WIRTSCHAFT: Die deutsche Wirtschaft wird in diesem Jahr kaum noch wachsen. Die meisten Forschungsinstitute haben ihre Prognosen gesenkt. Holt die Rezession in der Eurozone jetzt auch Deutschland ein? Fragen an den Präsidenten des Münchener Ifo-Instituts Hans-Werner Sinn.
VDI NACHRICHTEN: Herr Professor Sinn, das ifo Institut hat das gesamtwirtschaftliche Wachstum für die Bundesrepublik für 2013 im Jahresdurchschnitt auf 0,7 % herunterkorrigiert. Mitte 2012 war Ihr Haus noch von 1,4 % ausgegangen?
Die Konjunktur war im Spätsommer vergangenen Jahres eingebrochen und wir rechnen noch mit einer Flaute im Winterhalbjahr. Mit einer Prognose für das gesamtwirtschaftliche Wachstum von etwa 0.7 % liegen wir dennoch unter den optimistischeren Erwartungen für das laufende Jahr.
Also rechnen Sie im Jahresverlauf 2013 mit einer konjunkturellen Belebung – noch in der ersten Jahreshälfte?
Ja, die Auftragslage im Verarbeitenden Gewerbe und die Baugenehmigungen sowie die Auftragsbestände der Architekten signalisieren uns, dass es im Frühsommer wieder aufwärts gehen wird.
Und woher werden die wesentlichen belebenden Impulse kommen?
Wir setzen - wie bereits angedeutet - auf die binnenwirtschaftlichen Auftriebskräfte, insbesondere die Bauwirtschaft, aber auch auf das außereuropäische Ausland und das produzierende Gewerbe. Der Konsum bleibt auch in diesem Jahr stabil, denn wir werden weiterhin einen hohen Beschäftigungsstand haben, was die Zufriedenheit der Bürger stärkt und sich positiv auf die Kauflaune der Verbraucher auswirkt.
Und wie werden sich die Exporte entwickeln?
Die Auftragseingänge, die ich eingangs ansprach, haben vor allem aus dem außereuropäischen Ausland kräftig zugelegt. Wenn vom Außenhandel per Saldo dennoch wohl kein unmittelbarer Beitrag für den Anstieg des Bruttoinlandsprodukts ausgehen wird, so liegt das an den Importen, die angesichts der lebhafteren Binnennachfrage gleichermaßen kräftig ausgeweitet werden dürften.
Die Arbeitslosigkeit nimmt seit geraumer Zeit wieder zu?
Wir erwarten, dass sich die Arbeitslosenquote in diesem Jahr bei etwa 6,9 % stabilisiert. 2012 lag sie bei 6,8 %. Die Differenz ist aber primär auf eine Reduktion der aktiven Arbeitsmarktpolitik zurückzuführen: Die Bundesagentur für Arbeit fördert weniger Beschäftigungsverhältnisse. Insofern ist „verdeckte“ in „offene Arbeitslosigkeit“ überführt worden.
Langfristig werden für Deutschland Wachstumsraten von nur etwa 1 bis 1,5 % prognostiziert. Zu wenig, wie BDI-Chef Grillo sagt. Sehen Sie auch die Gefahr, dass das Land künftig an zu niedrigem Wachstum leidet?
Ausreichendes Wachstum ist wichtig, da kann ich Herrn Grillo nur zustimmen. Die Reformen, die seinerzeit unter der Regierung Schröder auf den Weg gebracht wurden, müssen jetzt - nach einer langen Reformpause - fortgesetzt werden, um Deutschland auch dauerhaft sinnvolle und richtige Strukturen zu geben. Wir sehen - insbesondere am Beispiel Frankreichs - wie ein Land ohne strukturelle Erneuerungen und mit immer mehr schuldenfinanzierten Ausgaben, die man ironischerweise Wachstumsprogramme nennt, in die falsche Richtung abdriftet und seine Wettbewerbsfähigkeit verliert.
Wo besteht hierzulande mittlerweile wieder drängender Reformbedarf?
Ich denke vor allem an die Gesamtverschuldung des Staates, die auch in Deutschland immer noch zu hoch ist und zurückgeführt werden muss. Der Staat ist gefordert, sich stärker zu bescheiden. Anzuerkennen ist, dass das Defizit in den letzten Jahren einer guten Konjunktur zurückgeführt wurde. Aber dieser Konsolidierungskurs hätte auch durchaus mit Überschüssen einhergehen können. Deutschland muss sich anstrengen, seine finanzielle Stabilität zu bewahren. Die Ratingagenturen haben ein Auge auf uns geworfen und Moody´s hat bereits eine mögliche Herabstufung angedroht.
Die Zeit der Tarifverhandlungen naht. Für 12,5 Mio. Beschäftigte laufen 2013 die Verträge aus. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi fordert ein Plus von 6.5 %, um den Konsum zu stärken. Ist dies, ohne höhere Arbeitslosigkeit zu riskieren, verkraftbar?
Man kann den Lohn ohne Gefahr für den Arbeitsmarkt nur dann über Lohnerhöhungen anheben, wenn die Lohnzuwächse den Produktivitätsfortschritt nicht übersteigen und die Beschäftigung konstant bleibt. Lohnerhöhungen, die über die Produktivitätszuwächse hinausgehen erhöhen die Arbeitslosigkeit und verringern den Konsum vielleicht sogar, weil sie die Lohnsumme senken. Außerdem wächst ein Land nicht durch Konsum, sondern durch Investitionen, also das Gegenteil von Konsum. Dass die Beschäftigung hierzulande so hoch ist, liegt im Wesentlichen an der Lohnzurückhaltung in der Vergangenheit, wodurch sehr viele neue Stellen geschaffen wurden. Wir verzeichnen derzeit das höchste Beschäftigungsniveau, das es in Deutschland jemals gegeben hat.
Aber die Arbeitnehmer fordern nach den Jahren guter wirtschaftlicher Entwicklung nun ihren Anteil?
Zweifellos ist es richtig, dass nach den langen Jahren der Lohnzurückhaltung allmählich wieder stärkere Lohnsteigerungen akzeptiert werden können. Dennoch, das Maß der Produktivitätszuwächse darf nicht überschritten werden. Wir sprachen eingangs über die Notwendigkeit ausreichenden Wachstums. Wichtig ist, dass die Wachstumskräfte hierzulande gestärkt werden. Denn wenn Wachstum im Inland erzeugt wird, regt dies Kapitalinvestitionen an. Dies führt zur Schaffung neuer Arbeitsplätze und der Nachfrage nach zusätzlichen Arbeitskräften. Das ist der richtige Weg zu höheren Verdiensten.
Wie hoch ist derzeit das Produktivitätswachstum, an dem sich die Tarifverhandlungen orientieren sollten?
Derzeit ist das trendmäßige Wachstum der Stundenproduktivität mit 0,9% pro Jahr und das Wachstum des BIP-Deflators mit 1¾% pro Jahr anzusetzen. Das macht einen Verteilungsspielraum von 2½% und 2¾% pro Jahr.
Immer lauter werden in Deutschland die Rufe nach Einführung von Mindestlöhnen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes beziehen 20 % der Arbeitnehmer hierzulande Niedrigstlöhne von unter 10,36 Euro. Sind Mindestlöhne flächendeckend erforderlich?
Der große Erfolg der Agenda 2010 besteht in der Senkung des deutschen Mindestlohnes, wie er implizit im Sozialsystem angelegt war. Die Bundesrepublik hat einen Niedriglohnsektor und durch die Lohnmoderation eine gewaltige Wachstums- und Beschäftigungsdynamik bekommen. Deutschland steht heute als eines der wenigen stabilen Länder in Europa mit einer hohen Beschäftigung da. Sehen Sie sich die Länder im Süden und im Südwesten Europas an, wo die Löhne zu stark erhöht worden sind. Dies zeigt doch in aller Deutlichkeit, dass Bestrebungen zu flächendeckenden Mindestlöhnen deplaziert sind.
Zunehmend wird darüber geklagt, dass die Verdienste im Niedriglohnbereich nicht ausreichen, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können?
Im Niedriglohnbereich werden niedrige Löhne gezahlt, wohl wahr. Wenn man daran etws ändern will, muss man sich qualifizieren und in höhere Lohnkategorien aufsteigen.
Die Bundesbürger bewegt die Frage nach der Geldwertstabilität. Teilen Sie die Inflationsangst?
Die Angst ist berechtigt, obwohl wir derzeit keine sicheren Prognosen hinsichtlich stärkerer Inflationsraten machen können. Die EZB hat sich sehr stark in Südeuropa engagiert - sie ist zu einem Teil des Problems geworden: Die Notenbank muss heute für anhaltend niedrige Zinsen im Euroraum sorgen, damit die Kreditforderungen gegenüber den Staaten und Banken Südeuropas nicht völlig verloren gehen. Niedrigstzinsen und der angedrohte Ankauf von Staatspapieren maroder Staaten sprechen für einen Inflationskurs im nächsten Jahrzehnt. Kurzfristig erwarte ich aber keine kräftige Teuerung.
Aber bereits die gegenwärtig mäßige Inflation bereitet den Sparern schon seit einiger Zeit Geldwertverluste, da der erzielbare Zins deutlich unter der Inflationsrate liegt: Der Realzins ist negativ. Leistet der Bundesbürger in seiner Rolle als Sparer - aufgrund der Niedrigstzinspolitik - bereits seit geraumer Zeit seinen Beitrag zur Entschuldung der maroden Euroländer?
Durchaus, denn die Ersparnisse der Sparer werden ja als Rettungskredite und EZB-Kredite - zu von der Politik festgelegten Bedingungen - an die Südländer weitergeleitet. Und dies sind in der Regel Konditionen, die unter den Marktzinsen liegen. Das hilft den hochverschuldeten Ländern, schadet aber den Sparern. Mit dem ESM und tatkräftiger Hilfe der EZB ist - im Grunde genommen - eine Einkaufsorganisation für deutsche Ersparnisse geschaffen worden. Sie leitet - zu nicht marktkonformen Konditionen - die Ersparnisse an die Schuldnerländer in Südeuropa weiter. Damit ist eine schleichende Enteignung des Sparers eingeleitet.
Um weiteren Geldwertverlusten zu entgehen, wird zunehmend in Sachwerte investiert - vor allem in Immobilien. Insbesondere in bevorzugten Ballungsgebieten steigen die Preise für Wohnimmobilien. Droht eine Immobilienblase?
Nein, zumindest nicht kurzfristig. Ein Immobilienboom dauert in der Regel im Schnitt 17 Jahre. Die kräftige Nachfrage nach Wohnimmobilien hat hierzulande erst vor zweieinhalb Jahren begonnen und die Immobilienpreise sind in Deutschland - trotz kräftigen Anstiegs in einigen Regionen – insgesamt immer noch auf recht niedrigem Niveau. Der Wohnungsmarkt dürfte auf absehbare Zeit noch eine sinnvolle Investitionsmöglichkeit darstellen.
Die Euro-Schuldenkrise bewegt uns auch im Neuen Jahr. Welcher hochverschuldete Eurostaat bereitet Ihnen die größten Sorgen?
Natürlich Griechenland. Das Land ist überschuldet – vor allem aber - es ist nicht mehr wettbewerbsfähig, weil es zu teuer geworden ist. Die Preise sinken praktisch nicht. In einer ähnlichen Situation befindet sich Portugal. Spanien zeigt bereits gewisse Belebungstendenzen. Bedenklich ist dort allerdings die hohe Arbeitslosigkeit. Ein Viertel der Spanier ist arbeitslos – vor allem junge Leute. Erhebliche Sorgen macht mir Frankreich: Die Automobilindustrie - eine der wichtigsten Branchen im Lande - befindet sich in lebensbedrohlichen Schwierigkeiten. Auch die Franzosen produzieren zu teuer. Der französische Staatspräsident sieht noch nicht ein, dass es Reformen à la Schröder braucht, die für Lohnzurückhaltung und Preisdämpfungen sorgen. Hollande versucht durch Wachstum die Probleme zu überwinden. Damit meint er aber mehr Schulden und einen Schutz vor schmerzlichen Anpassungen der Einkommen nach unten. Die Erlangung der Wettbewerbsfähigkeit wird dadurch verhindert. Mehr Wachstum bedeutet höhere Schulden, führt aber nicht zu mehr Wettbewerbsfähigkeit. Die Förderung von Wachstum hilft allenfalls kurzfristig, verschlimmert aber langfristig die Probleme. Und in Italien gewinnt Berlusconi wieder Oberwasser, der den gleichen Fehler begehen möchte.
Verschiedenen Untersuchungen zufolge. entspannt sich die Situation in den Problemländern etwas, weil sie es geschafft haben, u.a. ihre Leistungsbilanzen zu verbessern?
Die Leistungsbilanzen haben sich durch die Rezession dieser Länder in der Tat verbessert. Die Importe der südlichen Länder sind deutlich zurückgegangen. Die Exporte haben aber den Vorkrisentrend noch nicht wieder erreicht. Wie bereits betont müssen die Güterpreise in diesen Ländern deutlich fallen, damit sich die heimische Nachfrage, vor allem aber auch das Ausland wieder die Güter dieser Länder kauft. Die Senkung der Preise sind das Gebot der Stunde - nicht die Inkaufnahme einer immer höheren Arbeitslosigkeit.
Seit Ende vergangenen Jahres entschärft sich die gefährliche Target 2-Problematik – d.h., die hohen Negativsalden der Südländer im Zahlungssystem der nationalen Euro-Zentralbanken, über das der Geldverkehr in der Eurozone abgewickelt wird, haben sich leicht verringert?
Richtig, das ist der Fall, seit die EZB im Septemder 2012 angekündigt hat, notfalls Staatspapiere bankrotter Euro-Staaten unbegrenzt aufzukaufen. Das hat die Kapitalmärkte beruhigt und sie sind nun wieder bereit, Geld in die hochverschuldeten Staaten zu überweisen. Das verbessert die Zahlungsbilanzsituation und senkt die Target-Salden.
Die Märkte sind also durch die Ankündigung der EZB beruhigt worden. Beruhigt das auch Sie?
Nein, ganz im Gegenteil - ich bin zutiefst beunruhigt, denn eine mögliche Intervention der EZB geht zu Lasten der Steuerzahler der noch intakten Euroländer. Es ist doch höchst bedenklich, dass es als Erfolg der Politik gefeiert wird, wenn ein Weg gefunden wird, über öffentliche Institutionen das Vermögen der Bürger der noch soliden Staaten anzuzapfen.
Sie fordern einen vorübergehenden Austritt Griechenlands - aber möglicherweise auch anderer hochverschuldeter Länder - aus der Eurozone. Warum vertrauen Sie dem unbegrenzten Rettungsschirm und den angekündigten Interventionen der EZB nicht, die für Luft sorgen sollen, bis sich die wirtschaftliche Lage der maroden Staaten stabilisiert hat?
In dem Maße, wie Rettungsgelder zur Verfügung gestellt werden, wird die fehlende Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder zementiert. Dabei sind die finanziellen Hilfsmaßnahmen immer üppiger geworden. Das nimmt den Druck von den Ländern, ihre Haushalts- und Wettbewerbsprobleme selbst entschlossen anzugehen.
Sie sehen in einem vorübergehenden Austritt der schwachen Länder aus dem Euro die Lösung?
Wie bereits gesagt, mangelt es in den Krisenländern vor allem an Reformen, insbesondere zur Senkung der Preise. Wenn Länder - wie beispielsweise Griechenland – vorübergehend aus dem Euro austreten und wieder eine eigene nationale Währung bekommen, sind sie in der Lage, diese Währung kräftig abzuwerten, wodurch sich die Preise ihrer Exportgüter deutlich verbilligen. Somit wird außerhalb des Euros erreicht, was Ihnen mit dem Euro nicht möglich ist: Die internationale Wettbewerbsfähigkeit ihrer Produkte erhöht sich. Gleichzeitig verteuert eine Abwertung die Importe, mit dem Vorteil, dass sich die Griechen auf die eigenen Produkte konzentrieren und so die Binnenkonjunktur ankurbeln.
Werden nach der Bundestagswahl in Deutschland die Karten mit Blick auf Europa neu gemischt?
Das kann sein, vor allem, wenn der Steuerzahler aufbegehrt, weil er nicht mehr bereit ist, die Lasten anderer auf unbestimmte Zeit zu tragen.