Nach der Osterweiterung der EU ist sicherlich mit einer erheblichen Zuwanderung zu rechnen. Es wäre aber verfehlt, aus der schieren Größe des Wanderungsvolumens einen 'möglichen Politikbedarf herleiten zu wollen. Kleine Zahlen können das sinnvolle Maß überschreiten, und große können es unterschreiten. Solange man das Optimum nicht beziffern kann, lässt sich aus den prognostizierten Wanderungszahlen keine Empfehlung für die Migrationspolitik herleiten.
Vom Grundsatz her ist die Zuwanderung eines Teils der osteuropäischen Bevölkerung für Deutschland und für die osteuropäischen Beitrittsländer eine gute Sache. Sofern sie nämlich durch die Lohndifferenzen zwischen den Ländern angetrieben wird, führt die freie Wanderungsentscheidung für alle Länder zu Wohlfahrtsgewinnen. Das Herkunftsland gewinnt, weil der Lohnzuwachs der Einwanderer die Wanderungskosten übersteigt, und das Zielland gewinnt, weil ihr Lohn unter der Wertschöpfung liegt, die sie erzeugen. Eine Westwanderung aus den Transformationsgebieten, zumal eine solche, die sich im Zuge des wirtschaftlichen Fortschritts später von allein korrigiert, ist das Kennzeichen einer sinnvollen Transformationsstrategie. Es wäre gut gewesen, wenn man diesen Grundsatz schon bei der deutschen Vereinigung bedacht hätte. Keine ökonometrische Schätzung ist erforderlich, um diese Aussage zu treffen.
Zwei Probleme darf man aber nicht übersehen. Erstens kann es sein, dass die Zuwanderung auf einen verkrusteten Arbeitsmarkt mit starren Löhnen trifft und deshalb Einheimische in die Arbeitslosigkeit verdrängt. Zweitens ist nicht auszuschließen, dass ein Teil der Zuwanderung nicht nur durch Lohndifferenzen, sondern auch durch Differenzen in den Sozialsystemen angetrieben wird. Beide Probleme stellen den gemeinsamen Wanderungsgewinn in Frage und rufen geeignete Politikmaßnahmen auf den Plan.
Besonders problematisch ist eine Verfälschung der Wanderung durch das Sozialsystem. Die Geschenke des umverteilenden Staates führen zu einem Übermaß an Zuwanderung und bergen die Gefahr einer Erosion der westeuropäischen Sozialstaaten, weil sich diese Staaten zur Verhinderung von Armutswanderungen in einen Abschreckungswettbewerb verstricken könnten. Darauf ist mehrfach, so auch vom Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium der Finanzen hingewiesen worden.
Die europäische Kommission hat auf deutsches Drängen zur Vermeidung möglicher Probleme eine fünf jährige Übergangsfrist vorgeschlagen, während derer die Zuwanderung kontingentiert werden soll. Das ist eine vertretbare, aber insofern problematische Entscheidung, als sie den Druck vermindert, die eigenen Hausaufgaben zu erledigen. Besser wäre es, durch Reformen in Westeuropa die Bedingungen dafür zu schaffen, dass die Menschen aus den Beitrittsländern sofort nach dem Beitritt in den Genuss der Freizügigkeit kommen können.
Dazu ist in Deutschland vor allem eine Reform des Arbeitsmarktes erforderlich, die neben einer Öffnung der Flächentarifverträge und der Rücknahme eines überzogenen Kündigungsschutzes vor allem auch eine aktivierende Sozialhilfe nach französisch-amerikanischem Muster umschließt. Nur so lassen sich durch eine Lohnsenkung die für die Einwanderer benötigten Jobs am ersten Arbeitsmarkt schaffen, ohne soziale Härten hervorzurufen. Des weiteren sollten aber die steuerfinanzierten Sozialleistungen in den westeuropäischen Ländern während einer Wartezeit nach der Einwanderung begrenzt werden, um so die fiskalische Nettobilanz der Einwanderer zum Ausgleich zu bringen und die künstlichen Wanderungsanreize durch die Sozialstaaten zu verhindern. Dies hat das ifo Institut und ähnlich auch der wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen gefordert. Eine selektiv verzögerte Eingliederung in die Sozialsysteme der Zielländer, die die beitragsfinanzierten Sozialleistungen sofort gewährt, doch einige der steuerfinanzierten Sozialleistungen wie Wohngeld oder ergänzende Sozialleistungen erst später, ist eine wesentliche Bedingung für die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Arbeitsmarktes. Ihr Verankerung im Rechtssystem der EU stünde im Einklang mit den Assoziierungsabkommen und beschriebe den Weg zur europäischen Integration, der des staatlichen Dirigismus nicht bedarf.
Hans-Werner Sinn
Präsident, ifo Institut
Erschienen als "Ein Plädoyer für die Freizügigkeit", Handelsblatt, 02. Mai 2001, S. 10.