„Jeder Achte lebt in Armut!“ betitelte „Bild am Sonntag“ jüngst ein Interview mit Bundesarbeitsminister Olaf Scholz. Tatsächlich sagte der Minister, arm sei nach EU-Definition, wer als Alleinstehender weniger als sechzig Prozent vom mittleren Einkommen bezieht – und das seien 13 Prozent. In die gleiche Kerbe schlägt eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), wonach der Anteil der gesellschaftlichen Mitte an der Gesamtbevölkerung von 2002 bis 2005 um 3,8 Prozentpunkte abgenommen habe. Und gemäß einer Untersuchung des Instituts für Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen hat Deutschland mit 22 Prozent Geringverdienern die USA mit ihren 25 Prozent fast erreicht. Gibt es tatsächlich eine neue Armut in Deutschland, und kommt uns die Mittelschicht abhanden?
Vielleicht. Es gibt Indikatoren, die auf mehr Ungleichheit hindeuten. So hat sich der Anteil der Bruttolöhne am Volkseinkommen verringert, und die Spreizung der Bruttolöhne hat in Deutschland wie in anderen Industriestaaten zugenommen, wenngleich sie hier noch lange nicht so groß ist wie in den angelsächsischen Ländern und auch nicht so schnell ansteigt. Die wachsende Ungleichheit der Markteinkommen ist das Ergebnis der Niedriglohnkonkurrenz aus den ex-kommunistischen Gebieten der Welt. Auf die Gefahren für die soziale Kohärenz der Gesellschaft und die nötigen Reformen des Sozialstaates weise ich seit anderthalb Jahrzehnten hin.
Dennoch finde ich die Alarmrufe, die derzeit aus den Medien zu hören sind, unangebracht und übertrieben. Die öffentliche Diskussion leidet unter einer Begriffsverwirrung, negiert die Existenz des deutschen Sozialstaates, bezieht sich auf veraltete Zahlen und wird durch ein statistisches Artefakt in die Irre geführt. Aber eines nach dem anderen.
Zunächst einmal stimmt es nicht, dass jeder achte Deutsche arm ist. Wäre diese Aussage korrekt, käme der deutsche Sozialstaat der im Grundgesetz und im zwölften Sozialgesetzbuch festgelegten Aufgabe, die Würde des Menschen durch seine Sozialleistungen zu sichern, nicht nach. Im Armutsbericht findet man eine solche Aussage auch gar nicht. Dort ist von „Armutsrisiko“ statt von Armut die Rede, und das ist ein wichtiger Unterschied. Wer nicht Emotionen schüren möchte, sollte sich an die amtlichen Begriffe halten, wie sie vom Statistischen Bundesamt im Bericht „Armut und Lebensbedingungen“ definiert wurden. Danach beginnt „Armutsgefährdung“ bei 60 Prozent vom Mittelwert (Median), „relative Einkommensarmut“ bei 50 Prozent, und „Armut“ bei 40 Prozent. Auch die EU sagt übrigens nicht, dass man mit weniger als 60 Prozent arm sei, sondern nur „von Armut bedroht“, nachzulesen im EU-Bericht zur sozialen Lage.
Kaum jemand, der sich in Deutschland legal aufhält, ist arm. Sozialhilfe und ALG II sichern bei normalen Wohnkosten ein Einkommen, das bei etwa 54 Prozent des mittleren Einkommens liegt. Gemessen an der relativen Reduktion der Armutsgefährdung hat Deutschland nach den skandinavischen Staaten einen der großzügigsten Sozialstaaten Europas und damit auch sicherlich der ganzen Welt. Die Armutsgefährdungsquote von 26 Prozent vor Sozialtransfers (außer Renten- und Pensionszahlungen) wurde durch die staatlichen Sozialleistungen in Deutschland auf 13 Prozent, also um exakt 50 Prozent vermindert. Im Durchschnitt der EU 25 führten die Transferleistungen des Staates nur zu einer Verminderung des Anteils der vom Armutsrisiko betroffenen Bevölkerung um 38,5 Prozent (von 26 Prozent auf 16 Prozent). Sicher, etwa 4 Prozent der in Deutschland wohnenden Bevölkerung sind auch nach amtlicher Definition arm. Aber das war schon immer der harte Kern derer, die aus vielerlei Gründen von den Geldangeboten des Sozialstaates keinen Gebrauch machen und anderweitige Hilfe benötigen.
Im Jahr 2005, also dem Jahr, auf das sich die Zahlen des Armutsberichts beziehen, lag der durchschnittliche monatliche Hartz-IV-Anspruch eines Ein-Personenhaushalts bei 700 Euro, wovon nach OECD-Angaben 360 Euro auf Wohn- und Heizkosten entfielen. Die freie Krankenversicherung im Wert von etwa 200 Euro ist dabei noch gar nicht gerechnet. Die Armutsgrenze lag hingegen bei 520 Euro. Das zeigt eindeutig, dass allein lebende Hartz-IV-Empfänger nach der in Deutschland und international üblichen Definition nicht arm sind. Sie sind allerdings armutsgefährdet, denn die entsprechende Grenze lag bei 781 Euro. Zwei-Personen-Haushalte und erst recht kinderreiche Haushalte befinden sich mit ihren Hartz-IV-Einkommen relativ sogar noch weiter über den für sie geltenden Armutsgrenzen, weil die Zuschläge, die der deutsche Sozialstaat bei weiteren Personen im Haushalt gewährt, prozentual größer sind als die Bedarfswerte, die bei der Berechnung der Armutsgrenzen angenommen werden. Auch Familien sind in Deutschland nicht arm.
Weil wir einen Sozialstaat haben, signalisiert es auch nicht Armut, wenn der Anteil der Geringverdiener in Deutschland mit einem Stundenlohn von weniger als zwei Dritteln des Mittelwertes bald so hoch ist wie in den USA, denn Lohn und Einkommen sind nicht dasselbe. Dass die Bruttolohnspreizung in beiden Ländern ähnlich hoch ist, kann Ökonomen nicht verwundern: Dies erklärt sich durch das Gesetz des Faktorpreisausgleichs, das man nur um den Preis einer Massenarbeitslosigkeit unterlaufen kann. Bei Ländern, die miteinander Handel treiben und zwischen denen Kapital frei fließen kann, müssen sich die Lohnstrukturen bezüglich der Qualifikationsstufen tendenziell angleichen, so dass Unterschiede nur noch aus der unterschiedlichen Streuung der Bildung resultieren. Aber auch solche Unterschiede sind, wie die PISA-Tests beweisen, zwischen Deutschland und den USA kaum vorhanden. Beide Länder stehen an de Spitze der internationalen Rangordnung der Spreizung der Bildung fünfzehnjähriger Schüler. Das dreigliedrige Schulsystem, das den sozialen Aufstieg nachweislich behindert, ist das eigentliche soziale Problem Deutschlands, nicht die Armut an sich. Armut lässt sich nur an der Einkommensverteilung messen, und die ist in unserem Land dank des Sozialstaates viel gleichmäßiger als in Amerika. Unsere Geringverdiener erhalten in einem so hohen Umfang aufstockendes ALG II, dass sie praktisch allesamt weit über der Armutsgrenze liegen. Sie liegen übrigens noch weiter darüber als arbeitslose Hartz-IV-Empfänger, die wie erwähnt bei etwa 54 Prozent des mittleren Einkommens angesiedelt sind – weil ja nicht nur bis zum ALG-II-Niveau aufgestockt wird, sondern deutlich darüber hinaus. Ein Niedriglöhner, der im Jahr 2005 für nur vier Euro die Stunde Vollzeit arbeitete, hatte bei normalen Wohn- und Heizkosten ein Nettoeinkommen von etwa 910 Euro, lag also weit über der Armutsgefährdungsgrenze von 781 Euro. Also auch in diesem Punkt: volle Entwarnung!
Aber wie kommt es dann, dass nach der Analyse des DIW der Anteil der Mittelschicht an der Bevölkerung (Grenze: 150 Prozent bis 70 Prozent vom Median) von 2002 bis 2005 um fast vier Prozentpunkte abgenommen hat und dass nach den Daten des sozioökonomischen Panels der Anteil der Armutsgefährdeten um zwei Prozentpunkte stieg? Für eine Zeitspanne von nur drei Jahren sind die Änderungen riesengroß; viel mehr als das, was sich durch die Globalisierung erklären ließe.
Ein Teil des Zuwachses ist durch einen Sondereffekt bedingt, der unmittelbar nach den Hartz-Reformen im Berichtsjahr 2005 zum Tragen kam. Hartz-IV hieß, dass etwa zwei Millionen Deutsche von der Arbeitslosenhilfe auf die Sozialhilfe heruntergestuft wurden und dass für Niedriglöhner Lohnzuschüsse gezahlt wurden. Unmittelbar nach der Einführung des neuen Sozialsystems hat dies wegen der hohen Arbeitslosigkeit, die die höchste in der Geschichte der Bundesrepublik war, das Armutsrisiko zunächst in der Tat vergrößert, denn die Arbeitslosen sind in besonders hohem Maße armutsgefährdet. Inzwischen hat Hartz-IV aber gewirkt und ein Wunder auf dem deutschen Arbeitsmarkt erzeugt. Allein in Westdeutschland hat der jüngste Konjunkturaufschwung mindestens 1,1 Millionen Stellen über das Maß hinaus gebracht, das man nach einer Fortschreibung früherer Konjunkturmuster erwarten konnte. Der Arbeitsplatzgewinn hat zusammen mit den Lohnzuschüssen erheblich zum Rückgang der Armutsgefährdung und zur Stabilisierung der Mittelschicht beigetragen – nur sieht man das nicht in der Statistik des Jahres 2005. Der Armutsbericht war schon veraltet, bevor er überhaupt geschrieben wurde. Weil er die Arbeitsmarkterfolge ausblendet, ist es unmöglich, diesen Bericht als Beleg für wachsende Armut in Deutschland, Defizite bei der Hartz-IV-Gesetzgebung oder gar die Notwendigkeit von Mindestlöhnen heranzuziehen. Letzteres wäre besonders absurd, treiben doch Mindestlöhne einen noch größeren Teil der gering Qualifizierten in die Arbeitslosigkeit.
Zweifel an der Interpretation der Zahlen sind auch insofern angebracht, als die dargestellten Entwicklungen sich nicht etwa auf Pro-Kopf-Einkommen, sondern auf das so genannte „bedarfsgewichtete Einkommen“ beziehen. Dabei wird unterstellt, dass zwei Singles zusammen ein Drittel mehr Einkommen brauchen als ein Paar. Das ist nicht unplausibel, impliziert aber, dass die zitierten Verteilungsmaße eher die Ausweitung gesellschaftlicher Wunschvorstellungen als ökonomisch bedingte Versorgungsdefizite widerspiegeln. Das sonst in der Statistik gültige Prinzip, das Faktum vom Werturteil zu trennen, wird bei der Armutsstatistik durchbrochen.
Wegen der Bedarfsgewichtung führt eine verringerte Haushaltsgröße bei gleichem Pro-Kopf-Einkommen rechnerisch bereits zur Verringerung des bedarfsgewichteten Einkommens – und damit zu einem steigenden Anteil armutsgefährdeter und aus der Mittelschicht heraus fallender Personen. Eine Verringerung der Haushaltsgröße hat in Deutschland in hohem Maße stattgefunden: Laut OECD nahm der Anteil der Alleinerziehenden hierzulande von 1995 bis 2005 vier Mal so schnell zu wie im OECD-Durchschnitt. 80 Prozent des Zuwachses der rechnerischen Ungleichheit in dieser Zeitspanne erklären sich durch die veränderte Alters- und Haushaltsstruktur. Mit 3,3 Prozent stieg die Zahl der Single-Haushalte auch im Zeitraum von 2002 bis 2005, auf den sich der Armutsbericht bezieht, erheblich.
Dabei befriedigt der Sozialstaat den Mehrbedarf der erodierten Familien sogar durch zusätzliche Leistungen. Aber er tut es nicht in dem Maße, wie die Statistiker, die die Bedarfsgewichtung erfunden haben, es gerne hätten. Der Sozialstaat gewährt einem vom ALG-II lebenden Paar, das sich trennt, nämlich nur eine Erhöhung des Regelsatzes um elf Prozent statt des Drittels, das von der Bedarfsgewichtung verlangt wird.
Mit einer größeren Ungleichheit in der Entlohnungsstruktur oder einem Defizit in der Struktur des Sozialstaats hat die Zunahme der (rechnerischen) Armutsgefährdung also auch insofern wenig zu tun. Die Öffentlichkeit regt sich über die Ungerechtigkeit der Marktwirtschaft auf – und ist doch nur einem statistischen Artefakt aufgesessen.
Das Ganze wird zur Farce, wenn man bedenkt, dass die Arbeitslosenhilfe und noch viel mehr das heutige ALG II selbst einen starken Anreiz bieten, getrennt zu leben. Wenn ein Partner gut verdient und der andere länger arbeitslos ist, hat der arbeitslose Partner nur dann Anspruch auf Hilfe, wenn er nicht mit dem gut verdienenden Partner in einer Bedarfsgemeinschaft zusammenwohnt. Bilden beide einen gemeinsamen Haushalt, entfällt die Hilfe. Die staatliche Unterstützung nimmt also den Charakter einer Trennungsprämie an, die der Staat nur unter der Bedingung des Verzichts auf Heirat oder anderweitigen Zusammenschluss zahlt. Kein Wunder, dass viele junge Leute von vornherein gar nicht erst zusammenziehen bzw. sich trennen, wenn sie vorher zusammen gelebt haben. Die Folge: Im ersten Jahr des ALG II stieg die Zahl der Ein-Personen-Haushalte in Deutschland um ein Prozent, im zweiten sogar um fünf Prozent.
Obwohl das Mehr an staatlichem Geld das Alleinleben in manchen Fällen wirtschaftlich überhaupt erst ermöglicht, weist die Statistik dann eine höhere Armutsgefährdung aus. Wohnen beide Partner zusammen, gehören sie zur Mittelschicht und gelten nicht als armutsgefährdet. Deklarieren sie getrennte Haushalte, um mehr Geld vom Staat zu bekommen, zählt der arbeitslose Partner plötzlich als armutsgefährdet. (Nach der gültigen Rechtsprechung reicht die Trennung von Tisch und Bett innerhalb einer Wohnung, um getrennt veranlagt zu werden.)
Es ist offenkundig, dass die Bedarfsgewichtung bei der Berechnung der Verteilungsmaße zu keinen sinnvoll interpretierbaren Ergebnissen führt, wenn die Familie erodiert und der Staat diese Erosion sogar noch finanziell fördert, wie es in Deutschland der Fall ist. Verhaltensänderungen, für die Menschen sich entscheiden, um ihre ökonomische Situation zu verbessern, werden als Verschlechterung der Lebenslage in den Statistiken erfasst und führen zu Alarmrufen der Politik. Dazu kann ich nur sagen: bedarfsgewichteter Käse, mehr nicht.
Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts
Leicht gekürzte Version von „Der bedarfsgewichtete Käse und die neue Armut“, ifo Schnelldienst 61, 2008, S. 14-16. Ebenso leicht überarbeitet erschienen in WirtschaftsWoche, Nr. 22, 26. Mai 2008, S. 48f.