Deutschlands bekanntester Ökonom Hans-Werner Sinn sieht wegen des demografischen Wandels und der Euro-Krise den Wohlstand einer ganzen Generation in Gefahr
Hans-Werner Sinn hat sich von der Öffentlichkeit zurückgezogen - zumindest temporär. Denn gegenwärtig arbeitet Deutschlands bekanntester Ökonom an der englischen Neufassung seines letzten Bestsellers „Die Target-Falle". Das heißt: Für die Medien steht er nicht zur Verfügung und seine Mitarbeiter dürfen sich nur mit den wichtigsten Anliegen bei ihm melden. Das Interview mit der „Welt" ist deshalb eine große Ausnahme. Es findet in Leipzig statt: Dort verleiht die Handelshochschule Leipzig Sinn die Ehrendoktorwürde. Die Arbeit an seinem Buch hat den Präsidenten des ifo Instituts nicht milder gestimmt. Er kritisiert die Politik genauso scharf wie immer - besonders in Bezug auf die Euro-Krise.
DIE WELT: Herr Sinn, Probleme in Portugal, Griechenland und Zypern beunruhigen die Märkte. Ist die Euro-Krise wieder da?
Hans-Werner Sinn: Die Euro-Krise war nie verschwunden, auch wenn viele Bürger das gedacht hatten. Es hat nur eine enorme Verschiebung von Lasten und Risiken stattgefunden: Von den Kapitalanlegern aus aller Welt zu den Steuerzahlern der noch gesunden Euroländer, die hinter der Europäischen Zentralbank (EZB) stehen. Die Finanzmärkte haben sich beruhigt, weil die Steuerzahler in die Haftung genommen wurden.
Trotzdem müssen Sie doch zugeben, dass die Ankündigung von EZB-Präsident Draghi, notfalls Anleihen der Krisenstaaten zu kaufen, das sogenannte OMT-Programm, die Märkte beruhigt hat.
Klar hat es das. Aber die Steuerzahler hätten allen Grund, beunruhigt zu sein. Im Gegensatz zu den Finanzanlegern sind sie gutgläubig und vertrauen auf den Staat. Deswegen lässt sich die Lage beruhigen, wenn man sie zu Gunsten der Finanzanleger belastet. So ist das politische Geschäft. Die Umverteilung von den Gutgläubigen zu den Cleveren beruhigt die Lage. Deshalb ist es gut, dass das Bundesverfassungsgericht darüber entscheiden wird, ob das angekündigte Anleihenkaufprogramm verfassungskonform ist. Ich gehe davon aus, dass die Richter das OMT für verfassungswidrig erklären werden.
Aber die deutschen Verfassungsrichter können doch gar nicht über die Politik der EZB entscheiden. Das stimmt. Das Gericht kann zwar die Bundesbank verpflichten, nicht mehr mitzumachen, aber wenn die anderen Zentralbanken Schrottanleihen kaufen und darauf sitzen bleiben, trägt die Bundesbank die Lasten trotzdem anteilig mit. Ich glaube indes, dass ein negatives Urteil des Bundesverfassungsgerichts die politische Atmosphäre verändern und die EZB dann doch veranlassen würde, von ihrer Politik abzulassen, was manche Krisenländer zu echten Reformen zwingen würde. Das Verfassungsgericht hat im Übrigen noch mehr Möglichkeiten. Es kann dem Bundestag die Auflage machen, Mittel des Rettungsschirms ESM nur dann freizugeben, wenn die EZB sich zuvor von ihrem Programm verabschiedet. Oder es kann die Bundesregierung verpflichten, den Maastrichter Vertrag neu zu verhandeln.
Wäre das nicht der Anfang vom Ende der Euro-Zone?
Das kann sein. Ich halte es aber für wahrscheinlicher, dass das Urteil den Euro stärkt, weil es die Kompetenzüberschreitung der EZB beendet. Die rechtliche Basis des Euro würde gestärkt, und letztlich wäre das auch für die ökonomische Funktionsfähigkeit besser. Das System der lockeren Budgetbeschränkungen, das zugunsten einzelner Länder heute praktiziert wird, ist nicht mit einem funktionsfähigen europäischen Wirtschaftsraum kompatibel. Der Euro wird auf Dauer zerstört, wenn die Politik darauf besteht, dass kein Land den Euro verlassen kann und dass Länder durchfinanziert werden, die sich nicht an die Regeln halten. Genau das ist aber gegenwärtig die Botschaft an die Märkte. Der Euro kann langfristig nur überleben, wenn Länder austreten können, die nicht in die Währungsunion passen.
Griechenland wird häufig als Austritts-Kandidat genannt, will aber im Euro bleiben.
Natürlich. Griechenland will im Euro bleiben, weil es sich im Euro das Geld drucken kann, für das es auf den Märkten hohe Zinsen zahlen müsste. Außerdem fließen noch weitere Hilfsgelder über die offenen Rettungsschirme. Diese Mittel sind der griechischen Regierung offenbar wichtiger als Arbeitsplätze für ihre Bevölkerung.
Glauben Sie, dass es nach der Bundestagswahl einen zweiten Schuldenschnitt für Griechenland geben wird?
Athen scheint davon auszugehen. Griechenland ist außerstande, seine Schulden zurückzuzahlen, wie die verschiedenen Zinsstundungen und Streckungsaktionen des letzten Jahres gezeigt haben, und wenn es doch gelegentlich alte Schulden zurückzahlt, dann nur immer mit neuen Schulden. Es ist an der Zeit, dieses unsinnige Spiel zu beenden. Man sollte Griechenland einen Teil seiner Schulden erlassen, ihm dann aber keine neuen Kredite beim EZB-System oder der Staatengemeinschaft mehr gewähren. Dann tritt es aus, wertet ab, wird wettbewerbsfähig, und die jungen Leute sehen endlich einmal wieder eine Chance, am Arbeitsleben teilzuhaben.
Im Wahljahr sagen die Unternehmen, dass ihnen die demografische Entwicklung weit mehr Sorgen macht als die Euro-Krise. Ist die Furcht gerechtfertigt?
Ja, die demografische Entwicklung ist eine große Gefahr für den Wohlstand einer ganzen Generation. Die deutschen Babyboomer sind jetzt knapp 50 Jahre alt, und die Jahrgänge danach sind immer dünner besetzt. Das merken die Firmen bereits jetzt, wenn sie Facharbeiter suchen. Wenn die Babyboomer in 15 bis 20 Jahren in die Rente gehen, werden alle Bürger die Auswirkungen der geringeren Geburtenraten spüren. Dann müssen die Steuern oder die Sozialabgaben dramatisch angehoben werden, um die Renten der Babyboomer zu finanzieren, und doch werden diese Renten weit unter dem Niveau liegen, das man erwartet hat.
Kann man bereits jetzt beziffern, wie stark Steuern oder Sozialabgaben steigen müssten, um den demografischen Wandel auszugleichen?
Es gibt verschiedene Berechnungen, die alle darauf hinaus laufen, dass die Rentenbeiträge in erheblichem Umfang, vielleicht sogar um bis zu 50 Prozent, steigen müssen, wenn man die Renten nicht antasten möchte. Das trifft die Unternehmen, weil die Arbeitskosten steigen und deutsche Produkte dadurch im Ausland weniger konkurrenzfähig sind. Und es betrifft die Arbeitnehmer, deren Lebensstandard sinkt.
Gibt es eine Alternative zu den höheren Rentenbeiträgen?
Natürlich, der Staat könnte auch die Renten entsprechend kürzen. So oder so kommt auf uns ein vorprogrammierter Verteilungskonflikt zu. Und dazu kommen noch die Riesenlasten des Euro-Fehlschlags: Lasten, die dadurch entstanden, dass die Staatengemeinschaft und die EZB die privaten Gläubiger der Südländer freigekauft und den Krisenländern über Jahre hinaus neuen Kredit gegeben haben, um die schmerzliche Anpassung ihrer Leistungsbilanzen zu verzögern. Und jetzt sollen ja auch noch die Altlasten in den Bilanzen der südlichen Bankensysteme auf den Rettungsfonds ESM und damit auf die Steuerzahler abgeschoben werden. Das könnte der teuerste Schritt überhaupt werden. Bundesfinanzminister Schäuble ist jetzt der Kragen geplatzt. Ob er es schaffen wird, die Vergemeinschaftung der Lasten noch abzuwehren, weiß ich nicht.
Sie beschreiben ein Horrorszenario.
Ja, das ist wohl wahr. Aber der Sachverhalt ist leider allzu offenkundig.
Wie kann die Politik diese Entwicklung abwenden?
Bei der Eurokrise stehen noch viele Entscheidungen an, doch die demografische Krise ist gelaufen, da kann die Politik nichts mehr machen. Zur Abwendung dieser Krise hätten die grundlegendende Entscheidungen in den 80er-Jahren getroffen werden müssen, als Wissenschaftler bereits eindringlich vor dieser gefährlichen Entwicklung gewarnt haben. Heute ist es zu spät. Wir sind jetzt 30 Jahre weiter und haben die vergangenen 30 Jahre verschlafen. Beim demografischen Wandel geht es um ganz langfristige Entwicklungen.
Und die Politik tickt anders...
Genau. Die Politik reagiert meist erst, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Sie wird dann also in 15 oder 20 Jahren Maßnahmen für eine höhere Geburtenrate treffen, aber die werden erst eine Generation später greifen. Wenn diese Kinder am Arbeitsmarkt sind, ist es 2050, und dann sind die meisten von uns gar nicht mehr da.
Sie erschrecken mich. Sonst gelten Sie doch als lautstarker Mahner und geben der Politik gerne Ratschläge. Jetzt aber sagen Sie, man könne nichts mehr machen.
Ich sage ja nicht, dass man gar nichts mehr machen soll. Natürlich müssen die Geburtenraten steigen, und die Ausbildung für unsere Kinder muss besser werden. Jeder Einzelne sollte in seine eigene Bildung und die seiner Kinder investieren.
Werden wir die Krise überhaupt merken, wenn ganz langsam die Belastungen steigen?
Täuschen Sie sich nicht, das wird kein schleichender Prozess sein. Es wird ziemlich knirschen im Gebälk. Schließlich konzentrieren sich die geburtenstarken Jahrgänge auf das Jahrzehnt zwischen 1960 und 1970. Wenn diese Generation in Rente geht, haben wir das Problem.
Haben Sie Angst um Ihren eigenen Lebensabend?
Nein. Den Höhepunkt der demografischen Krise dürften wir zwischen 2030 und 2035 erreichen, deshalb hören übrigens alle offiziellen Berechnungen etwa von der Bundesregierung immer vor 2030 auf. Ich weiß nicht, ob ich dann überhaupt noch leben werde. Jetzt bin ich 65, und dann werde ich 85 sein. Das Problem dürfte mich persönlich also höchstens am Rande berühren. Ich sorge mich aber um die Generation meiner Kinder und Enkel.
Das Interview führte Tobias Kaiser.