Die Politik muss etwas gegen das Gammelfleisch unternehmen. Zu viele Skandale häufen sich, als dass man untätig bleiben könnte. Doch was geschieht? Während die Bundesländer den Missetätern an die Gurgel gehen und ihre Kontrollen verschärfen, planen das Landwirtschafts- und Wirtschaftsministerium in Berlin ein Gesetz, das den Weiterverkauf von Fleisch unter dem Einkaufspreis verbieten soll. Damit werde, so das Argument, dem Markt für Gammelfleisch das Wasser abgegraben.
Angesichts dieses Vorhabens reibt sich der Ökonom verwundert die Augen, denn im Kern geht es um den Versuch, mithilfe einer Preiserhöhung für Gammelfleisch das Angebot an Gammelfleisch in den Läden zu verringern. Der Versuch wird scheitern. Da der Preis des Gammelfleisches sich dem Preis für gutes Fleisch annähert, werden die Anreize, gutes Fleisch zu liefern, verringert.
Bisher konnte der Anbieter von gutem Fleisch, der besondere Anstrengungen für den Qualitätserhalt der Ware wie zum Beispiel in Form der Beschleunigung des Transports und des Aufbaus einer lückenlosen Kühlkette unternommen hatte, darauf setzen, dass er in der Lage war, dafür einen deutlich höheren Preis zu erzielen. Seine Anstrengungen wurden belohnt. In Zukunft entfällt ein Teil der Belohnung. Da die Erlöse ohne die Anstrengung ähnlich hoch sind wie mit der Anstrengung, fehlt der Grund, sich anzustrengen. Mehr Gammelfleisch landet auf den Märkten.
Die Verbraucher können sich zudem bei einer Verringerung der Preisspanne zwischen gutem und schlechtem Fleisch nicht mehr so gut vor Gammelfleisch schützen. Der Preis hat auf einem Markt stets auch eine Informationsfunktion. Wer bereit ist, einen hohen Preis zu zahlen, kann in der Regel davon ausgehen, dass er auch bessere Qualitäten bekommt. Diese Informationsfunktion wird beeinträchtigt, wenn die Preise für Gammelfleisch mit den Preisen für gutes Fleisch verwischt werden. Qualitätsbewusste Verbraucher werden in Zukunft ihre Mühe haben, gutes Fleisch vom Gammelfleisch zu unterscheiden. Sie sind den Gaunern noch schutzloser ausgeliefert als bisher.
Das Verbot, unter Einstandspreis zu verkaufen, wird zudem viele sinnvolle Geschäfte unterbinden, wie sie uns im alltäglichen Leben begegnen. Wenn sich der Wochenmarkt dem Ende zuneigt, verkaufen die Händler ihre Restbestände unter Einstandspreis an die letzten Kunden, weil sie sich den Rücktransport der Waren und die Kosten ihrer Beseitigung ersparen wollen. Ähnlich handelt der Bäcker, der vor Ladenschluss seine Bestände verkauft. Gerade auch ärmere Bevölkerungsschichten erhalten hier die Möglichkeit, sich günstig ohne wirkliche Qualitätseinbußen zu versorgen.
Wenn ein Autohändler Auslaufmodelle unter Einstandspreis verkauft, um sein Lager zu räumen, dann ist das genauso wenig verwerflich wie der Abverkauf der Computer- oder Fotohändler, die die Modelle des letzten Jahres loswerden wollen, um für Neues Platz zu schaffen. Die Preise für Computer fallen derzeit um bald 25 Prozent pro Jahr. Restbestände im Lager ergeben sich wegen der unsicheren Absatzlage immer, wenn der Händler seine Bestellungen so plant, dass er nicht in Lieferschwierigkeiten kommt. Der Verkauf solcher Restbestände unter Einstandspreis ist wegen des raschen Verfalls der Marktpreise kaum vermeidbar.
Welch ungewöhnliche Vorstellungen vom Marktgeschehen sind es nur, die gleich zwei Ministerien veranlassen, über ein Verbot des Verkaufs unter Einstandspreisen nachzudenken? Oder sind es vielleicht gar keine ungewöhnlichen Vorstellungen? Geht es vielmehr um eine geschickte Begründung für Preiserhöhungen, die die Lobbys der Verkäufer zum eigenen Nutzen durchsetzen wollen und sich dabei der Mithilfe des Staates bedienen? Interessanterweise steht ja schon im Koalitionsvertrag, dass man Verkäufe unter Einstandspreisen verbieten möchte. Kam der Gammelfleischskandal also gerade zur rechten Zeit, um das angestrebte Ziel nun auch in der Öffentlichkeit plausibel zu machen?
Für den Lobby-Verdacht spricht einiges. Dass Anbieter sich die Konkurrenz durch Preisuntergrenzen vom Leibe halten wollen, ist verständlich und kommt immer wieder vor. Die Versicherungsindustrie hatte es jahrzehntelang geschafft, zum angeblichen Schutz der Verbraucher Mindestprämien durch das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen durchzusetzen. Entsenderichtlinien sollen die Handwerker vor Preiskonkurrenz aus anderen Ländern, Mindestlöhne ungelernte Arbeiter vor der Konkurrenz durch die Kollegen schützen und so fort. Man kennt das. Stets geht es darum, die Konkurrenz zu verringern und die Nachfrager zu übervorteilen. Der Staat macht sich zum Kartellbruder, der den Anbietern dabei hilft, zum Schaden der Kunden höhere Preise herauszuholen, als es unter Konkurrenzbedingungen möglich gewesen wäre. Leider wird der Kuchen dabei nicht nur umverteilt, sondern auch kleiner. Der geldwerte Verlust der Verbraucher ist höher als die Gewinnsteigerung der Anbieter, weil die Wirtschaftsleistung insgesamt erlahmt.
Ludwig Erhard wusste vom Schaden, den die nationalsozialistische Politik der flächendeckenden Preisbindungen in der Wirtschaft hervorgerufen hatte. Er wusste, dass die Vorstellungen Hjalmar Schachts nicht mit einer funktionierenden Wirtschaft kompatibel waren, und genau deshalb hat er die nationalsozialistischen Preisbindungen in Deutschland früher aufgehoben, als selbst die Alliierten es wollten. Das war die Basis des deutschen Wirtschaftswunders. Vielleicht sollten sich die Strategen in den Ministerien noch einmal überlegen, ob sie das alles aufs Spiel setzen und das Rad der Geschichte wieder zurückdrehen wollen.
Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts
Erschienen unter dem Titel "Lobby-Verdacht“, Wirtschaftswoche, Nr. 39, 25. September 2006, S. 198.