meinungsmacher ihrer Zunft: Michael Burda, 53, amerikanischer Ökonom und Professor an der Humboldt-Universität in Berlin, und Hans-Werner Sinn, 64, Hochschullehrer in München und Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Der eine wirbt für mehr Inflation und warnt davor, Griechenland aus dem Euro zu stoßen. Der andere hält die ganze Retterei für falsch; angesichts der vielen Milliarden wird ihm schwindlig. Die Süddeutsche Zeitung hat beide zum Streitgespräch eingeladen.
SZ: Das Nobelpreiskomitee hat der Europäischen Union den Friedensnobelpreis verliehen. Hat das zerstrittene Europa den Preis überhaupt verdient?
Michael Burda: Absolut. Europa war bis 1945 fast immer im Kriegszustand. Seither ist das ein ziemlich friedlicher Kontinent. Natürlich spielt die EU da eine tragende Rolle. Sie hat die Rivalen Deutschland und Frankreich einem gemeinsamen Ziel verschrieben sowie Ost- und Südeuropa wirtschaftlich aufschließen lassen. Der Preis gilt damit sicher auch dem Euro.
Hans-Werner Sinn: Freizügigkeit und Integration in Europa sind eine Erfolgsstory, das stimmt. Ich bin glücklich über diese verdiente Auszeichnung.
Das Signal des Preiskomitees scheint nötig: Die Krise trifft Südeuropa immer härter, die Proteste werden heftiger. Steht den Europäern das Schlimmste erst noch bevor?
Sinn: Ja, das fürchte ich. Wir kämpfen gerade an zwei Fronten. An der einen lässt sich die Finanzkrise mit immer mehr Geld ja noch irgendwie eindämmen. Die andere ist die Strukturkrise. Die mit Reformen zu lösen, ist viel schwieriger.
Burda: Echte Angebotsreformen in Griechenland und woanders brauchen viel Zeit, bevor sie richtig greifen. Deutschland hat großes Glück gehabt, dass Gerhard Schröder die Agenda-Politik gemacht hat, sonst stünden wir genauso wie Spanien und Italien da – mit hohen Lohnstückkosten und schwächelnder Wettbewerbsfähigkeit. Heute ist Griechenland der kranke Mann Europas, aber das ist nur ein kleiner Puzzlestein im Riesenmosaik Euro. Irland macht große Fortschritte. Auch Portugal reformiert, in Spanien scheinen die Probleme lösbar. Und Italien hat mit seinen Schulden doch Jahrzehnte gelebt. Aber klar ist auch: Es muss jetzt endlich eine politische Lösung her. Vor allem Deutschland und Frankreich müssen sich entscheiden, wie sie die Krise lösen wollen: mit mehr Druck und dem möglichen Zerfall der Währungsunion – oder mithilfe und dem klaren Signal zum Erhalt.
Was raten Sie der Bundesregierung? Muss Berlin für das Projekt Europa einlenken und endgültig die Hand zu noch mehr finanziellen Hilfen reichen?
Burda: Stellen Sie sich vor, Sie wollten den Mississippi ohne Schwimmweste überqueren. Es ist möglich, aber es gibt eine eiserne Regel: Wenn Sie einen großen Teil hinter sich haben, dürfen Sie nicht umkehren. Europa hat sich auf diese Reise begeben. Beim Euro gibt es kein Zurück.
Sinn: Wir sind nicht auf dem Mississippi, sondern im tiefsten Pfälzer Wald und entfernen uns immer mehr vom angestrebten Gipfel. Unsere Anführer sagen uns: „Der Weg stimmt, geht schneller! “ Ich bin nicht überzeugt. Meines Erachtens ist es besser, bis zur letzten Weggabelung zurückzugehen und einen anderen Weg zu probieren.
Also raus aus dem Euro?
Sinn: Einige Länder sind unter dem Euro so teuer geworden, dass es für sie unmöglich ist, im Euro wettbewerbsfähig zu werden. Wir brauchen die Möglichkeit, dass einzelne Staaten temporär aus dem Euro austreten und nach einer Abwertung wieder eintreten können.
Burda: Vorsicht, das ist ein riskantes Spiel!
Sinn: Griechenland kann es im Euro nicht schaffen. Das Land ist nach einer Studie von Goldman Sachs so teuer, dass es um 30 Prozent billiger werden müsste, auch wenn Deutschland im selben Zeitraum um 25 Prozent teurer würde. Eine andere Rechnung: Griechenland ist laut OECD-Kaufkraftvergleich 64 Prozent teurer als die Türkei, ein Land mit ähnlicher Produktivität. Griechenlands Preise müssen deutlich runter, oder der Rest Europas müsste eine galoppierende Inflation akzeptieren. Sind die Deutschen bereit dazu? Wohl kaum. Nur der temporäre Austritt mit einer offenen Abwertung kann Griechenland helfen.
Burda: Das wäre ein gefährlicher Weg. Die Politik wäre gut beraten, den Austritt Griechenlands gar nicht erst zu diskutieren. Austreten, abwerten, eintreten: Das funktioniert doch nur in der Theorie. In der Praxis ist das nicht beherrschbar. Es droht ökonomisches Chaos. Und wohl nicht nur das.
Sinn: Nein, Chaos herrscht heute. In Griechenland liegt die Jugendarbeitslosigkeit jetzt schon bei über 50 Prozent, die Arbeitslosigkeit insgesamt wird auf 27 Prozent geschätzt. Das Land würde zerbrechen, wollte man es so zum Sparen zwingen, dass es rechnerisch wieder wettbewerbsfähig wird. Die Löhne müssen dann in kurzer Zeit um 40 Prozent sinken. Das wäre brutal. Es gibt im Euro keine Lösung. Auf dem Altar der Finanzmarktstabilität wird eine Generation junger Griechen geopfert. Ifo hat in einer großen Studie 71 Währungskrisen untersucht. In der Regel fängt die Volkswirtschaft schon ein bis zwei Jahre nach der Abwertung wieder an zu wachsen. Ich bin für einen geordneten Austritt Griechenlands, den die Staatengemeinschaft mit Hilfsgeld für die Banken und Subvention für sensible Importe abfedert.
Burda: Moment mal: Du glaubst ernsthaft, das wäre die günstigere Alternative? Sinn: Die bessere und die günstigere. Die Griechen haben bislang 360 Milliarden Euro gekriegt, wenn man Target-Kredite, offizielle Hilfen und Schuldenschnitt zusammenrechnet. Das sind, relativ zur Wirtschaftsleistung gerechnet, 36 Marshall-Pläne von der Art, wie sie Deutschland gewährt wurden. Im Euro verpufft das Geld, ohne dass sich irgendeine Besserung zeigt.
Burda: Dieses Geld kam niemals in Griechenland an, sondern bei unseren Banken, also bei uns selber. Wir sollten uns im Klaren über die Folgen eines echten Austritts sein: Sie wären doch fatal. Bei einer Abwertung von 50 Prozent würden vor allem die Schwachen leiden. Reiche Griechen, die bereits ihre Vermögen außer Landes geschafft haben, würden nach einer Abwertung alles für die Hälfte zurückkaufen. Das wäre für die nicht flüchtigen Griechen unerträglich. Sie würden in Massen auf die Straße gehen. Und ich würde das an ihrer Stelle auch tun. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es zu großen Bewegungen in Europa kommen wird. Nicht nur das Fluchtkapital wird in Deutschland Schutz suchen, sondern auch die Griechen selbst. Sinn: Die Flucht findet nur vor der Umstellung statt. Danach kommen alle zurück. Wenn Griechenland ausgetreten ist, investieren die reichen Griechen ihr Geld wieder zu Hause und schaffen Arbeitsplätze. Das stoppt die Auswanderung.
Wenn Griechenland aussteigt, dürften andere folgen. Der Beginn einer Erosion der Währungsunion?
Sinn: Nein, es wäre eine Stabilisierung. Im Moment verfault die Währungsunion von innen. Die Länder versinken im Schuldensumpf.
Burda: Falsch! Das dürfen wir auf keinen Fall zulassen! Gut möglich, dass nach Griechenland auch Länder wie Portugal oder sogar Spanien in die Versuchung kommen auszusteigen. Eine solche Erosion wäre für deutsche Interessen sehr kostspielig. Wir machen nicht nur den deutschen Export durch die Aufwertung einer neuen D-Mark kaputt. Wir würden auch die Banken gefährden, weil sie sehr viele Forderungen gegen die Staaten des Südens besitzen.
Sinn: Von der D-Mark rede ich nicht. Wir müssen die Euro-Zone durch eine geordnete Verkleinerung stabilisieren. Sollte der Euro dann aufwerten, wäre das gut, weil die Importe aus dem Euro-Ausland billiger werden. Eine exzessive Aufwertung könnte die Europäische Zentralbank jederzeit durch Aufkauf von Devisen abblocken.
Braucht Europa einen noch härteren Schuldenschnitt?
Burda: Dazu gibt es keine Alternative. Was die Griechen gerade besonders belastet, sind die Zinsen bei Schulden von 170 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung.
Sinn: Ja, den brauchen wir – aber nicht nur in Griechenland. Es muss jetzt um eine große Lösung gehen, die nicht nur einzelne Institute und Staaten in Konkurs gehen lässt, sondern das Problem für alle Länder, die bedroht sind, bereinigt.
Sie erwarten, dass auch ein großes Land wie Spanien Griechenland folgt?
Sinn: Spanien hat ein riesiges Bankenproblem mit unglaublichen Bankschulden, die nicht gedeckt sind. Im Moment sind die wahren Verluste noch in den Büchern versteckt. Die Wahrheit kann man nicht mehr lange verbergen. Es wird nicht anders gehen, als für die spanischen Banken einen Schuldenschnitt zu organisieren. Übernehmen Staaten diese Last, öffnen wir gefährliche Brandkanäle von der Bankenwelt in die Staatsbudgets der noch gesunden Länder. Dann wird auch die Stabilität des deutschen Staates gefährdet.
Burda: Der Markt sieht im Moment keine Gefahren für Deutschland. Alle wollen ihr Geld hier anlegen, sie nehmen sogar negative Zinsen in Kauf.
Sinn: Die Rating-Agentur Moody’s hat die Abwertung Deutschlands im Hinblick auf die Belastung durch die Rettungsaktionen schon angekündigt. Die Versicherungsprämien für einen Schutz gegen den deutschen Staatsbankrott haben sich seit der Zeit vor der Krise verzehnfacht.
Sie wollen den Geldhahn einfach zudrehen?
Sinn: Statt der Steuerzahler sollten die Gläubiger der Banken für die Abschreibungslasten aus der platzenden Immobilienblase aufkommen. Sie müssen ihre Forderungen gegenüber Banken in Eigenkapital umwandeln und auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten. Da ist Geld und Vermögen genug vorhanden, um Banken zu rekapitalisieren und Verluste zu verkraften.
Burda: Das muss aber schnell passieren, damit die Leute es nicht erwarten. Eigentlich müsste man so richtig Tabula rasa machen und die Banken wie in Schweden damals komplett verstaatlichen. Es wäre richtig, die Eigentümer und Gläubiger der spanischen Banken zur Kasse zu bitten und ihnen zu sagen: „Es ist vorbei!“ Das ist hart, aber wenn man komplett verstaatlicht und dann wieder privatisiert, kann ein Neuanfang gelingen.
Wo wird dieser Teufelskreis aus Schulden- und Bankenkrise noch enden? In einer Bankenunion und der europäischen Sippenhaft für die finanziellen Risiken der Überschuldung?
Burda: Ja, wir brauchen die Bankenunion. Nicht um die bisherigen Reserven der Deutschen für alle anderen Europäer nutzbar zu machen. Nein, wir brauchen einen neuen Krisenfonds, in den ab sofort alle einzahlen. Und wir brauchen eine neue europäische Bankenaufsicht. Nur so lässt sich verhindern, dass Steuerzahler auch in Zukunft für schwere Versäumnisse der Finanzindustrie geradestehen müssen.
Sinn: Dazu muss man die Banken erst mal säubern, indem man die toxischen Papiere in eine staatliche Bad Bank auslagert oder die Gläubiger der Banken zur Kasse bittet. Die Schulden der südeuropäischen Banken liegen bei 9,3 Billionen Euro. Auch kleine Abschreibungen auf diese Summe kann kein Staat mehr schultern. Wir müssen Investoren an der Bankenrettung beteiligen. Für die wäre ein Verzicht auf einen gewissen Prozentsatz machbar.
Im Moment scheint das Theorie. Sieht nicht so aus, als würde ihre Warnung Gehör finden . . .
Sinn: . . . und wissen Sie warum? Weil die Lobby der Finanzinvestoren zu groß ist. Die Investoren behaupten immer, die Welt ginge unter, wenn der Steuerzahler nicht an die Stelle der bankrotten Schuldner tritt.
Besteht nicht die Gefahr, dass ihre Rosskur Europa in eine Deflation führt?
Sinn: Viel größer ist die Gefahr, dass das deutsche Staatswesen in 15 Jahren, wenn die Babyboomer ihre Rente haben wollen, in eine existenzbedrohende Krise kommt.
Sollten wir unseren Mut nicht besser zusammennehmen und für mehr Integration in Europa kämpfen, etwa eine Fiskalunion, so wie es Finanzminister Wolfgang Schäuble und EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy fordern?
Sinn: Van Rompuy zäumt das Pferd von hinten auf. Wir müssen zunächst einen gemeinsamen Staat gründen, eine gemeinsame Verfassung finden – erst dann kommt ein gemeinsames Budget infrage. Das verlangt einen bindenden Kontrakt zwischen den Völkern. Wenn ich in eine Versicherung auf Gegenseitigkeit einzahle, will ich, dass meine Enkelkinder in 100 Jahren auch das Recht haben, etwas zu bekommen, wenn sie in Schwierigkeiten sind.
Burda: Genauso war es in Amerika: Der Schritt zur stärkeren Verfassung 1787 schloss den Verzicht auf viele Rechte und Souveränität ein, dann wurden die Schulden sozialisiert. Europa ist noch nicht so weit. Wenn die Franzosen und die Griechen keine Souveränität aufgeben wollen – und das wollen sie nicht –, dann müssen sie mit den Konsequenzen leben und für ausgeglichene Budgets sorgen. Für die Deutschen gilt das natürlich genauso.
Die Menschen sind widersprüchlich. Sie wollen den Euro behalten, aber den Preis dafür nicht zahlen.
Burda: Es gibt auch milde Varianten von Transfers, die amerikanische Arbeitslosenversicherung zum Beispiel. Sie ist bundesstaatlich organisiert, wird aber gemeinsam verwaltet. Staaten, die in einer Rezession stecken, bekommen mehr Geld, die anderen zahlen dann entsprechend ein. So etwas kann man auch in Europa leicht einführen – ohne gemeinsamen Finanzminister.
Sinn: Aber was wird daraus, wenn du keine Zentralgewalt hast, die die Regeltreue sichert und aufpasst, dass die Nettozahler nicht ausbüxen? Das geht doch alles nicht! Jegliche Form von Umverteilung verlangt einen starken Zentralstaat.
Haben wir in Europa nicht längst eine Sozialisierung durch die Hintertür? Läuft die EZB mit ihren Anleihekäufen Gefahr, Staaten zu finanzieren?
Burda: Das ist wahrscheinlich der einzige Ausweg aus dieser Krise. Die einzige handlungsfähige politische Instanz in Europa ist die EZB. Ihre Ankündigung, notfalls unbegrenzt Staatsanleihen zu kaufen, hat schon Eindruck auf die Märkte gemacht. Die Geier sind verschreckt, weil ihre Geschäfte nicht mehr aufgehen, mit denen sie darauf gewettet haben, dass die Währungsunion auseinanderfliegt. Sinn: Mehr Geld im Schaufenster beruhigt die Kapitalmärkte, schafft aber falsche Anreize für die Krisenstaaten.
Burda: Das ist das Problem. Jetzt müsste EZB-Chef Mario Draghi hingehen und die Regierungen zu Reformen auffordern.
Sinn: Das übersteigt die Fähigkeiten und Möglichkeiten einer Zentralbank. Der EZB-Rat maßt sich nun an, Dinge zu tun, die vertraglich gar nicht vorgesehen sind. Es werden Kredite an die südlichen Länder gegeben, die im Risiko stehen. Das Risiko tragen die Steuerzahler des Nordens, die für die Verluste ihrer Zentralbanken aufkommen müssen. Das Geldsystem wird zur Selbstbedienung der Staaten benutzt.
Wenn Sie als Ökonomen die Geschichte von Währungsunionen ansehen, kommen Sie doch zu einem einfachen Ergebnis: klappt nicht, oder?
Sinn: Ja, ich würde sagen, in der Retroperspektive war es ein Fehler den Euro mit so vielen Ländern zu machen. Aber das heißt nicht, dass Deutschland heute aussteigen sollte. Der Euro bietet ja auch Chancen, wenn man seine Fehler repariert.
Burda: Genau. Es gibt auch erfolgreiche Währungsunionen, Deutschland zum Beispiel – nicht nur nach der Wiedervereinigung, sondern auch nach der Reichsgründung 1871. Es geht um den Willen. Ein politischer Kompromiss ist auch heute möglich. Und das ist viel besser, als zuzulassen, dass uns das Ganze um die Ohren fliegt.
Müssen jetzt die Bürger in Europa die Lösung der Krise über eine schleichende Geldentwertung bezahlen?
Sinn: Die Inflationsdiskussion lenkt ab. Die wahre Gefahr ist doch, dass die Kredite nicht zurückgezahlt werden, die über das EZB-System fließen. Wenn es zu Konkursen im Süden kommt, dann erleiden die deutschen Bürger, Steuerzahler oder Sparer riesige Vermögensverluste.
Burda: Mehr Inflation wird kommen, nicht jetzt, aber wohl in zwei oder drei Jahren. Aber mit Prognosen ist es immer schwierig. Wenn man 30 Jahre im Geschäft ist, weiß man: Das absolut Zuverlässigste ist, dass wir Ökonomen überrascht werden.
Sind die Deutschen zu ängstlich, was Inflation angeht? Müssen sie vielleicht zwei Prozent mehr Inflation akzeptieren, damit die Krisenländer nicht Preise und Löhne senken müssen?
Burda: Ich kann mir gut vorstellen, dass wir vier Prozent mehr Inflation über fünf Jahre tolerieren. Die Deutschen haben jahrelang Nullrunden erlebt, viele würden sich über eine Lohnerhöhung freuen, meine Mitarbeiter zum Beispiel.
Sinn: Wir bräuchten vier Prozent mehr Inflation als die anderen, und das ist zu viel.
Sie beide können sich im Prinzip die Vereinigten Staaten von Europa vorstellen. Gleichzeitig sagen Sie: In der akuten Krise, die wir jetzt haben, muss jeder Staat seine Probleme alleine lösen. Birgt das nicht den Sprengsatz für ein vereintes Europa?
Sinn: Treiben Sie uns nicht ins Extrem! Ich habe mich nie gegen Hilfen ausgesprochen, aber das muss Grenzen haben. Es wurden schon 1400 Milliarden Euro an Hilfen gewährt, und es sollen durch den gehebelten Rettungsfonds ESM noch 2000 Milliarden hinzukommen. Da wird mir schwindelig. Ich kann doch nicht sagen: Jedes Mal, wenn die Staatengemeinschaft aufhört zu retten, bricht die Welt zusammen, weil die Finanzmärkte verrücktspielen. Wir müssen langsam mal rauskommen aus der Krisenangst und den gesunden Menschenverstand wieder benutzen.
Wenn Sie in 20 Jahren eine Vorlesung über diese Euro-Krise halten, wie wird das in der Rückschau sein: Reden Sie dann vom Beginn einer neuen, vielleicht besseren Union oder über den Anfang von ihrem Ende?
Sinn: Ich bin doch kein Hellseher. Das weiß ich nicht. Weißt du das, Michael?
Burda: (lacht und schweigt). „Wenn Sie durch den Mississippi schwimmen und einen großen Teil hinter sich haben, dürfen Sie nicht umkehren.“ „Im Moment verfault die Währungsunion von innen. Die Länder versinken im Schuldensumpf.“ „Bei Konkursen im Süden erleiden die deutschen Bürger, Steuerzahler und Sparer riesige Verluste.“ „Die EZB hat die Geier verschreckt, die darauf gewettet haben, dass die Währungsunion auseinanderfliegt.“