ifo Standpunkt Nr. 114: Knacks im Geschäftsmodell

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 09. Juni 2010

Griechenland erhält nun viel Geld - doch lange nicht so viel, wie die Kapitalmärkte bislang bereitgestellt haben. Das Land muss eisern sparen, und so geht es auch den anderen Sündern. Portugal, Irland und Spanien werden ihren Kapitalimport wegen der steigenden Zinsaufschläge, die die Anleger verlangen, ebenso reduzieren müssen wie die USA, deren Mogelpapiere keiner mehr haben will. Der Markt für die Verbriefung von Hypothekarkrediten, der im Jahr 2006 noch ein Volumen von 1,9 Billionen Dollar hatte, ist bis zum letzten Jahr um 97 Prozent eingebrochen. Damit ist die wesentliche Finanzierungsquelle für das amerikanische Leistungsbilanzdefizit verschwunden. Reihenweise sind die Geschäftsmodelle der Schuldnerstaaten kollabiert.

Auch Deutschlands Geschäftsmodell hat einen Knacks bekommen. Der Kreditverkauf von Autos und Ausrüstungsgütern ist kein valides Geschäftsmodell mehr, weil der Kreditfluss von nun an blockiert ist. Deutschland muss die Waren, die es herstellt, wieder selber kaufen. Die dazu nötige Steigerung der Binnennachfrage wird über den Kapitalmarkt zustande kommen. Wegen der neuen Angst vor unsicheren Kreditnehmern werden die Banken die Ersparnisse der Deutschen in Zukunft nicht mehr überwiegend ins Ausland tragen, sondern wieder verstärkt der deutschen Industrie als Kredit zur Verfügung stellen. Jüngste ifo-Umfragen signalisieren bereits, dass die Unternehmen weniger Kreditprobleme haben als noch vor wenigen Monaten.

Die Abschreibungen auf toxische US-Papiere und die damit einhergehenden Eigenkapitalverluste haben die Banken bei der Kreditvergabe gebremst. Es sieht aber so aus, als würde dieser Effekt durch verringerte Auslandsanlagen der deutschen Banken überkompensiert. Das ist zu begrüßen. Damit würde sich jetzt eineinhalb Jahrzehnte währender Entwicklungstrend umkehren, der Deutschland zu schaffen machte, aber Schuldnerländern einen künstlichen Wirtschaftsboom bescherte.

Ob Griechenland, die USA, Portugal, Irland oder Spanien: All diese Länder durchlebten in den Jahren vor der Krise einen kreditfinanzierten Wirtschaftsboom. Ob es die Erfindungskraft der US-Finanzjongleure war oder der vermeintliche Schutz des Euro: Stets gelang es den Schuldnern, den ausländischen Anlegern hohe Renditen vorzugaukeln und ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Das Geld wurde verwendet, um einen Konsumboom zu erzeugen und die Bauinvestitionen anzukurbeln. Selbst hat man fast gar nichts mehr gespart. In Griechenland und den USA ging die Sparquote gegen Null. Das Geld für öffentliche und private Investitionen kam aus dem Ausland. Die Investitionen trieben das Wachstum, aber wie stets stimulierten sie die Nachfrage mehr als sie das Angebot erhöhen konnten und überhitzten die Wirtschaft. Löhne und Preise stiegen. Die Länder verloren ihre Wettbewerbsfähigkeit, was sich an den gigantischen Außenhandelsdefiziten niederschlug. Diese Defizite waren das notwendige Pendant der Kapitalzuflüsse. Definitorisch entspricht ja ein Leistungsbilanzdefizit dem Kapitalimport eines Landes, wenn man von ausländischen Geschenken absieht.

In Deutschland war alles genau umgekehrt. Wir haben unser Geld verliehen, statt es zu investieren. Von 1995 bis zum Ausbruch der Krise im Jahr 2008 hatte Deutschland eine durchschnittliche Nettoinvestitionsquote von nur 5,3 Prozent bezüglich des Nettoinlandsprodukts. Das war die niedrigste Quote aller OECD-Länder. 2008 hat Deutschland über alle Sektoren gerechnet (Haushalte, Unternehmen und Staat) 277 Milliarden Euro gespart, soviel Geld stand für Nettoinvestitionen zur Verfügung. Tatsächlich wurden aber nur 111 Milliarden Euro neu investiert. Der Löwenanteil der Ersparnis, 166 Milliarden Euro, wanderte als Kapitalexport ins Ausland, allzu häufig über die dubiosen Geschäfte der Landesbanken, denen offenbar kein Risiko groß genug sein konnte.

Die Folge der Kapitalexporte, also die Übertragung der Verfügungsrechte für ökonomische Güter, war, dass Deutschland von 1995 bis 2008 die nach Italien niedrigste Wachstumsrate aller EU-Länder hatte. So wie die anderen Länder durch den Kreditfluss künstlich aufgebläht wurden, erschlaffte unser Land durch den Abfluss. Es gehört zu den fast schon tragisch zu nennenden Denkfehlern der öffentlichen Diskussion, dass der Abfluss von Finanzkapital, der zwangsläufig auch ein Abfluss von Gütern ist, von Politikern und Journalisten als Exportweltmeisterschaft und Zeichen der Stärke Deutschlands bejubelt wurde. Wenn einem Land das Kapital wegläuft und es deshalb abschlafft, ist seine Inflationsrate gering, und es entsteht ein Außenhandelsüberschuss. Deutschland war ein solches Land. Es hatte nicht nur die niedrigste Investitionsquote aller OECD-Länder, sondern genau deshalb auch die niedrigste Inflationsrate im Euro-Raum.

Mit den Kapitalexporten geht es nun zum Glück zu Ende. Mit dem Geld seiner eigenen Sparer kann Deutschland mittelfristig, wenn sich die unmittelbaren Folgen der Krise verflüchtigt haben, einen Wirtschaftsboom finanzieren, wie ihn die Schuldnerländer mit fremdem Geld zuwege brachten. Nur Zahlenfetischisten kann in Besorgnis versetzen, dass dabei der Außenhandelsüberschuss fällt. Ein sinkender Überschuss ist kein Problem, sondern ein Segen, denn er resultiert aus der relativen Standortverbesserung des Landes. Den Kapitalmärkten sei Dank, dass sie den Schuldensündern endlich den Kredithahn zudrehen.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel „Knacks im Geschäftsmodell“, Wirtschaftswoche, Nr. 19, 10. Mai 2010, S. 38.