Deutschland ist beim Wirtschaftswachstum und beim Export auf den Weltmärkten erheblich zurückgefallen. Gegenüber dem Durchschnitt der EU errechnet sich in den letzten sieben Jahren eine Wachstumseinbuße von gut 6%, und der Anteil an den weltweiten Exporten, der Anfang der neunziger Jahre über 10% gelegen hatte, beträgt nur noch etwa 8%. Der Rückstand hat interne und externe Ursachen. Die internen Ursachen sind schon längerfristig wirksam, und es sind die gleichen, die seit etwa 1970 zu einem bislang noch ungebrochenen Trend beim Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt haben.
Dabei ist der Anstieg der Löhne und lohnbezogenen Abgaben an aller erster Stelle zu nennen, denn er hat die Schaffung neuer Arbeitsplätze durch Investitionen behindert. Die realen Lohnkosten im verarbeitenden Gewerbe sind in den letzten zwanzig Jahren in Westdeutschland um über 40% gestiegen. In Holland, das 1982 mit dem Abkommen von Wassenaar den Weg der Lohnmäßigung einschlug, betrug der Anstieg nur etwas mehr als 20%, und in den USA lag er bei etwa 8%. Die Folge war, dass die Zahl der Beschäftigtenstunden in den USA um gut 40% und in Holland um 20% anstieg, während sie in Westdeutschland um etwa 5% zurückging. Die in vielen ökonometrischen Studien gut belegte Faustregel, dass ein Prozent Lohnzurückhaltung langfristig mindestens ein Prozent mehr Beschäftigung schafft, hat sich auch beim Vergleich dieser Länder bewahrheitet.
Die Ausweitung des Sozialstaates hat zu dem Anstieg der Lohnkosten maßgeblich beigetragen. Einerseits hat er durch den Ausbau der Lohnersatzleistungen die Anspruchslöhne erhöht, und andererseits hat er die auf dem Faktor Arbeit lastende Abgabenlast gesteigert. Mit über 65% hat die Grenzabgabenlast der Wertschöpfung, die ein durchschnittlicher Arbeitnehmer aufgrund einer Qualifizierungsmaßnahme oder einer Mehrbeschäftigung erwirtschaftet, in Westdeutschland heute eine einsame internationale Spitzenposition inne. Daran wird sich auch durch die nächsten Stufen der Steuerreform nichts mehr ändern, weil die Progression die Effekte der Reform kompensiert. Die Nichtbeschäftigung ist in Deutschland immer lukrativer, und die Beschäftigung immer unattraktiver geworden. Kein Wunder, dass immer weniger Menschen beschäftigt sind und dass das Wachstum lahmt.
Auch die deutsche Vereinigung erklärt einen Teil der Wachstumsschwäche. In wirtschaftlicher Hinsicht ist die Vereinigung misslungen, weil Ansprüche auf Einkommensangleichung geweckt wurden, bevor die Angleichung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität realisiert werden konnte. Während das Inlandsprodukt je Erwerbsfähigen in den Gebieten der ehemaligen DDR mit sinkender Tendenz derzeit bei nur 58% der alten Bundesrepublik liegt, haben die Lohnkosten ein Niveau von deutlich über 70% und die durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommen ein Niveau von etwa 85% erreicht. Die Renten sind im Durchschnitt sogar zehn 10% höher als im Westen. Die Folge der antizipatorischen Einkommensangleichung und der damit verbundenen Hochlohnpolitik war, dass die neuen Länder nie eine Chance erhielten, ein wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstandort zu werden. Die Kräfte, die eine Angleichung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität hätten herbeiführen können, wurden von Anfang an geschwächt. Seit 1997 driften die beiden Landesteile bei ihrer Wirtschaftskraft weiter auseinander, statt zusammenzuwachsen. Nach wie vor geht die Beschäftigung in Ostdeutschland mit unvermindertem Tempo, nämlich gut 2% pro Jahr, zurück.
Die Wachstumsschwäche des Ostens überträgt sich rein rechnerisch in das geringe Niveau des gesamtdeutschen Wachstums. Darüber hinaus trägt sie zur westdeutschen Wachstumsschwäche bei, weil sie eine Perpetuierung der öffentlichen Transfers in die neuen Länder erzwingt und den Investoren klarmacht, dass sie auch weiterhin mit hohen Lasten rechnen müssen, wenn sie sich in Deutschland engagieren. Das Leistungsbilanzdefizit der neuen Länder liegt bei etwa 45% der eigenen Erzeugung. Der größere Teil dieses Defizits wird durch öffentliche Transfers finanziert. Der kleinere Teil ist durch private Kapitalströme gedeckt. Niemals zuvor hat es in der Geschichte der Menschheit eine Region gegeben, die in solch großem Umfang von einem Ressourcenzustrom aus anderen Regionen abhängig war. Selbst Israel, Portugal und der italienische Mezzogiorno, drei weitere klassische Transferökonomien, liegen mit Werten von 12-13% weit, weit darunter.
Zu diesen internen, längerfristigen Gründen gesellen sich als akute externe Ursachen der Wachstumsschwäche die Verschärfung der Wettbewerbslage durch dem Fall des Eisernen Vorhangs und die europäische Integration hinzu.
So hat insbesondere der Euro zur Schaffung eines gemeinsamen Kapitalmarktes und zu einer geradezu dramatischen Zinskonvergenz in Europa geführt, die das Wachstum in den eher peripheren Regionen beschleunigt und die wirtschaftliche Konvergenz wie angestrebt vorantreibt. Noch vor sieben Jahren lagen die Zinsen in wichtigen EU-Ländern um fünf bis sechs Prozentpunkte über den deutschen, weil den internationalen Kapitalanlegern wegen der Wechselkursunsicherheit hohe Risikoprämien gezahlt werden mussten. Mit der Ankündigung des Euro begannen die Zinsunterschiede zu schwinden. Der Euro hat die deutsche Industrie ihres Wettbewerbsvorteils in Form niedrigerer Zinsen beraubt und zu einer Stärkung der Wachstumskräfte in anderen Ländern ge-führt.
Um das Wachstum wieder zu beschleunigen, müssen die Marktkräfte insbesondere auf dem Arbeitsmarkt aktiviert werden. Wird die brachliegende Ressource Arbeitskraft mobilisiert, steigt das Sozialprodukt. Die Aussage, dass Wachstum Beschäftigung schaffe, stimmt in Deutschland schon lange nicht mehr; eher das Gegenteil ist der Fall. Beschäftigung schafft Wachstum.
Die Reformen sollten zunächst beim Sozialstaat ansetzen, um die von ihm auf den Arbeitsmarkt ausgehenden Rückwirkungen in Form hoher Anspruchslöhne zu verringern. Dies lässt sich ohne Sozialabbau bewerkstelligen, wenn man gering Qualifizierten Lohnergänzungsleistungen statt Lohnersatzleistungen zahlt. Diese Maßnahme beseitigt die Lohnuntergrenze, die derzeit von der Sozialhilfe gebildet wird, und wird die Gewerkschaften veranlassen, niedrigere Löhne zu akzeptieren. Bei niedrigeren Löhnen werden zusätzliche Jobs rentabel, die sonst nie zur Verfügung gestellt worden wären. Richtig austariert wird das Ganze für den Staat eher billiger als das heutige Sozialsystem, und zugleich wächst die Zahl derjenigen, deren Einkommen über der heutigen Sozialhilfe liegt.
Außerdem muss das Tarif- und Arbeitsrecht grundlegend reformiert werden. Es ist ein Unding, dass den Arbeitnehmern eines Betriebes, wie bei Philipp Holzmann geschehen, von den Gewerk-schaften das Recht verwehrt wird, zum Zwecke des Erhalts ihrer Arbeitplätze Lohnverzicht zu üben. Flächentarifverträge sollten in Zukunft nur noch den Charakter von Lohnleitlinien haben, die ein Betrieb unterschreiten kann, wenn die Mehrheit der Belegschaft dies möchte. Das Günstigkeitsprinzip ist so zu interpretieren, dass auch die Schaffung von Arbeitsplätzen zum Kreis der für den Arbeitnehmer „günstigen“ Maßnahmen gerechnet wird. Der Kündigungsschutz sollte gelockert werden, um Neueinstellungen zu ermöglichen, die durch die derzeitigen Regeln verhindert werden. Kündigungsschutz sichert die Arbeitsplätze nur kurzfristig; langfristig verursacht er Arbeitslosigkeit und macht die Arbeitsplätze unsicher. Besser ist die Mitbeteiligung der Arbeitnehmer. Wenn den Arbeitnehmern zum Ausgleich für eine Lohnzurückhaltung Beteiligungsrechte angeboten werden, lassen sich bereits erhebliche Mobilisierungseffekte erreichen.
Eine neue Rentenreform ist zudem genauso erforderlich wie eine weitgehende Privatisierung der Krankenkassen und eine grundsätzliche Neuorientierung der Politik in den neuen Ländern, die die Eigenverantwortung der Menschen stärkt.
Last, but not least, ist das Ausbildungswesen zu stärken, um so wenigstens langfristig die Basis für einen neuen Innovationsschub zu legen. Dieser allseits akzeptierte und relativ bequeme Weg kann aber nur eine begleitende Rolle spielen. An den harten Reformen, die oben beschrieben wurden, führt kein Weg vorbei, wenn Deutschlands Wirtschaft beim Wachstum von seiner Rolle als Schlusslicht Europas befreit werden soll.
Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts
Veröffentlicht unter dem Titel "Warum Deutschland Schlußlicht ist" in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Nr. 112, 16. Mai 2002, S. 14.