ifo Standpunkt Nr. 24: Zurück zur Natur

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 27.04.2001

Als bei den ersten BSE-Fällen in Deutschland jeweils die gesamte Herde des betroffenen Hofes getötet wurde, war der Protest der Landwirte groß. Als jedoch die Europäische Union eine Tötung von 400 000 Rindern verlangte, um das Angebot zu verknappen und dadurch die Fleischpreise zu stützen, da regten sich nur die Tierschützer auf. Auch die schwiegen schließlich, als die Massenschlachtungen zur Eindämmung der Maul- und Klauenseuche begannen, die zum Glück der EU ganz nebenbei auch noch den Preisverfall stoppten.

Einmal mehr wurde klar: Der Europäischen Union geht es vor allem um die Interessen und Profite der Landwirtschaft. Verbraucher haben in Brüssel keine Lobby. Die Horrorbilder von brennenden Tierkadavern zeigen in krisenhafter Zuspitzung das Versagen der europäischen Agrarpolitik. Marktwidrige Eingriffe in den Preisbildungsprozess haben in Brüssel eine lange Tradition. Schon seit mehreren Jahrzehnten verursachen sie riesige Wohlfahrtsverluste. Inzwischen zeichnet sich der europäische Agrarmarkt weniger durch das freie Spiel der Marktkräfte aus als durch massive staatliche Eingriffe. Diese erhöhen auf künstliche Weise die Preise - zu Gunsten der Bauern und zu Lasten der Verbraucher. Flexible Abgaben bei der Einfuhr landwirtschaftlicher Güter nach Europa fangen jeden Preisvorsprung ausländischer Anbieter ab; Mindestpreise zwingen die Verbraucher, erhebliche Gewinnaufschläge auf die Produktionskosten zu zahlen; Mengenkontingente verbunden mit Abschlacht- und Stilllegungsprämien flankieren die Hochpreispolitik.

Und wenn all das nicht hilft, kauft die Europäische Union das überschüssige Angebot auf, treibt dadurch die Preise hoch und verkauft dann die Produkte zu Schleuderpreisen auf dem Weltmarkt, denaturiert sie zu minderwertigen Produkten oder vernichtet sie zur Gänze. Das alles sind absurde Eingriffe, die sich für eine Marktwirtschaft nicht gehören. Eine derartige Agrarpolitik verschlingt massenweise Steuergelder, aber das ist noch das Geringste. Viel schwerer wiegen die riesigen Wohlfahrtsverluste, die sie zur Folge hat. Gerade den ärmeren Mitbürgern, die einen verhältnismäßig hohen Anteil ihrer Einkommen für Nahrungsmittel ausgeben, raubt die EU-Agrarpolitik einen Gutteil ihrer Realeinkommen. Anders ausgedrückt, die Hochpreispolitik lenkt so manche Mark aus der Renten- und Sozialhilfekasse in die Taschen der Landbesitzer um, die oft gar keine Bauern sind.

Gleichzeitig hat diese Politik eine übermäßige Intensivierung der Landwirtschaft zur Folge. Je höher die Preise, desto mehr lohnt sich die Maschinisierung, desto größer ist der mit importierten Futter hochgepäppelte Viehbestand pro Hektar, desto mehr Dünger verwenden die Bauern und desto größer sind die Umweltschäden, die die Landwirtschaft anrichtet. Mittlerweile sind zahlreiche Äcker zu Gülle-Abladeflächen verkommen, im Grundwasser reichern sich gefährliche Nitrate an, und den Sonntagsspaziergang im Grünen kann man nicht mehr antreten, ohne zuvor die Windrichtung zu prüfen.

Um dies alles rückgängig zu machen oder zumindest künftig zu verhindern, gibt es nur einen Ausweg: Die europäische Agrarwirtschaft muss wieder eine Marktwirtschaft werden. Das gesamte Instrumentarium der verschiedenen Interventionen gehört abgeschafft, und der internationale Handel mit landwirtschaftlichen Produkten muss liberalisiert werden. Als Folge würden überall in Europa sehr schnell die Preise für landwirtschaftliche Produkte sinken. Das käme erstens den Verbrauchern zugute, allen voran den Beziehern niedriger Einkommen, die fortan mehr Geld für andere wichtige Ausgaben zur Verfügung hätten. Zweitens würde die hiesige Landwirtschaft wieder zu den weniger intensiven und umweltfreundlicheren Produktionsmethoden der Vergangenheit zurückkehren. Drittens hätten die Entwicklungsländer endlich eine Chance, jene Güter zu fairen Bedingungen nach Europa zu liefern, bei deren Produktion sie einen komparativen Kostenvorteil haben. Zurück zur Natur ist die Devise - und das geht nur mit niedrigeren Preisen für Agrarprodukte, bedeutet also: Zurück zum Markt.

Das heißt nicht, dass man künftig darauf verzichten muss, die Landwirte mit staatlichem Geld zu unterstützen. Nur sollte man dies nicht über eine Hochpreispolitik tun. Viel sinnvoller wäre statt dessen, die Bauern gezielt für landschaftspflegerische und kulturerhaltende Aufgaben zu bezahlen. Die moderne maschinisierte Landwirtschaft hat mit dem ursprünglichen bäuerlichen Kulturgut kaum noch etwas gemeinsam. Dabei ist dieses Kulturgut in hohem Maße schützenswert, denn es ist die Basis der nationalen Kultur überhaupt, und stellt eine wertvolle Brücke zu den Werten und Kenntnissen vergangener Epochen dar. Will man es in einer intakten Natur erhalten, dann muss sich die Brüsseler Agrarpolitik um 180 Grad wenden.

Hans-Werner Sinn
Präsident des ifo Institut

Der Standpunkt erschien unter dem Titel "Marktpreis statt Massentötung" in Die Zeit Nr. 18 vom 26. April 2001, S. 23.