Presseartikel, Focus, 10.10.2015, S. 42
Europa sollte sich mit seiner kriselnden Gemeinschaftswährung am Beispiel der USA und der Schweiz orientieren: Wer pleitegehen kann, spart mehr. Ein Appell von Hans-Werner Sinn.
Wer noch mehr Umverteilung durch eine Fiskalunion fordert, sollte vor dem Schicksal der Sowjetunion gewarnt sein. Die Sowjetunion brauchte den Zwang, um den Zusammenhalt zu sichern, aber wie die Geschichte gezeigt hat, lag in diesem Zwang auch der Keim der Zerstörung. Die Sowjetunion war kein faires Versicherungssystem, das auf Gegenseitigkeit beruhte, bei dem sich jeder ausrechnen konnte, auch selbst einmal in den Genuss von Transfers seitens der anderen Staaten zu kommen.
Nicht die Sowjetunion, sondern die USA und die Schweiz sollten das Vorbild für Europa sein. Die USA haben ihr System in einer über zweihundertjährigen Geschichte entwickelt. Nach den schwierigen Jahrzehnten am Anfang ist mittlerweile ein funktionsfähiges und faires System entstanden, das freiheitliche Grundrechte weitgehend gewährleistet, auf eine Schuldenunion verzichtet und deshalb ohne eine allzu strenge Zentralgewalt funktioniert.
Wer die Euro-Zone zu einer Transfer- und Schuldenunion entwickeln will, die sogar Staatskonkurse verhindern kann, muss wissen, dass er dafür mehr Zentralgewalt braucht, als in den USA oder der Schweiz verfügbar ist. In einem solchen System wäre für die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Länder nicht mehr viel Platz. In den USA und der Schweiz kann der Zentralstaat die Haushalte der Einzelstaaten und Kantone nicht wirksam begrenzen, und deshalb überlässt er es den Einzelstaaten, selbst mit ihren Gläubigern ins Reine zu kommen, wenn sie sich übernommen haben, also letztlich in Konkurs zu gehen. So paradox es klingen mag, das Insolvenzrisiko ist ein stabilisierendes Element, das alles zusammenhält, weil es eine Schuldendisziplin hervorruft.
Wenn Regionen zu viele Kredite aufnehmen, werden Investoren nach höheren Zinsen fragen und so quasi automatisch eine Schuldenbremse implementieren, die inflationäre Kreditblasen vermeidet, wie sie die Volkswirtschaften Südeuropas und Irlands heimgesucht haben. Ohne einen solchen sich selbst korrigierenden Marktmechanismus zur Verhinderung von exzessiven Kapitalbewegungen wird die Währungsunion niemals in der Lage sein, sich zu stabilisieren. Politische Vereinbarungen unter souveränen Staaten werden nicht in der Lage sein, eine ähnliche Marktdisziplin wie die Kapitalmärkte durchzusetzen. Vorstellungen, man könne opportunistisches, missbräuchliches Verhalten in einer Schuldenunion bereits durch kleine Schritte wie die Begründung einer Fiskalunion mit einem europäischen Finanzminister verhindern, sind naiv.
Wer die Bildung des europäischen Bundesstaates mit einer Transfer- und Schuldenunion beginnen will, die nur durch politische Schuldenschranken begrenzt wird, treibt ein gefährliches Spiel. Er begibt sich auf einen Weg, der Konflikte und Gefahren heraufbeschwören wird, die alles andere als ein Beitrag zu einem friedlichen Miteinander sind, weil er zwischen benachbarten und befreundeten Staaten ein Gläubiger-Schuldner-Verhältnis aufbaut. Der natürliche Konflikt zwischen Gläubigern und Schuldnern, der bislang in Europa stets mit den Mitteln des Rechts auf der privaten Ebene aufgelöst wurde, wird damit auf die Ebene der Politik gehoben. Dieser Weg führt nicht zum erstrebten Ziel der Vereinigten Staaten von Europa, sondern ins Chaos und diskreditiert die europäische Idee. Er setzt die schon erreichte Zusammenarbeit und Integration fahrlässig aufs Spiel. Man leiht einem Freund kein Geld, weil er dann ein Freund gewesen ist. Diesen Grundsatz sollten auch die Europäer beherzigen.
Nicht die Romantiker sind die besseren Europäer, sondern diejenigen, die einen realistischen Weg suchen, der im Einklang mit dem freien Willen der Menschen und den Gesetzen der Ökonomie auf der Basis souveräner Entscheidungen der Parlamente begangen werden kann. Der Weg, der von technokratischen Gremien präjudiziert wird, die ihr Mandat überschreiten, erfüllt diese Bedingungen gerade nicht.