Nun endlich hat das Bundesverfassungsgericht seine lang erwartete Stellungnahme zum OMT-Programm der EZB abgegeben. Dieses Programm (Outright Monetary Transactions) sieht vor, dass die EZB die Staatspapiere eines Krisenlandes ein bis drei Jahre vor ihrer Fälligkeit aufkaufen kann, falls sich das Land den Regeln des Rettungsfonds ESM unterwirft.
Tausende von Deutschen hatten gegen das OMT geklagt, weil es nach ihrer Meinung Artikel 123 des EU-Vertrags widerspricht, der eine monetäre Staatsfinanzierung verbietet, und weil sie befürchten, als Steuerzahler bei einem Staatskonkurs die Zeche bezahlen zu müssen. Das Gericht hat den Klägern nun Recht gegeben. Es stellt fest, dass das OMT das Primärrecht der EU verletzt.
Doch statt dazu ein rechtskräftiges Urteil zu formulieren, um die Bundesbank zum Ausstieg aus dem Programm zu zwingen, erbat das Gericht zunächst eine Meinung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) weiter. Auf den ersten Blick erlaubt diese Entscheidung den Märkten aufzuatmen, weil der EuGH dazu neigt, die Position europäischer Instanzen zu vertreten. Doch so einfach ist es nicht.
Das Verfassungsgericht hat den Fall nämlich nicht aus der Hand gegeben. Es hat nicht auf sein Recht verzichtet, das letzte Urteil darüber zu sprechen, ob die Aktionen einer EU-Institution mit dem Grundgesetz kompatibel sind. Wenn es zu der Meinung kommen sollte, dass der EuGH den EU-Vertrag in einer Weise interpretiert, die der deutschen Verfassung nicht gerecht wird, hat es das Recht, von Bundestag und Regierung eine Neuverhandlung der Verträge zu verlangen und ein Referendum anzuordnen.
Daher bittet das Verfassungsgericht den EuGH nicht zu entscheiden, ob das OMT mit dem EU-Recht kompatibel ist, sondern eine Begrenzung des OMT zu verfügen, die die bislang nicht vorhandene Kompatibilität herstellt. Das Verfassungsgericht selbst bringt dazu eine Volumenbegrenzung ins Spiel sowie Regeln, die ausschließen, dass die EZB im Falle eines Staatskonkurses von einem Schuldenschnitt betroffen wäre.
Letzteres impliziert, dass die EZB Vorrang vor privaten Schuldnern genießt, wie es beim ersten griechischen Schuldenschnitt im Frühjahr 2012 der Fall war. Das würde das OMT zu Fall bringen, denn seine Wirkung beruht ja gerade darauf, dass die EZB statt der privaten Anleger die Lasten des Staatskonkurses trägt. Die bei einigen Anlegern aufkommende Euphorie ist deshalb verfrüht.
Die Entscheidung, den Fall dem EuGH vorzulegen, reduziert die Wirksamkeit des OMT auch deshalb, weil die EZB es vor einer solchen Entscheidung schwerlich wagen wird, Staatspapiere zu kaufen. Sie würde sich damit ja der Chance berauben, dass der EuGH eine Begrenzung des OMT mit der Begründung ablehnt, dass das Programm noch nicht aktiviert wurde.
In der Sache liegt das Bundesverfassungsgericht richtig. In der Tat kann das OMT zu einer massiven Vermögensumverteilung zwischen den Völkern Europas führen. Abschreibungsverluste auf Staatspapiere würden voll auf die Steuerzahler durchschlagen, da die Verluste des EZB-Systems sich in Form verminderter Ausschüttung von Geldschöpfungsgewinnen zeigen würden. Und natürlich müssten sie für die Transferprogramme aufkommen, die zur Vermeidung solcher Abschreibungsverluste aufgelegt würden.
Sicher, das OMT hat die politische Situation beruhigt, weil es das Risiko des Staatskonkurses von cleveren Anlegern auf gutgläubige Steuerzahler übertrug. Aber das ist kein rechtlich relevanter Aspekt. Allerdings ist dem Verfassungsgericht zuzustimmen, wenn es sich auf den Standpunkt stellt, der Kauf von europäischen Staatspapieren sei keine Geldpolitik und verletze das Mandat der EZB.
Auch liegt das Gericht richtig, wenn es sich gegen eine Politik der Verminderung von internationalen Zinsunterschieden in der Eurozone unter dem Deckmantel der Geldpolitik wendet. Zinsunterschiede sind ein zentrales Steuerungsinstrument der Marktwirtschaft. Wenn ein Staat sich stärker verschuldet, muss er höhere Zinsen zahlen, weil seine Konkurswahrscheinlichkeit steigt – genau deshalb hütet er sich, zu viele Schulden aufzunehmen.
Die Schwierigkeiten der Südländer entstanden aus einer inflationären Kreditblase, die sie ihrer Wettbewerbsfähigkeit beraubte und auf fehlende Zinsunterschiede zurückzuführen war. Zinsunterschiede, inklusive solcher, die aus einem Euro-Austritt und einer Abwertung zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit resultieren, sind aber essenziell für die langfristige Überlebensfähigkeit und Stabilität einer Währungsunion.
Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts
Erschienen unter dem Titel “Und Karlsruhe entscheidet doch”, Handelsblatt, Nr. 29, 11. Februar 2014, S. 48; sowie unter dem Titel “Outright Monetary Infractions”, Project Syndicate.