ifo Standpunkt Nr. 36: E.ON, Ruhrgas und der Verbraucherschutz

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 17. Juli 2002

Nach langem Ringen hat das Wirtschaftsministerium entschieden: E.ON darf die Mehrheit an der Bergemann AG übernehmen und damit die Kontrolle über die Ruhrgas gewinnen. Die Ruhrgas ist der zentrale Gasimporteur Mitteleuropas, und der E.ON-Konzern ist mit den vielen Stadtwerken und örtlichen Gasverteilern, die zu ihm gehören, ein wichtiger Lieferant für die Endverbraucher. Ein neuer Global Player der Energiewirtschaft ist geschaffen, der eine vertikal durchintegrierte Leistungskette vom Gasimport bis zur Endverbraucherstufe umfasst.

Das wird bei den absehbaren Krisen und Verteilungskämpfen, die sich in den nächsten Jahrzehnten um die knapper werdenden Ressourcen entspannen werden, mehr Sicherheit in der europäischen Gasversorgung schaffen und Gewinne in Europa halten, die sonst anderswohin geflossen wären. Die langfristigen Großinvestitionen mit Pay-off-Perioden von mehr als fünfzig Jahren, die im Gasgeschäft erforderlich sind, werden durch die vertikale Koppelung beherrschbar, weil sie die Käufer und Verkäufer von Gas auf der Großhandelsstufe von der Gefahr befreien, sich nach der Investition in irreversible Strukturen gegenseitig zu übervorteilen. Die gigantischen Rücklagen der E.ON können zum Nutzen der Verbraucher in neue Gasleitungen, Speicher und andere Projekte der Gasinfrastruktur investiert werden.

Die Verbraucherschutzverbände sehen dies anders und haben bereits Klage gegen die Entscheidung angekündigt. Sie wissen aber nicht, was sie tun, denn sie unterstellen, dass der Zusammenschluss zu höheren Preisen und insofern zu einer Übervorteilung der Verbraucher führen wird. Abgesehen davon, dass der Zusammenschluss schon aus den erwähnten Gründen mehr Investitionen in die Gasversorgung, höhere Absatzmengen und trendmäßig niedrigere Preise bringen wird, übersehen die Verbraucherschutzverbände einen grundlegenden Unterschied zwischen vertikalen und horizontalen Unternehmenszusammenschlüssen. Während letztere in der Tat regelmäßig zu oligopolistischen Preiserhöhungen zu Lasten der Verbraucher führen, haben vertikale Zusammenschlüsse genauso regelmäßig die gegenteilige Implikation.

Nichts ist nämlich schlimmer für die Verbraucher als eine vertikale Margenkonkurrenz von Unternehmen, die in einer vertikalen Lieferkette stehen, doch ihre Preise unabhängig voneinander setzen. Eine vertikale Margenkonkurrenz führt zu einem Endpreis, der höher ist, als es für die gemeinsame Gewinnmaximierung der sich beliefernden Unternehmen zusammen sinnvoll sein kann. Die Verminderung dieser vertikalen „Konkurrenz“ durch den Zusammenschluss führt zu niedrigeren Preisen.

Der Grund ist leider vielen echten und vermeintlichen Wettbewerbsspezialisten nicht bekannt, aber leicht zu verstehen. Wenn ein Unternehmen in der Lieferkette seine Preise erhöht, so bedenkt es nicht, dass die resultierende Absatzminderung einen negativen externen Effekt auf die anderen Unternehmen der Lieferkette ausübt, die ebenfalls einen niedrigeren Absatz hinnehmen oder zum Ausgleich die eigenen Margen senken müssen. Eine Hochpreispolitik, die über das gemeinsame Gewinnmaximum hinausschießt, ist deshalb die Folge des vertikalen Margenwettbewerbs. Dies ist genau das Gegenteil von einer horizontalen Konkurrenzsituation, bei der nicht eine Preiserhöhung, sondern eine Preissenkung des einen Unternehmens einen negativen externen Effekt auf das andere Unternehmen hat. Im horizontalen Kontext ist eine über das gemeinsame Gewinnmaximum hinwegführende Niedrigpreispolitik die Folge des Wettbewerbs.

Werden Unternehmen zusammen geschlossen, so vermindert sich der Wettbewerb, und die externen Effekte werden internalisiert. Die Unternehmen nehmen bei der Preisgestaltung aufeinander Rücksicht. Insofern unterscheiden sich horizontaler und vertikaler Wettbewerb nicht. Wenn aber der horizontale Wettbewerb vermindert wird, bedeutet die Rücksichtnahme höhere Preise, und wenn der vertikale Wettbewerb vermindert wird, bedeutet sie niedrigere Preise. Die niedrigeren Preise dehnen den gemeinsamen Absatz aller Unternehmen der Lieferkette aus und führen sowohl zu einer Gewinnausweitung als auch zu einer Erhöhung des Konsumentennutzens.

Die Fusion von E.ON und Ruhrgas ist eindeutig als vertikaler Verbund einzustufen. Bei diesem Verbund besteht eine Interessenharmonie zwischen den Verbrauchern und den betroffenen Unternehmen, weil beide Gruppen niedrigere Preise und höhere Absatzvolumina wollen. Nur die anderen Unternehmen, die auf den jeweiligen Lieferstufen Konkurrenten der Ruhrgas und der E.ON sind, müssen Nachteile hinnehmen, weil ihnen der neue Verbund als aggressiverer Wettbewerber entgegentritt. Aber das ist immer so, wenn der Markt sich belebt und ein für die Verbraucher besseres Resultat zustande bringt. Die politischen und rechtlichen Proteste von Konkurrenten sind aus gesamtwirtschaftlicher Sicht meistens ziemlich irrelevant, ja sie sind ein untrügliches Zeichen, dass die Politik die für die Verbraucher richtige Entscheidung getroffen hat.

Auch wenn das Ministerium dieses Argument nicht verwendet hat, ist zu begrüßen, dass es sich über die enge rechtstechnische Sicht des Kartellamtes und der Monopolkommission hinweggesetzt und eine Entscheidung getroffen hat, die den Verbrauchern nützen wird. Zu einer solchen Entscheidung, die sich an den gesamtwirtschaftlichen Vorteilen der Fusion orientiert, war das Ministerium nach § 42 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) praktisch gezwungen.

Auch dann, wenn der Wettbewerb geringer wird, können die gesamtwirtschaftlichen Vorteile überwiegen, und das ist regelmäßig dann der Fall, wenn es um eine Verminderung des vertikalen Margenwettbewerbs geht. Vertikal durchintegrierte Unternehmensketten, die sich möglichst auch noch gegenseitig horizontale Konkurrenz machen, sind normale und erstrebenswerte Organisationsformen des marktwirtschaftlichen Prozesses. Wer sie mit Wettbewerbsargumenten ablehnt, die aus der Diskussion um horizontale Unternehmensverbünde gewonnen wurden, begeht einen groben Denkfehler. Die Verbraucherverbände sollte sich noch einmal genau überlegen, was sie tun. Big Business ist für sie nicht immer ein Nachteil.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

* Erschienen unter dem Titel "Vertikaler Vorteil" in Financial Times Deutschland vom 9. Juli 2002, S. 26.