Hans-Werner Sinn: “Der Finanzminister muss eisern bleiben”

Interview mit Hans-Werner Sinn, www.wsj.de, 08.10.2014

Herr Sinn, spätestens seit den schlechten August-Produktionszahlen sorgt man sich auch in Deutschland wieder um die Konjunktur. Wie sehen sie die Wirtschaftsentwicklung?

Das Wachstum schwächt sich deutlich ab, der Aufschwung droht zu Ende zu gehen. Andererseits sind die August-Zahlen ein Artefakt, weil die norddeutschen Länder ihre Ferien in den August verlegt haben. Die Jahre davor lagen sie im Juli. Deshalb haben wir im Juli einen starken Zuwachs der Auftragseingänge und im August das Gegenteil. Der Nettoeffekt ist also nicht so erheblich.

Deutschland steht also nicht vor einer Rezession?

Nein. Deutschland hat in den beiden Monaten immer noch mehr Jobs hinzubekommen, die Zahl der offenen Stellen ist gestiegen. Es gab in den letzten Tagen eine Überinterpretation und Katastrophenmeldungen.

Trotzdem werden Forderungen laut, der Staat solle mehr Schulden machen, um in Straßen und Schienen zu investieren. Würde so ein Konjunkturprogramm das Wachstum nicht stützen?

Möglicherweise. Die Frage ist nur, ist die Kreditfinanzierung legitim angesichts der Lasten, die wir ohnehin den zukünftigen Generationen aufbürden. Ich bin sehr für öffentliche Investitionen in die Zukunft, aber nur zu Lasten der staatlichen Transfers. Dafür gibt der Staat viel zu viel Geld aus.

Ist es richtig, dass die Bundesregierung an der schwarzen Null festhält?

Das halte ich für richtig. Das Hauptproblem Deutschlands ist, dass die stärkste Bevölkerungsgruppe der heute 50-Jährigen in 15 Jahren in den Ruhestand geht. Die will dann Geld für die Rente von Kindern, die sie nicht hat. Das wird eine komplizierte Gemengelage. Jedwede Maßnahme, die auf weitere Belastungen der zukünftigen Generation hinausläuft, ist daher nicht zu vertreten. Insofern finde ich es richtig, dass wir einen eisernen Finanzminister haben.

Wenn die Dynamik in Deutschland nachlässt, wird sich das auch auf das Wachstum in der Eurozone auswirken. Schon jetzt ist es sehr blutarm. Warum kommt der Währungsblock trotz großer Hilfen und Anreize nicht auf die Beine?

Weil die Stimuli eigentlich verhindern, dass die nötige reale Abwertung stattfindet. Die südeuropäischen Länder sind in der Kreditblase nach dem Euro-Beitritt viel zu teuer geworden und müssen jetzt den Rückwärtsgang einlegen. Das tun sie aber nur, wenn Not da ist – wenn also nicht Ersatzkredite aus der Notenpresse kommen.

Was muss der Süden tun?

Es ist erforderlich, dass die Reformen am Arbeitsmarkt kommen, damit die Lohnkonkurrenz zunimmt. Dann könnte der Lohn- und Preisanstieg gebremst werden. Das ist aber ein schmerzhafter Prozess. Es ist für mich überhaupt nicht nachvollziehbar, dass die EZB argumentiert, man müsse eine Deflation speziell im Süden Europas bekämpfen. Denn eine Deflation in Südeuropa sollte man eher begrüßen. Sie ist Teil der Lösung des Problems.

Die Europäische Zentralbank stemmt sich mit einem neuen Wertpapierprogramm in nie gekannter Weise gegen die Gefahr einer Deflation und niedriges Wachstum. Wird es gelingen, damit das Wachstum anzuschieben?

Es liegt nicht an fehlender Liquidität. Europa schwimmt in Liquidität. Was die EZB will, ist Banken und Investoren zu retten. Das ist Verteilungspolitik, zu der sie aber nicht befugt ist. Als Nebeneffekt kommt vielleicht heraus, dass die Banken mehr Kredite vergeben. Aber das sehe ich noch nicht einmal.

Weshalb?

Die Firmen, die in Südeuropa investieren, müssen in einem Umfeld investieren, wo sie viel zu hohe Löhne zahlen. In Polen liegen die Stundenlohnkosten im verarbeitenden Gewerbe bei weniger als einem Drittel der spanischen Löhne. Welcher Investor wird sich da für Spanien entscheiden? Das ist das eigentliche Problem, und dagegen kann ich doch nicht mit der Geldpolitik angehen.