Die Opposition der EU-Kommissarin Loyola de Palacio gegen die Pläne der Bundesregierung, ab dem Sommer eine Straßenmaut für LKWs einzuführen, ist schwer verständlich. Die Kommissarin argumentiert, eine Maut dürfe nur erhoben werden, um die Bau- und Unterhaltskosten der Autobahnen abzudecken. Da die Autobahnen schon lange finanziert und abgeschrieben seien, könne man auch nur noch eine minimale Maut für die Unterhaltskosten verlangen. Auch sei es nicht in Ordnung, den Fuhrunternehmen eine Entlastung für die Maut zu gewähren. Eine rationale Wirtschaftspolitik, die sich am Kriterium der volkswirtschaftlichen Effizienz orientiert, stellt aber auf ganz andere Argumente ab.
Auf den deutschen Autobahnen herrscht bislang noch der Kommunismus. Der knappe Platz gehört allen Autofahrern, und rationiert wird er nicht mittels eines Preismechanismus, sondern danach, wer die meiste Zeit für das Warten im Stau aufbringen kann und mag. Die Auswahl der Verkehrsteilnehmer nach dem Grad ihrer Stautoleranz ist ungefähr dasselbe wie seinerzeit die Auswahl der Käufer in den Warteschlangen vor osteuropäischen Läden nach der Standfestigkeit ihrer Beine. Sie führt zu einer falschen Allokation knapper Ressourcen und vor allem ist sie immens teuer. Die Zeit, die man im Stau oder in der Warteschlange verbringt, lässt sich wahrlich produktiver nutzen. Der ADAC schätzt, dass alljährlich 4,7 Mrd. Stunden im Stau auf deutschen Straßen verloren gehen. Wenn man davon ausgeht, dass 80% dieser Zeit Erwerbsfähige betreffen, und die Wertschöpfung des durchschnittlichen Arbeitnehmers in Höhe von knapp 28 Euro zugrunde legt, entspricht diese Zahl einem Schaden von 105 Mrd. Euro. Hinzu kommen noch einmal 12 Mrd. Euro für einen Mehrverbrauch von Kraftstoffen, sowie in geringerem Umfang die zeitabhängige Abschreibung auf die im Stau steckenden Fahrzeuge. Summa Summarum wird man mit jährlichen Staukosten von etwa 120 Mrd. Euro oder 5,7% des Sozialprodukts rechnen können.
Und genau hier liegt die volkswirtschaftliche Aufgabe der Maut. Sie dient, wenn man so will, der Versteigerung der knappen Fahrwege und ihrer Zuteilung auf rivalisierende wirtschaftliche Verwendungen, ohne dass dabei ein Stau entsteht. Der Stau nimmt den Verkehrsteilnehmern Zeit, die sie anderweitig besser verwenden könnten. Die Maut nimmt ihnen Geld und überträgt Ansprüche auf produzierte Güter an den Staat. Die Verkehrsteilnehmer verlieren in beiden Fällen, doch im zweiten Fall gewinnt der Staat und damit indirekt wieder der Steuerzahler, den man entlasten kann, oder derjenige, der von den Staatsausgaben profitiert.
Eine gut austarierte Maut, die nach Zeiten und Strecken gestaffelt ist, führt zu einer wesentlich besseren Auswahl der Transporte, als man es von der Selbstregulierung des Verkehrs durch Staus erwarten kann. Transporte, die den höchsten wirtschaftlichen Nutzen liefern, werden in der Lage sein, im Wettbewerb die höchsten Preise zu verkraften, und sie werden sich gegenüber anderen Transporten von minderer Bedeutung durchsetzen. Viele Transporte werden auf Tageszeiten mit einem geringeren Verkehrsaufkommen ausweichen und manche Transporte werden unterbleiben, weil es sich als wirtschaftlicher herausstellen wird, Lieferketten örtlich zu verdichten, statt Transporte hin und her, quer durch Europa zu lenken. Das alles verbessert die Effizienz des europäischen Wirtschaftssystems in exakt dem gleichen Sinne, wie es der Schritt von einer kommunistischen Kommandowirtschaft zur Marktwirtschaft tut.
Auf die Finanzierung alter oder neuer Autobahnen kommt es aus volkswirtschaftlicher Sicht nur am Rande an, und weder die durch LKWs hervorgerufenen Straßenschäden noch die Umweltschäden durch Luftverschmutzung sind das wirkliche Thema. Der Löwenanteil der Schäden, die ein LKW auf der Autobahn verursacht, entsteht durch die Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer, nämlich durch die sogenannten Ballungsexternalitäten, und diese Schäden muss man den Verursachern anlasten. Wenn ein Fuhrunternehmer sich entschließt, die Autobahn zu nutzen, kommen tausende von PKWs und andere LKWs, die hinter ihm herfahren, etwas später an ihr Ziel. Auch wenn in jedem Fall nur Sekunden verloren gehen mögen, kann die Summe erheblich sein. Wenn die 2.000 Fahrzeuge, die in der Zeit von 6.00 Uhr bis 22.00 Uhr durchschnittlich hinter einem LKW herfahren, der von München nach Ingolstadt unterwegs ist, ihr Ziel im Durchschnitt eine Sekunde später erreichen, dann entsteht bei den Insassen dieser Fahrzeuge nach einer Schätzung des ifo Instituts ein zusätzlicher Zeitverlust von 48 Minuten, was einem volkswirtschaftlichen Schaden von 22 Euro entspricht. So groß müsste in diesem Fall die Maut sein, die die echten Schäden, die der LKW verursacht, internalisiert und eine effizientere Steuerung des Verkehrs zur Folge hat. Die Maut, die die Bundesregierung verlangt und die die EU-Kommission als zu hoch ansieht, liegt demgegenüber für die gleiche Fahrstrecke nur bei 12 Euro.
Bislang hat Verkehrspolitik in Deutschland bedeutet, immer größere Schneisen in die Städte und Landschaften zu schneiden, um auf diese Weise Staus zu vermeiden, aber sie ist dabei bisweilen über das Maß des Sinnvollen hinausgegangen. Um die ökonomische Rationalität dieser Politik zu verstehen, mache man sich einmal klar, wie ein Wirtschaftssystem funktionieren würde, bei dem der Mercedes Benz umsonst zu haben ist und auf Staatskosten in einem Umfang nachproduziert wird, bis es keine Warteschlangen vor den Stuttgarter Werkstoren mehr gibt. So geht es sicherlich nicht weiter. Auch wenn der Ausbau des deutschen Straßennetzes noch nicht abgeschlossen ist und wenn noch viele chronische Engpässe beseitigt werden müssen, bietet die Straßenmaut in vielen Fällen eine sinnvolle Alternative zur Überwindung des Chaos auf den deutschen Straßen.
Viele Länder nutzen das Instrument der Straßenmaut seit langem. Aus Frankreich, Italien und den USA sind die mautpflichtigen Autobahnen wohlbekannt. Auch Städte wie Singapor, Bergen oder Oslo haben Mautsysteme, und neuerdings gibt es ein solches System auch für die Londoner Innenstadt. In vielen Fällen war die Verkehrsregulierung statt der Einnahmeerzielung das treibende Motiv.
Die jetzt geplante LKW-Maut ist ein grobes Mittel zur Lösung der anstehenden Probleme, die den volkswirtschaftlichen Anforderungen noch nicht genügt. Sicherlich macht es keinen Sinn, eine Maut auch dann zu erheben, wenn die Straßen leer sind und sich die Verkehrsteilnehmer gegenseitig nicht behindern, und in Zeiten der Rush Hour muss die Maut wahrscheinlich noch deutlich höher sein, als es heute geplant ist. Eine Staffelung nach dem tatsächlichen Verkehrsaufkommen ist dringend geboten, wie auch eine Ausweitung auf die Landstraßen erforderlich ist. Aber das alles wird kommen. Wir stehen ja erst am Anfang. Die elektronische Datenerfassung, die auf der Basis des GPS-Systems in Deutschland eingeführt wird, ist flexibel genug, solche Anforderungen zu erfüllen.
Die EU selbst hat die Ballungsexternalitäten im übrigen in ihrem Weißbuch zu fairen Preisen für die Infrastruktur aus dem Jahre 1998 in den Mittelpunkt ihrer Begründung für die Straßenmaut gestellt, und auch in der Direktive der EU zum Schwerlastverkehr vom Juni 1999 wird ausdrücklich zugelassen, Gebühren für die Zwecke der Stauvermeidung zu erheben. Dass die Kommission nun, wo Deutschland ihren Empfehlungen folgt, plötzlich wieder den Rückwärtsgang einlegt, ist mehr als verwunderlich.
Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts
Erschienen unter dem Titel "Gegen den Autobahn-Kommunismus", Süddeutsche Zeitung, 28.2.03, S. 2.