"Die guten Zeiten gehen vorbei"

Interview mit Hans-Werner Sinn, Focus Money, 18.02.2015, S. 32-36.

FOCUS-MONEY: Herr Professor Sinn, die Briten bereiten sich auf einen Grexit vor - einen Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone. Sollten wir das auch tun?

Hans-Werner Sinn: Was sollen wir uns da groß vorbereiten? Aber rechnen muss man damit schon.

MONEY: Die griechische Regierung betreibt weiter Wahlkampfrhetorik, kollidiert aber zunehmend mit der Realität. So hat ihr die EZB bei den Krediten Grenzen gesetzt . . .

Sinn: Ich kann nicht sehen, dass die Grenzen schon binden.

MONEY: Na, die EZB akzeptiert keine griechischen Staatsanleihen mehr als Sicherheit.

Sinn: Die EZB hat gerade beschlossen, den Griechen 65 Milliarden ELA-Kredite als Fluchthilfe zu gewähren! Die Flucht ist nur möglich, wenn den Banken von der Notenbank frisches Geld zum Ersatz zur Verfügung gestellt wird.

MONEY: Sie sehen die EZB als Fluchthelfer für Griechenlands Reiche?

Sinn: Auch die Bundesbank muss mitmachen. Sie ist es ja, die den fliehenden Vermögensbesitzern die Konten bei deutschen Banken im Auftrag der griechischen Notenbank füllt und der griechischen Notenbank insofern Kredit gewährt. Die Bundesbank erhält dafür eine Target-Ausgleichsforderung. Ohne diese Hilfe gelänge die Flucht nicht. Griechenland müsste dann Kapitalverkehrskontrollen verhängen.

MONEY: Dieses System der Target-Salden, wie es genannt wird, haben Sie in einem Buch beschrieben. Im vergangenen Jahr schien sich alles beruhigt zu haben, die Salden gingen deutlich zurück. Seit Januar schießen sie wieder hoch. Sind das nur die Griechen, die ihr Geld nach Deutschland bringen?

Sinn: Nein. Man weiß noch nicht, woher das Geld kommt, weil viele andere Notenbanken ihre Salden noch nicht veröffentlicht haben. Griechenland ist sicherlich ein Faktor, denn die Kapitalflucht ist im Gange. Ich vermute, dass nach der Wechselkursfreigabe auch aus der Schweiz Geld zurücküberwiesen wurde. Klar ist aber, dass die Bundesbank dem Fluchtkapital im Januar für netto 55 Milliarden Euro die Konten bei deutschen Banken gefüllt hat und ausländischen Notenbanken insofern Kredit gewährte.

MONEY: Welche Lösung erwarten Sie für Griechenland?

Sinn: Nach seinen letzten Äußerungen zu urteilen, pokert Präsident Tsipras sehr hoch. Er nimmt die Möglichkeit des Austritts wissentlich in Kauf. Auch als Papandreou 2011 sein Referendum über die Austerität ankündigte, spielte er mit dem Gedanken. So wie er bereitete damals übrigens auch Berlusconi in Geheimverhandlungen den Austritt vor. Das alles ist nachzulesen in Büchern von Lorenzo Bini Smaghi, dem Ex-Direktoriumsmitglied der EZB, und Simeon Djankow, der damals als bulgarischer Finanzminister im Ecofin-Rat saß.

MONEY: Das ist es ja, was Sie schon lange fordern . . .

Sinn: Ja, für meine Begriffe ist es der richtige Schritt für die leidende griechische Bevölkerung. Und deshalb kann ich das, was Herr Tsipras und sein Finanzminister Varoufakis da machen, nachvollziehen.

MONEY: Hans-Werner Sinn ist ein Fan von Tsipras?

Sinn: Nein. Aber er hat Recht, wenn er sagt, dass die bisher favorisierte Lösung nicht funktioniert. Griechenland hat in den vergangenen fünf Jahren 216 Milliarden Euro an neuen öffentlichen Krediten bekommen, zusätzlich zu den 48 Milliarden aus der Druckerpresse, die sie sich damals schon genehmigt hatten und die durch die Target-Salden gemessen werden. Außerdem hat Griechenland im Jahr 2012 einen privaten Schuldenschnitt von 107 Milliarden Euro sowie einen öffentlichen von effektiv 43 Milliarden Euro erhalten. Das alles bei einem Bruttoinlandsprodukt von heute 184 Milliarden Euro. Und das Ergebnis ist: Wir sind mit der Wettbewerbsfähigkeit des Landes kaum einen Schritt weiter. Die Arbeitslosigkeit ist doppelt so hoch wie damals. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt über 50 Prozent. Wer kann denn mit klarem Kopf behaupten, dass das ein erfolgreicher Weg war?

MONEY: Aber in der politischen Debatte über die Lösung läuft doch noch alles so weiter wie bisher: Schuldenstreckung, längere Zeiträume . . .

Sinn: Doch dadurch entstehen in Griechenland keine Arbeitsplätze. Das ist Insolvenzverschleppung, sonst gar nichts. Dass die wachsende Austeritätsmüdigkeit der Griechen und die wachsende Rettungsmüdigkeit der Nordländer irgendwann mal kollidieren würden, war mir seit dem Beschluss der Rettungsaktionen im Jahr 2010 klar. Und der Zeitpunkt ist jetzt gekommen.

MONEY: Wenn Griechenland jetzt austritt und eine neue Drachme einführt, dann bleiben dem Land die Schulden doch in Euro?

Sinn: Nein, Finanzminister Varoufakis hat ja bereits öffentlich erklärt, dass Griechenland insolvent ist. Ein Teil der Schulden muss so oder so gestrichen werden.

MONEY: Erwarten Sie einen kompletten Schuldenschnitt?

Sinn: Nicht zu 100 Prozent, aber in großem Umfang und vermutlich in Zinsnachlässen versteckt.

MONEY: Welche wirtschaftlichen Folgen hätte ein Austritt für Griechenland?

Sinn: Nur wenn das Land aus der Euro-Zone austritt, hat es überhaupt noch die Chance, Außenhandelsüberschüsse zu erwirtschaften. Und nur diese würden es in die Lage versetzen, die restlichen Schulden zu bedienen bzw. nicht immer mehr Schulden im Ausland zu machen. Bleibt Griechenland im Euro, ist es hoffnungslos. Dann werden die Schulden nie zurückgezahlt.

MONEY: Es gibt zwei Argumente gegen den Austritt. Zum einen: Wenn Griechenland geht, dann könnten andere folgen, und der angeblich unauflösbare Bund wäre zerbrochen. Zum anderen: Es drohte die Verelendung Griechenlands infolge der hohen Schulden und der hochschnellenden Importpreise - eine neue Drachme dürfte ja etwa 50 Prozent abwerten.

Sinn: Die Ansteckungsgefahr ist heute geringer als vor fünf Jahren. Das kann man an den Zinsspreads gut sehen. Die sind aktuell nur für Griechenland hochgegangen, nicht für die anderen Länder. Das heißt: Die Finanzmärkte rechnen mit einem Austritt Griechenlands, aber nicht der anderen Problemländer. Eine Ansteckungsgefahr besteht aber nicht nur über die Finanzmärkte, sondern auch über die Politik in der Euro-Zone.

MONEY: Was meinen Sie damit?

Sinn: Wenn Griechenland mit seinen hohen Forderungen jetzt durchkäme, müsste man diese Forderungen auch den anderen Krisenländern erfüllen. Pablo Iglesias mit seiner neuen Partei Podemos in Spanien beobachtet alles ganz genau.

MONEY: Bleibt der zweite Einwand, dass Verelendung durch massive Preissteigerungen droht.

Sinn: Die Importpreise werden steigen. Das ist aber auch nötig, um die griechische Wirtschaft wieder gesunden zu lassen. Heute ist Griechenland Netto-Importeur von Agrarprodukten! Wenn die Importe teurer werden, werden die Griechen bei ihren Bauern kaufen, und die Bauern werden ihre Felder stärker bewirtschaften und neue Leute einstellen. Im Übrigen sollte man Griechenland Überbrückungshilfe für die Finanzierung des Imports lebenswichtiger Medikamente gewähren.

MONEY: Ein Selbstversorger-Agrarstaat wäre aber auch keine tragfähige Zukunftsvision.

Sinn: Auch die Touristen kämen aus der Türkei zurück. Viele ausländische Investoren kämen, um die Immobilien zu kaufen. Das würde einen Bauboom auslösen. Und dieser Bauboom würde sehr schnell Arbeitsplätze in der Binnenwirtschaft schaffen. Langfristig könnte man sogar erwarten, dass auch wieder Fabriken gebaut werden. Vielleicht kehrt auch die ehemals wichtige Baumwollindustrie zurück, die durch die Lohnerhöhungen dezimiert wurde.

MONEY: Wie bald erwarten Sie den Austritt Griechenlands - noch im Februar?

Sinn: Es wird sich noch im Februar einiges klären. Ich erwarte als Erstes eine Phase der Kapitalverkehrskontrollen, um die Banken vor weiteren Geldabflüssen zu schützen. Das finde ich im Übrigen viel besser, als - wie aktuell - für 65 Milliarden Euro ELA-Kredite zu vergeben und damit, wie anfangs beschrieben, Kapitalflucht zu fördern.

MONEY: Kapitalverkehrskontrollen gab es auch in Zypern 2013.

Sinn: Nachdem man ein Jahr lang mit Notfallkrediten im Umfang von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts Kapital-Fluchthilfe geleistet hatte. Später gab der damalige Notenbankpräsident zu, dass das nur geschah, weil man die Situation bis zur nächsten Wahl beruhigen wollte. Es war also eigentlich eine Konkursverschleppung.

MONEY: Reformen in Griechenland, wie sie eigentlich gebraucht werden, um das Land voranzubringen und neue Investoren anzulocken, fördern Sie aber durch all das Genannte auch nicht.

Sinn: Auch wenn die Reformen stattfinden, haben Sie noch nicht das Hauptproblem gelöst: dass Griechenland viel zu teuer ist. Griechenland hat doppelt so hohe Löhne wie Polen! Das Land muss runter von diesem Preisniveau, und das geht nur durch eine Preissenkung im Euro oder einen Austritt und die Abwertung der Drachme. Andere Möglichkeiten gibt es nicht. Nur so kommen die Investoren in das Land zurück.

MONEY: Was würde ein solch doch unerwartet früher Austritt der Griechen für den deutschen Steuerzahler und Sparer bedeuten?

Sinn: Der Austritt als solcher kostet uns nichts. Deutschland ist an den öffentlichen Krediten, die Griechenland über verschiedene Kanäle gewährt wurden, zu knapp 80 Milliarden Euro beteiligt. Einen Großteil dieses Geldes werden wir niemals wiedersehen, ganz egal, ob Griechenland im Euro bleibt oder austritt. Bleibt es im Euro, wird diese Summe immer größer werden, denn wir werden den Lebensstandard Griechenlands durch immer wieder neue Kredite, die anschließend erlassen werden, sichern müssen. Das ist ein Fass ohne Boden.

MONEY: Blicken wir nach vorn, und stellen wir uns vor, Griechenland hätte die Euro-Zone bereits verlassen. Ist der Euro danach in ruhigem Fahrwasser, oder sehen Sie weitere Probleme?

Sinn: Abgeschwächt haben wir ähnliche Probleme in Spanien und Portugal.

MONEY: Beide Länder haben die Reformauflagen erfüllt.

Sinn: Ja. Das ist ein Lichtblick. Aber Portugal hat in Sachen Preisabwertung in Relation zu den anderen Ländern nichts getan und durfte sich stark verschulden. In Spanien ist das Preisniveau der selbst erzeugten Waren heute in Relation zum Rest der Euro-Zone etwa um sechs Prozent gesunken - vergleichbar mit Griechenland. Das ist ein Fünftel dessen, was erforderlich ist.

MONEY: Warum gelingt die reale Abwertung durch Preissenkungen nicht?

Sinn: Die Gewerkschaften mauern, und die Schuldner kommen dann in Schwierigkeiten.

MONEY: 2015 finden in Europa viele Wahlen statt, unter anderem in Spanien und Portugal. Könnte da nicht ganz schnell eine vergleichbar kritische Lage wie jetzt in Griechenland herrschen?

Sinn: Ja, natürlich. Und das ist einer der Gründe dafür, warum die Euro-Zone gegenüber Griechenland hart bleiben sollte. Würde man jetzt nachgeben und Griechenland mit neuem Geld in der Euro-Zone halten, dann würde das alle Oppositionsparteien in den Problemländern stärken. Überall würde man das Gleiche verlangen.

MONEY: Mittlerweile leben wir ja in einer Finanzwelt, die auf den Kopf gestellt scheint. Die Zinsen sind negativ, und die EZB kauft für 1140 Milliarden Euro Anleihen. Ein Ende scheint nicht in Sicht - eher eine Ausweitung . . .

Sinn: Die Käufe sollen die überschuldeten Banken und Staaten Südeuropas retten. Außerdem sollen sie die Realwirtschaft retten, indem sie Deutschland zur Nachinflation zwingen. Da die Banken einen Teil des Geldes aus dem Verkauf der Staatspapiere ins Ausland tragen, wertet der Euro ab, und dadurch wird die Euro-Zone inflationiert. Wenn die Südländer gegenüber Deutschland bei der Inflation zurückbleiben, können sie ihre Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen. Unklar ist, ob sie das tun werden, und selbst wenn sie es tun, ist das insofern ein problematischer Weg, als die Sparer, die ohnehin bereits sehr viel Geld durch die Nullzinspolitik der EZB verlieren, nochmals gebeutelt werden. Ich verstehe, warum die südeuropäischen Vertreter im EZB-Rat dies wollen und mit ihrer Mehrheit gegen die Nordländer durchgedrückt haben, doch sehe ich die EZB mit einer solchen Politik hart am Rand der Legalität, denn eigentlich darf sie weder Inflation machen noch Staatspapiere kaufen.

MONEY: Aber ist nicht der niedrige Euro von Vorteil für die deutsche Exportwirtschaft?

Sinn: Ja, aber es gibt in Deutschland nicht nur Exporteure, sondern auch Konsumenten und Sparer, deren Lebensstandard durch die Verteuerung der Importe fällt. Deutschland hat einen Leistungsbilanzüberschuss von 7,5 Prozent der Wirtschaftsleistung. Das ist mit deutlich über 200 Milliarden Euro pro Jahr der weitaus größte der Welt. Wir akkumulieren für unsere Exportüberschüsse Schuldscheine im Rest der Welt und sind mittlerweile nach China das Land mit dem größten Nettoauslandsvermögen. Nur werden wir diese Schuldscheine vielfach nicht einlösen können. Wenn es zu viele sind, wird man sie uns im Zweifelsfall einfach um die Ohren hauen. Deutschland braucht eine Aufwertung statt einer Abwertung.

MONEY: Deutschland bräuchte auch höhere Zinsen, für andere sind sie noch nicht niedrig genug, die Schulden steigen weiter. Hält die Euro-Zone das dauerhaft aus?

Sinn: Nein, das sehe ich anders. Zinsen müssen die Bonität eines Landes widerspiegeln. Wer überschuldet ist, von dem verlangen die Gläubiger höhere Zinsen, und die höheren Zinsen verringern den Anreiz, sich noch mehr zu verschulden. Dieser Marktmechanismus ist in der Euro-Zone durch die Vergemeinschaftung der Haftung gegenüber den Gläubigern weitgehend außer Kraft gesetzt.

MONEY: Was meinen Sie? Deutschland lehnt doch eine Vergemeinschaftung von Schulden über gemeinsam begebene Anleihen, sogenannte Euro-Bonds, weiter ab.

Sinn: Nun, erst einmal hat die EZB im Rahmen des SMP-Programms für 223 Milliarden Euro Staatspapiere der Krisenländer gekauft und in eine gemeinschaftliche Haftung überführt. Sodann hat sie mit ihrem OMT-Programm, das vom deutschen Verfassungsgericht kritisiert wurde, für den Notfall den unbegrenzten weiteren Ankauf von Staatspapieren der Krisenländer angekündigt. Und nun sollen im Zuge des neuen QE-Programms 20 Prozent der erwähnten 1140 Milliarden Euro ebenfalls Papiere in gemeinschaftlicher Haftung erworben werden. Davon sind zwölf Prozent für Anleihen europäischer Institutionen wie der Europäischen Investmentbank gedacht. Und für acht Prozent soll sogar die EZB-Zentralbank in gemeinschaftlicher Haftung Papiere kaufen. Auch für die haften dann alle gemeinsam. Das sind alles Euro-Bonds, auch wenn sie nicht so genannt werden. Fallen die Einnahmen später mal aus, weil außer Griechenland noch andere Länder ihren Konkurs erklären, verringern sich die Zinseinkünfte im Euro-Pool, und alle beteiligten Notenbanken tragen die Verluste dauerhaft anteilig nach ihrer Größe.

MONEY: Was sind denn weitere Euro-Austrittskandidaten?

Sinn: Noch mal: Die Verluste entstehen nicht durch den Austritt, sondern mehr noch durch den Verbleib in der Euro-Zone. Alle südlichen Regierungen müssen sich zwischen einem harten Weg zur Wettbewerbsfähigkeit im Euro und einem Austritt entscheiden, oder Deutschland muss die mit einer Inflation verbundenen Wohlfahrtsverluste akzeptieren. Es liegt in der Natur der Falle, in die wir mit dem Euro gekommen sind, dass es keine einfachen Auswege mehr gibt.

MONEY: Griechenland sagt aber, dass es nicht austreten will.

Sinn: Keiner sagt das, doch jeder kalkuliert dies mit ein.

MONEY: Berlin und Brüssel werden in diesen Ländern als Schuldige der harten Austeritätspolitik gebrandmarkt . . .

Sinn: Zu Unrecht. Es sind die Märkte, die Austerität erzwingen, weil sie Griechenland kein Geld mehr geben. Die anderen Länder dagegen, allen voran Deutschland, geben Griechenland Geld und nehmen ihre Bürger dafür in Haftung. Eine Grenze für Kredite, die weit unter den Marktkonditionen gewährt werden, als Austerität zu verteufeln ist völlige Begriffsverwirrung.

MONEY: Kann doch gut sein, dass eine künftige spanische Regierung genauso handelt wie Tsipras in Griechenland.

Sinn: Mag sein. Aber Spanien können wir nicht so retten wie Griechenland, dazu ist es viel zu groß. Spanien hat Auslandsschulden in Höhe von 1000 Milliarden Euro - so viel wie die anderen fünf Euro-Krisenländer zusammengenommen.

MONEY: Dass der Euro nicht an Griechenland scheitert, war immer Konsens. Aber könnte dann nicht Spanien zum Sprengsatz werden?

Sinn: Eine unmittelbare Gefahr sehe ich für Spanien nicht. Die Märkte trennen hier sehr deutlich.

MONEY: "Scheitert der Euro, scheitert Europa", ist doch ein monetäres Merkel-Mantra. Ist das das Ende der Euro-Zone?

Sinn: Der Euro scheitert aber nicht, wenn jemand austritt. Viel eher wird er scheitern, wenn keiner austreten darf, denn das zwingt zur Schuldenvergemeinschaftung zur Übertünchung der Wettbewerbsprobleme. Die Schuldengemeinschaft führt zur Schuldenlawine, die alles mit sich davonreißen kann. Die ersten Jahrzehnte der USA sollten ein warnendes Beispiel sein.

MONEY: War die bisherige Euro-Rettungspolitik falsch? Gab es zu viel Geld und zu wenig Reformen?

Sinn: Schmerzhafte Reformen finden immer nur unter Druck statt, nicht wenn Geld fließt. Irland, das schon 2006 in die Krise kam, hat sich zum Beispiel durch Senkung der Löhne und Preise um 13 Prozent wieder wettbewerbsfähig gemacht, wächst wieder und feiert jetzt Exporterfolge.

MONEY: Sehen Sie Italien und Frankreich ähnlich pessimistisch wie Griechenland?

Sinn: In Italien wächst die Gesamt-Arbeitslosigkeit trendmäßig an, die der Jugendlichen liegt bei 43 Prozent. 2014 hatte das Land zum dritten Mal seit Krisenbeginn eine Rezession.

MONEY: Wie kam es zu diesem Desaster?

Sinn: Nachdem der Euro 1995 auf dem Gipfel von Madrid endgültig beschlossen wurde, kam es in Südeuropa zu Zinssenkungen, die Kreditblasen hervorriefen. Die Löhne der Staatsbediensteten wurden kreditfinanziert über den Produktivitätszuwachs der Wirtschaft hinaus gesteigert. Das trieb die Preise und zerstörte die Wettbewerbsfähigkeit. Noch immer sind diese Länder zu teuer und müssen billiger werden. Das geht nur unter den Mühen der Lohnzurückhaltung oder durch Austritte und offene Abwertung.

MONEY: Welche Zukunft sehen Sie für die Euro-Zone?

Sinn: Es wird eine lange und schwierige Phase der Anpassung der Wettbewerbsfähigkeit, die für die Südländer noch ein Jahrzehnt dauern wird. Wer diesen Weg gehen mag, soll ihn gehen. Wem das zu lange vorkommt, muss sich etwas anderes überlegen.

MONEY: Wie beurteilen Sie die weitere Verletzung der Schuldenkriterien des Stabilitätspakts? Der soll ja jetzt noch "flexibler" gehandhabt werden.

Sinn: Wir haben leider das Modell, dass man gegenseitig für die Schulden einsteht und dadurch die Zinsen senkt. Das fördert die Neigung zu hohen Schulden, weshalb man Schuldenschranken braucht. Doch diese werden nicht eingehalten. Besser wäre das ursprüngliche Maastricht-System mit der No-Bail-out-Klausel.

MONEY: Wie in den USA?

Sinn: Genau. Geht Kalifornien pleite, und die Gläubiger bekommen ihr Geld nicht, müssen weder der Bundesstaat noch Nebraska oder Florida helfen. Auch die Notenbank Fed kauft keine Staatspapiere von Kalifornien.

MONEY: Aber in Deutschland wird doch künftig alles besser. Ab 2016 haben sich Bund und Länder doch auf die Schuldenbremse geeinigt. Der Bund darf nur noch 0,35 Prozent Neuverschuldung, bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt, aufnehmen.

Sinn: Das ist ein Segen, und zum Glück hält sich die deutsche Regierung mit der schwarzen Null an diese Bremse. Allerdings gibt es insofern einen Wermutstropfen, als die vielen Schulden der Rettungsschirme, die ja indirekt auch Staatsschulden sind, gar nicht mitgezählt werden. Defizitrelevant sind diese Schulden alle nicht, und in die Schuldenquote gingen sie nur zu Anfang beim ersten Rettungsschirm EFSF ein. Danach hat die EU andere Rechtskonstruktionen gewählt, die es ermöglichen, Schattenhaushalte zu führen, die in den nationalen Haushalten nicht verbucht werden.

MONEY: Haben wir im alternden Deutschland nicht weitere Probleme? Die nachfolgenden Generationen haben neben den zusätzlichen Staatsschulden für die Euro-Rettung auch Rentenprobleme am Hals.

Sinn: Das ist eines der großen Pulverfässer. Zunächst wird die gesetzliche Rente nicht mehr reichen, weil wir viel zu wenige Kinder haben. Das Umlageverfahren funktioniert nicht mehr zur Sicherung des Lebensstandards wie all die Jahrzehnte zuvor. Darauf müssen sich die Deutschen einstellen.

MONEY: Das tun sie doch durch zusätzliche private Altersvorsorge, zum Beispiel mit der Riester-Rente . . .

Sinn: Auch die private Altersvorsorge wird große Probleme bekommen. Zum einen, weil die Banken und Versicherungen von ihren Schuldnern nicht alles zurückbekommen werden und dadurch die Rendite der Sparer sinkt. Zum anderen, weil durch das derzeit niedrige Zinsniveau der Zinseszinseffekt nahezu außer Kraft gesetzt wird. Das ist eine Folge der EZB-Politik zur Rettung des Euro. Bei einem Zinsniveau von sieben Prozent braucht eine Versicherung zehn Jahre, um das angelegte Kapital zu verdoppeln, bei einem Zinsniveau von 0,37 Prozent reicht ein ganzes Leben dazu nicht aus. Die niedrigen Zinsen treffen uns als größter Nettovermögensbesitzer nach China sehr massiv. Sie kosten die Deutschen in ihrer Gesamtheit etwa 60 Milliarden Euro jährlich.

MONEY: Und die Rettungsschirme? Drohen auch dort weitere Lasten?

Sinn: Ich befürchte, ja. Das wurde etwas verdeckt, aber tatsächlich nehmen die Rettungsschirme Geld im Namen der Länder Europas auf und verleihen es. Diese öffentlich vergebenen Kredite werden wir auch nicht alle zurückbekommen. Bis jetzt haften die Deutschen mit gut einem Viertel. Im schlimmsten Fall, wenn alle sechs Krisenländer als Schuldner ausfielen, würde Deutschlands Haftungsanteil auf 43 Prozent steigen.

MONEY: Sie kritisieren auch die Bankenunion, weil sie in Wirklichkeit eine Haftungsunion ist . . .

Sinn: Mit der Bankenunion sichern wir nicht nur die Staatsschulden der südlichen Länder ab, sondern grundsätzlich auch einen Teil der Schulden der Banken, die selbst bald dreimal so groß sind. Bislang ist es der Bundesregierung unter großen Mühen gelungen, Haftungsschranken einzubauen, die die Gefahren begrenzen, doch im Krisenfall werden die Begehrlichkeiten wieder größer werden.

MONEY: Das alles zusammen betrachtet: Droht den nachfolgenden Generationen in Deutschland also die Verarmung?

Sinn: Sicherlich werden die guten Zeiten vorbeigehen, wenn die Baby-Boomer, die jetzt 50 sind, in die Rente wollen. Das ist schon in 15 Jahren.

Interview von Frank Mertgen und Hans Sedlmaier