ifo Standpunkt Nr. 163: Das Eurosystem ist wie eine Aktiengesellschaft

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 18. März 2015

In den Medien treten immer wieder Stimmen auf, die versuchen, die These zu entkräften, dass mögliche Verluste der Europäischen Zentralbank (EZB) aus dem Kauf von Staatschuldtiteln auf die Steuerzahler durchschlagen. Ihre Bilanz sei eine Fiktion. Sie könne sich Einkommen quasi aus dem Hut zaubern. Die bösen “Nationalkonservativen” schürten die Ängste der Bürger, weil sie dies nicht verstünden. In Wahrheit führten Verluste der EZB “lediglich” zu Verminderungen der Gewinnauszahlungen an die Mitgliedsländer.

Hat also das Verfassungsgericht Unrecht, wenn es im unbegrenzten Ankauf der Staatsanleihen der Krisenländer im Rahmen des OMT-Programms oder auch in den Käufen im Rahmen des SMP-Programms ein Haftungsrisiko für die Steuerzahler sieht? Und haben Bundesbank und Bundesregierung vergebens darum gekämpft, die Gemeinschaftshaftung zumindest für 80 Prozent der Käufe im Zuge des neuen QE-Programms auszuschließen? Hat sich die EZB auf eine “deutsche Irrationalität eingelassen”, wie manchmal argumentiert wird?

Davon kann nicht die Rede sein. Das Eurosystem ist mit Ausnahme der Stimmrechtsverteilung wie eine Aktiengesellschaft konstruiert, die den Staaten der Eurozone gehört. Diese Aktiengesellschaft macht Gewinne aus der Anlage des Eigenkapitals sowie aus dem Erwerb verzinslicher Kreditforderungen und Wertpapiere mit selbst geschaffenem Geld. Würden die Zentralbanken an der Börse gehandelt, dann hätten sie einen Markt- oder Gegenwartswert, der sich wie bei jeder anderen Aktiengesellschaft aus den zukünftigen Gewinnausschüttungen herleitet.

Dementsprechend führen heutige konkursbedingte Abschreibungen auf die Anleihen eines Staates gleich oder später zu einer Verringerung der Gewinnausschüttungen an die Staatengemeinschaft und senken den Gegenwartswert dieser Ausschüttungen genau um diese Abschreibungen. Die “Aktionär-Staaten” müssen dann entweder die Steuern erhöhen oder die Staatsausgaben senken. Zu behaupten, das sei kein Problem, weil ja “lediglich” Gewinne entfallen, ist ein Euphemismus. Was würde denn ein echter Aktionär sagen, wenn man ihm “lediglich” einen Teil seiner Gewinnausschüttungen wegnähme?

Richtig ist, dass die Steuerzahler keine Nachschusspflicht haben, um Gewinneinbrüche auszugleichen. Aber auch das ist bei jeder echten Aktiengesellschaft genauso, ohne dass es bedeuten würde, dass die Aktionäre eine Verminderung der Dividenden nicht als Verlust empfinden würden. Natürlich tragen sie die Gewinneinbrüche trotzdem in vollem Umfang.

Aber geht es vielleicht nur um Peanuts? Leider ist auch das nicht der Fall. In statischer Rechnung, also dann, wenn die Geldmenge im Zeitablauf konstant bliebe, liegt der Gegenwartswert der potenziell im Risiko stehenden Gewinnausschüttungen des EZB-Systems genau bei der Summe aus der Zentralbankgeldmenge und dem Eigenkapital. Das gilt unabhängig davon, wann und wie schnell sich die derzeit sehr niedrigen Zinsen wieder normalisieren. Ende des Jahres 2014 betrug die Zentralbankgeldmenge 1.317 Milliarden Euro, und das Eigenkapital inklusive der Bewertungsreserven lag bei 425 Milliarden Euro. Das verteilbare Vermögen betrug also 1,742 Billionen Euro. Wenn man will, kann man hiervon noch die Mindestreserve abziehen, die die EZB den Banken derzeit verzinst, aber nicht verzinsen muss. Dann kommt man auf 1,636 Billionen Euro. Das ist etwa so viel, wie die deutsche Vereinigung bislang an Nettotransfers durch das Staatsbudget gekostet hat. Unterstellt man gar ein laufendes Anwachsen der Geldmenge im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung, so kommt man, wie der Chef-Ökonom der Citibank, Willem Buiter, ausgerechnet hat, auf ca. 3,4 Billionen Euro. Eine Summe, die Begehrlichkeiten weckt. Deutschland steht von dieser Summe ein gutes Viertel zu, also knapp 900 Milliarden Euro. Es trägt folglich auch ein Viertel der Abschreibungsverluste im Rahmen der bisher schon realisierten oder im Rahmen des OMT-Programms versprochenen Staatspapierkäufe. Außerdem haftet es für ein Viertel des zwanzigprozentigen Anteils der Käufe im Rahmen des neuen QE-Programms, die in die gemeinschaftliche Haftung fallen.

Nun könnte man argumentieren, die Verluste seien irreal, weil sich die EZB jederzeit Geld nachdrucken könne, um neue Wertpapiere am Markt zu erwerben und so die ausgefallenen Zinsen zu ersetzen. Aber das hieße nur, dass sie die Geldmenge erhöht, mehr Inflation erzeugt und einen Teil der Verluste auf die Geldbesitzer verlagert. Wäre die Höhe der Geldmenge einerlei, dann hätten sich die Steuerzahler ja schon vorher nach Belieben auf diese Weise bereichern können. Nein, auch die EZB kann keine Einkommen aus dem Hut zaubern. Irgendwen treffen die Abschreibungsverluste immer. Nichts ist umsonst. Das ökonomische Schlaraffenland, das manchen vorschwebt, gibt es nicht.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen als “Das Eurosystem ist wie eine Aktiengesellschaft”, Der Tagesspiegel, 11. Februar 2015, S. 16; sowie in ähnlicher Form als “Why the Taxpayer is on the Hook” bei VoxEU.