Wieder wurde die EU erweitert. Nach der Erweiterungsrunde des Jahres 2004, die der EU 75 Millionen neue Bürger zuführte, kommen mit Rumänien und Bulgarien nun abermals 30 Millionen. Was bedeutet das für den deutschen Arbeitsmarkt?
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier vertrat bei einer Rede in der Münchner Residenz die Auffassung, die Osterweiterung der EU schaffe per saldo Arbeitsplätze in Deutschland. Zwar komme es wegen der Zuwanderung von einigen Klempnern und auch wegen der Abwanderung von Firmen nach Osteuropa zu Arbeitsplatzverlusten, doch müsse man die Erhöhung des deutschen Exports dagegen setzen, die viel mehr Arbeitsplätze schaffe. Das Argument ist geläufig. Aber stimmt es auch?
Die Erweiterung bringt Deutschland auf jeden Fall eine extreme Niedriglohnkonkurrenz. Während westdeutsche Industriearbeiter 27,90 Euro pro Stunde und ostdeutsche 18,60 Euro kosten, zahlt man in Rumänien nur 2,30 Euro und in Bulgarien gerade mal 1,60 Euro.
Wenn Steinmeier Recht hätte, müssten die osteuropäischen Niedriglöhner Komplemente der deutschen Arbeitnehmer sein, deren Erscheinen die Nachfrage nach deutschen Arbeitnehmern steigert. Sicher: Teilweise ist das der Fall. Die deutschen Ingenieure werden gebraucht, um sinnvolle Produkte für die Beschäftigung der osteuropäischen Arbeitnehmer zu entwerfen, und wer sich zum Manager eignet, kann sicher sein, dass seine Fähigkeiten bei der Integration der osteuropäischen Arbeitskräfte in die Marktwirtschaft benötigt werden. Aber für die große Masse derer, die nur ihre normale Arbeitsleistung anzubieten haben, sind die osteuropäischen Arbeitnehmer Substitute statt Komplemente. Sie sehen sich einer Niedriglohnkonkurrenz von Menschen gegenüber, die in etwa das Gleiche können und tun wollen wie sie selber. Sie gehören zu den Verlierern. Nach einer Studie der Berliner Ökonomen Geishecker und Görg reicht die Gruppe der Verlierer in Deutschland von den gering Qualifizierten bis zu den Facharbeitern.
Das hat Implikationen für den Arbeitsmarkt. Bei den höher qualifizierten Teilen der deutschen Erwerbsbevölkerung führt die Osterweiterung zwar zu einer Zunahme der Arbeitsnachfrage, doch bei den übrigen führt sie zu einer Abnahme. Da die Arbeitslosigkeit unter den höher Qualifizierten gering ist, wird die Mehrnachfrage nach ihren Leistungen eher in Lohnerhöhungen als in eine Zunahme der Beschäftigung umgesetzt. Bei den weniger gut Qualifizierten, deren Leistungen nun weniger gefragt sind, kommt es demgegenüber zu einer Abnahme der Beschäftigung, weil deren Löhne nicht fallen können. Der Spielraum für Lohnänderungen ist durch Tarifvereinbarungen und vor allem durch die Mindestlohnschranke, die der Sozialstaat mit seinen Lohnersatzleistungen setzt, nach unten hin begrenzt. Die Asymmetrie in der Lohnstarrheit gepaart mit der überwiegenden Substitutionalität zwischen der Masse der deutschen Arbeitnehmer und den Osteuropäern lässt keinen anderen Schluss zu, als dass die Osterweiterung per saldo zu einem Arbeitsplatzverlust für Deutsche führt – jedenfalls wenn das institutionelle Umfeld des deutschen Arbeitsmarktes so starr bleibt, wie es ist.
Steinmeier denkt freilich nicht an Komplemente und Substitute, sondern leitet seine Vermutung aus der Beobachtung der Exporte, der Direktinvestitionen und der Migration ab. Dabei übersieht er aber die beiden zentralen Effekte, durch die die meisten Arbeitsplätze verschwinden.
Der erste dieser Effekte ist der innere Strukturwandel der deutschen Wirtschaft. Zwar führt die Osterweiterung zu einer Vermehrung der Exporte, weil nun mehr Märkte entstanden sind, auf denen deutsche Firmen ihre Waren verkaufen können. Doch wenn die Exporte steigen, müssen dafür Produktionsfaktoren, nämlich Kapital, qualifizierte Arbeitskräfte und einfache Arbeitskräfte aus anderen Sektoren der Wirtschaft abgezogen werden, und dabei entsteht per saldo Arbeitslosigkeit. Da die Exportgüter wesentlich kapital- und wissensintensiver produziert werden als andere Güter, reduziert der Strukturwandel die Nachfrage nach einfachen Arbeitskräften. Das Kapital und die Talente, die den anderen Sektoren entzogen werden, können nicht alle einfachen Arbeiter mitnehmen, und sie wollen es auch nicht, gerade weil der Sektorwandel ein Weg ist, sich trotz der Niedriglohnkonkurrenz zu behaupten. Zu den schrumpfenden Sektoren gehören übrigens die arbeitsintensiven Vorstufen der Industrieproduktion, die ihre Arbeitsplätze unspektakulär, für die Kunden nicht erkenntlich und in der Direktinvestitionsstatistik nicht erfasst auf dem Wege des Outsourcing ans Ausland verlieren.
Der zweite Effekt ist der Finanzkapitalexport. Steinmeier konzediert, dass Arbeitsplätze durch Direktinvestitionen ins Ausland verloren gehen können. Viel wichtiger sind jedoch die Finanzinvestitionen, also die Kreditmittel, mit Hilfe derer ausländische Firmen in die Lage versetzt werden, Arbeitsplätze in eigener Regie zu errichten. Im Jahr 2005 hatte Deutschland einen Nettokapitalexport von 95 Milliarden Euro, während die Nettoinlandsinvestitionen aller Sektoren zusammen genommen nur bei 50 Milliarden Euro lagen. Von diesem Nettokapitalexport entfielen gerade einmal 10 Milliarden Euro auf Direktinvestitionen. Ein Teil des Kapitalexports floss in die osteuropäischen Beitrittsländer, die relativ zu ihrer Größe riesige Kapitalimporte realisieren.
Nein, wenn man all dies bedenkt, dann kann man die Bemerkungen des Bundesaußenministers zu dieser Frage nur in die Kategorie der Sonntagsreden einordnen. Von solchen Reden haben die Deutschen seit der deutschen Vereinigung genug.
Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts
Revidierte Version. Erschienen unter dem Titel "Sonntagsreden", WirtschaftsWoche, Nr. 4, 22. Januar 2007, S. 138; ebenso erschienen in Les Echos (Mali), The Shanghai Daily (China), The Japan Times (Japan), The Korea Herald (Südkorea), Taipei Times (Taiwan), Die Presse (Österreich), L’Echo (Belgien), De Tijd (Belgien). Aripaev (Estland), Molodez Estonii (Estland), Express (Griechenland), Diena (Lettland), Logos Press (Moldawien), Danas (Serbien), The Scotsman (Großbritannien), Al-Sabah Al-Jadeed (Irak), Jordan Times (Jordanien), Al Ghad (Jordanien), Al Raya (Qatar), Al Eqtisadiah (Saudi-Arabien).