ifo Standpunkt Nr. 6: Eine neue Sozialhilfe

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München,15.11.1999

In Deutschland liegt der niedrigste Lohn bei 70% des Durchschnittslohnes, in den USA liegt er bei 30%. Dies ist der eigentliche Grund dafür, daß die Unterbeschäftigung im Bereich der einfachen Arbeit in Deutschland so groß und in den USA so klein ist. Einfache Arbeit kostet mehr, als sie an Werten schaffen kann, und genau deshalb gibt es von ihr nicht genug.

Der hohe Lohn für die einfache Arbeit kann auf die Konstruktion der deutschen Sozialhilfe zurückgeführt werden. Da man die Sozialhilfe nur dann in voller Höhe zugesprochen bekommt, wenn man kein Arbeitseinkommen erhält, und da sie in weiten Bereichen eins zu eins mit dem erzielten Arbeitseinkommen gekürzt wird, kann der niedrigste Lohn nicht unter der Sozialhilfe liegen.

Statt die Sozialhilfe wie eine Subvention für das Nichtstun zu gestalten, ist es besser, sie in eine Subvention für das Tun zu verwandeln, denn dann verschwindet die Lohnuntergrenze im Tarifsystem. Eine Sozialhilfe, die nur dann gezahlt wird, wenn man eine Arbeit aufnimmt, und die zudem bis zu einer gewissen Einkommensgrenze mit dem selbstverdienten Einkommen steigt, schafft den Anreiz, auch niedrigbezahlte Jobs anzunehmen. Der Tariflohn im Bereich der einfachen Arbeit fällt, und neue Arbeitsplätze werden geschaffen.

Den Zielen des Sozialstaates würde besser als mit dem derzeitigen System gedient, weil zu der Geldsumme, die dem Sozialstaat zur Verfügung steht, das selbstverdiente Arbeitseinkommen hinzutritt. Trotz der Absenkung der Löhne, trotz einer Konstanz des Sozialhilfebudgets und wegen eines vollen Mitnahmeeffektes werden die Einkommen der Niedriglohnbezieher höher sein, als es heute der Fall ist. Außerdem wird im Zuge der Errichtung neuer Arbeitsplätze ein Wachstumsschub erzeugt, der neuen Wohlstand für alle schafft.

Der Earned Income Tax Credit der USA ist ein Beispiel für ein Sozialhilfesystem, das die beschriebenen Eigenschaften aufweist, auch wenn das Niveau der amerikanischen Sozialhilfe aus deutscher Sicht als zu niedrig erscheint. Neben der Steuerreform von 1986 kann der Earned Income Tax Credit als eine der Ursachen des amerikanischen Jobwunders gelten. Nicht das Niveau, wohl aber die Anreizstrukturen des amerikanischen Systems sollte man für Deutschland übernehmen, um auch hier ein solches Wunder zu erzeugen.

Hans-Werner Sinn
Präsident des ifo Instituts