In ihrem Kern liegt die Ursache der Krise beim Rechtsinstitut der Haftungsbeschränkung, also dem Umstand, dass Gläubiger von Kapitalgesellschaften nicht auf das persönliche Eigentum der Inhaber dieser Gesellschaften zurückgreifen können. Die Haftungsbeschränkung führt zu einer systematischen Vernachlässigung von Katastrophenrisiken, also Ereignissen, die zwar zunächst nur mit kleiner Wahrscheinlichkeit auftreten, dafür aber riesige Verluste bringen. Investoren, die statt sicherer Projekte mit mäßigem Gewinn unsichere Projekte mit hohen Gewinn- und Verlustmöglichkeiten wählen, profitieren – weil sie einen Teil der möglichen Verluste gar nicht tragen müssen. Wenn die Dinge gut laufen, erzielt man den vollen Gewinn. Wenn die Dinge schlecht laufen, verliert man schlimmstenfalls das eingesetzte Eigenkapital, aber nicht mehr, weil ein Durchgriff auf das Privatvermögen ausgeschlossen ist. Diese Asymmetrie erzeugt Wagemut und Risikovorliebe. Es wäre voreilig, hieraus zu schließen, man müsse die Haftungsbeschränkung abschaffen, denn Wagemut hat ja auch sein Gutes. Die Haftungsbeschränkung wurde im 19. Jahrhundert in den USA und Europa eingeführt, um unkontrollierbare Belastungen der Anteilseigner zu vermeiden und den Unternehmen mutige wirtschaftliche Entscheidungen zu ermöglichen, die zu treffen sie sich andernfalls nicht getraut hätten. Erst dadurch erhielt der Kapitalismus die Möglichkeit, die Produktivkräfte der Volkswirtschaften zu entfesseln.
Bei hoher wirtschaftlicher Unsicherheit kann die Haftungsbeschränkung allerdings zum Problem werden, weil sie den Wagemut zum Glücksrittertum übersteigert. Wie immer geht es um eine Abwägung zwischen Vor- und Nachteilen und um das richtige Maß der Dinge. Das Problem des Glücksrittertums ist besonders gravierend, wenn die Kapitalgesellschaften selbst über das Ausmaß ihrer Haftung bestimmen dürfen, indem sie ihr Eigenkapital im Verhältnis zu ihrem Geschäftsvolumen nach eigenem Gutdünken wählen. Sie arbeiten dann in der Tendenz mit zu wenig Eigenkapital und schütten zu hohe Gewinnanteile an die Aktionäre aus. Die fünf großen US-Investmentbanken, von denen bisher drei der Krise zum Opfer fielen, haben hemmungslos auf diese Strategie gesetzt, frei nach der Devise, dass man nicht verlieren kann, was man nicht hat. Die Risiken schufen Anreize, das Eigenkapital zu minimieren, und die geringe Höhe des Eigenkapitals schuf Anreize, besonders hohe Risiken zu suchen. Im Wechselspiel zwischen diesen Anreizen liegt die eigentliche Ursache der Krise – und damit auch der Ansatzpunkt für Reformen.
Das Privileg der Haftungsbeschränkung ist nicht im Markt entstanden, sondern vom Gesetzgeber gewährt worden, und weil das so ist, muss der Gesetzgeber auch definieren, was er wirklich damit meint. Er kann die Definition nicht den Begünstigten selbst überlassen. Wie man gesehen hat, definieren sie die Beschränkung dann so, dass sie fast keinerlei Haftung mehr übernehmen. Die US-Investmentbanken, die der amerikanischen Bankenaufsicht nicht unterworfen waren, haben ihr Geschäft mit Kernkapitalquoten in der Gegend von vier Prozent betrieben, was viel weniger als die Quote ist, mit der private Geschäftsbanken operieren. Zudem haben sie sehr komplexe Kreditoperationen außerhalb ihrer Bilanzen durchgeführt und der Kontrolle ihrer Anleger entzogen.
Man mag entgegenhalten, dass das Glücksrittertum durch die Ratingagenturen vermieden werde. Die dahinter stehende Idee: Ratingagenturen erteilen bei übermäßigen Risiken schlechte Bewertungen, sodass die Banken gezwungen sind, für die selbst aufgenommenen Gelder höhere Zinsen zu zahlen. Insofern, so das Argument, helfe der Markt sich selber und erzeuge das richtige Maß an Vorsicht. Das klägliche Versagen der Ratingagenturen bei der jetzigen Krise zeigt aber, wie illusorisch dieses Argument ist. Die Agenturen haben nicht rechtzeitig gewarnt und ihre Triple-A-Bewertungen erst dann zurückgezogen, als es gar nicht mehr anders ging. Da sie selbst ihr Einkommen von den bewerteten Finanzinstitutionen erhalten und auf deren Gunst angewiesen sind, konnten sie es sich nicht leisten, die Wahrheit zu sagen. Fast bankrotte Großkunden der Agenturen in Amerika wurden schön geschrieben, während vergleichsweise robuste, aber kleinere Kunden in Europa abgewertet wurden. Auch die Kreditpakete mit Ansprüchen gegen amerikanische Hauseigentümer, die schon lange im Risiko standen, wurden auf diese Weise den deutschen Landesbanken weit über Wert angedient.
Der beste Beweis dafür, dass die Ratingagenturen und andere Informationskanäle nicht funktionieren und außerstande sind, die Käufer von Bankschuldverschreibungen und Kreditpaketen über die wahren Verhältnisse aufzuklären, liegt in dem Umstand, dass Eigenkapital auf dem Kapitalmarkt stets viel teurer ist als Fremdkapital. Wären die Käufer von Bankschuldverschreibungen über die Rückzahlungswahrscheinlichkeiten korrekt informiert, würden sie risikogerechte Zuschläge auf die Zinsen oder Abschläge auf die Preise dieser Schuldverschreibungen verlangen, die das Fremdkapital für die Banken genauso teuer wie das Eigenkapitel machen. Die Finanztheorie bezeichnet diese Erkenntnis nach ihren Urhebern als Modigliani-Miller-Theorem. Davon kann aber in der Praxis nicht die Rede sein. Jeder nutzt die Hebelwirkungen billigen Fremdkapitals bis zu dem Limit, das die Ratingagenturen setzen, um dem Eigenkapital höhere Erträge zu verschaffen. Wer es nicht tut und durch höhere Kapitalunterlegung die Rückzahlungswahrscheinlichkeit für die verkauften Finanzprodukte steigert, wird dafür vom Kapitalmarkt nicht belohnt.
Bankschuldverschreibungen und verbriefte Risikopakete sind mit einer Kaskade verschachtelter Rechtsansprüche verbunden, an deren Ende irgendwo ein reales Investitionsprojekt steht. Es sind Produkte, bei deren Bewertung selbst Fachleute überfordert sind. Fast nie können die Käufer die tatsächliche Rückzahlungswahrscheinlichkeit richtig einschätzen. Nur die Verkäufer, die die verbrieften Pakete zusammenstellen, wissen in etwa, was sie verkaufen. Die Bankprodukte sind in der Sprache der Ökonomen Lemon-Güter, also Güter, deren Qualität von den Käufern beim Kaufakt nur unvollständig beobachtet werden kann und die deshalb zumeist in minderwertiger Qualität angeboten werden. Die Anbieter nutzen die mangelnde Information der Käufer aus, indem sie ihre Kosten zulasten der Qualität vermindern, weil sie wissen, dass die Käufer sie dafür nicht durch Preisabschläge oder Kaufzurückhaltung bestrafen können. Die Qualität sackt ab und ist niedriger als jene Qualität, die sich auf einem Markt mit informierten Käufern einstellen würde. Um Lemon-Märkte zu verhindern, haben die meisten Länder zum Beispiel ein Lebensmittelrecht, das Untergrenzen für die Qualität der Lebensmittel in Form von Höchstgrenzen für gesundheitsgefährliche Inhaltsstoffe vorlegt. Bei Pharmazeutika wird die Mindestqualität sogar durch Zulassungsverfahren gesichert. Auch die Kredite, die in den USA an die Hausbauer vergeben werden und am Ende der Anspruchskaskade stehen, sind Lemon-Produkte. Einerseits sind in den USA viel höhere Verschuldungsquoten üblich als in Deutschland. Andererseits haben die Banken vielfach keine Durchgriffshaftung auf das Privatvermögen oder Arbeitseinkommen der Hausbesitzer wie in Deutschland. Wenn es dem Hausbesitzer nicht mehr passt, kann er den Schlüssel seines Hauses bei der Bank abgeben und ist seine Rückzahlungsverpflichtungen los. Im Bewusstsein dieser Haftungsbeschränkung haben sich in den USA die Hausbesitzer viel zu waghalsig an Immobilienprojekte herangetraut, die sie nur im Fall immer weiter wachsender Hauspreise schultern konnten. Die Immobilienblase, die vor anderthalb Jahren zu platzen begann und die Bankenkrise nach sich zog, ist auf diese Weise entstanden.
Die Amerikaner haben sich über das letzte Vierteljahrhundert, seit der Zeit von Präsident Reagan, zunehmend im Ausland verschuldet und sich ein schönes Leben gemacht. Sie ließen ihre Investitionen durch das aus dem Ausland hereinströmende Kapital finanzieren und anstatt zu sparen, verließen sie sich darauf, dass ihr Immobilienvermögen immer wertvoller wurde. Das Defizit der Leistungsbilanz, also der Überschuss der importierten Waren und Leistungen über die Exporte, erreichte in der Spitze einen Wert von 5,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Es wurde mit immer raffinierter konstruierten Anlageobjekten finanziert, die mit dem Stempel der Ratingagenturen zertifiziert waren, bis auch der letzte Investmentmanager der deutschen Landesbanken merkte, welcher Schrott hier verkauft wurde. Das Verwirrspiel ist jetzt zu Ende. Die schmerzhafte Erfahrung, dass die teuren Value-at-Risk-Modelle der Investmentbanker genauso wenig taugen wie die Ratings der Agenturen blieb keiner europäischen Bank erspart.
Die Politik muss sich nun endlich der Aufgabe stellen, die gesetzliche Haftungsbeschränkung der Kapitalgesellschaft zu definieren, indem sie strenge Mindestanforderungen für Eigenkapitalunterlegungen bei den verschiedenen Geschäftstypen der Banken festlegt – sowohl in Amerika als auch in Europa. Strengere Vorschriften sind kein Nachteil für die Wirtschaft, denn das scheinbar so viel teurere Eigenkapital, dessen Verwendung man damit erzwingt, ist volkswirtschaftlich nicht teurer als Fremdkapital, wie die Lasten, die nun auf den amerikanischen Staat zukommen, beweisen. Es kann auf diese Weise auch keine Knappheit an Finanzierungsmitteln entstehen, denn die Ersparnis der Welt reicht unabhängig von solchen Vorschriften gerade aus, die Investitionen zu finanzieren. Im Einzelnen sollte Folgendes geschehen:
1. Die USA müssen sich endlich an internationalen Vereinbarungen zur Harmonisierung der Bankenaufsicht beteiligen. Diese Vereinbarungen können sich am Basel-II-System orientieren, das staatlich zu kontrollieren ist.
2. Europa braucht ein gemeinsames System der Finanzaufsicht. Dabei muss jeder Staat für die Verluste seiner eigenen Banken aufkommen.
3. Investmentbanken, Hedgefonds und Private-Equity-Gesellschaften müssen den gleichen Regeln unterworfen werden wie die Geschäftsbanken.
4. Haftungsbeschränkungen bei Hypotheken und ähnlichen Immobilienkrediten sind aufzuheben.
5. Conduits und anderen Konstruktionen zur Auslagerung des Investmentbanking-Geschäfts aus den Bankbilanzen sollten so beschränkt werden, dass die eingegangenen Risiken in den Bankbilanzen transparent werden.
Wer dem den Ruf nach freien Märkten entgegensetzt, ohne die die Marktwirtschaft nicht bestehen könne, verwechselt Marktwirtschaft mit Anarchie. Die Marktwirtschaft kann nur funktionieren, wenn sie Verkehrsregeln unterworfen ist. Das bürgerliche Gesetzbuch ist voller Regeln, die private Verträge beschränken. Nur eine Teilmenge der Verträge, die eine unkontrollierte Marktwirtschaft entwickeln würde, ist erlaubt, und genau deshalb funktioniert das System. Europa und die Welt brauchen strengere Regeln für den Finanzverkehr. Solche Regeln bedeuten keinen Systembruch. Sie sind für das Funktionieren der Finanzkapitalmärkte unerlässlich.
Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts
Erschienen unter dem Titel „Ende des Verwirrspiels“, WirtschaftsWoche, Nr. 42, 13. Oktober 2008, S. 64-65; ebenso abgedruckt in CESifo Forum 9(4), 2008.