Augsburger Allgemeine, 16. März 2020, S. 8.
Der erfahrene Ökonom meldet sich in der Krise zu Wort. Der 72-Jährige wendet sich mit einem dramatischen Appell an die Bundesregierung
Deutschlands bekanntester Ökonom Hans-Werner Sinn bleibt auch erst einmal zu Hause. „Die Termine werden ohnehin meistens abgesagt und ich gehöre mit 72 Jahren natürlich zur Risiko-Gruppe“, sagt er. Der langjährige Chef des Münchner Ifo Instituts denkt intensiv über diese besondere Krise und ihre ökonomischen Konsequenzen nach. In einem Gespräch mit unserer Redaktion, das natürlich telefonisch stattfindet, gibt er seine Erkenntnisse preis: „Das führt zu einer Rezession, die die Wachstumszahlen für dieses Jahr gründlich verhageln wird, wahrscheinlich deutlich in den Minusbereich hinein.“
Zu der Annahme kommt Sinn, „weil die Seuche wahrscheinlich nicht vor der Sommerpause erledigt sein wird“. Für den Sommer rechnet er „mit einer Verschnaufpause, die wir nutzen müssen, um uns auf den Herbst und Winter vorzubereiten“. Beunruhigt meint der erfahrene Ökonom: „Das ist alles doch dramatischer, als es hier noch vor kurzem aussah.“ Sinn denkt an die Zeit nach der Krise und beschäftigt sich mit der Frage, welche Auswirkungen die Pandemie auf die künftige Gestaltung der Globalisierung hat.
Seiner Ansicht nach sollte die Politik bemüht sein, Teile der pharmazeutischen Produktion aus Sicherheitsgründen wieder in das Heimatland zurückzuholen, „und ihre Hand auf der Medizintechnik zu halten“. Zudem geht er davon aus, „dass das Ausmaß des Tourismus und der Kontakte von Menschen über Grenzen hinweg überprüft wird“.
Und welche ökonomischen Auswirkungen haben die weltweit immer radikaleren Quarantäne-Maßnahmen? Sinn spricht hier „von massiven Einbrüchen im Dienstleistungsbereich und rückläufigen Lieferungen aus Fernost“. Nun drohe ein Versorgungsengpass bei Zwischenprodukten, auch wenn in China das Schlimmste überwunden sei und Containerschiffe erneut beladen würden. Sinn: „Die brauchen schließlich sechs Wochen, bis sie wieder anlanden.“ All das lässt den früheren Ifo-Präsidenten folgern: „Wir erleben derzeit eine gravierende Angebotskrise.“ Ökonomen beschreiben damit eine Lage, in der das Angebot an Waren und Dienstleistungen ins Stocken gerät. Sinn verweist nun auch darauf, dass die lange gut laufende Industriekonjunktur ohnehin seit Sommer 2018 ins Stocken kam und sich in eine Rezession verwandelte.
Dabei werden derzeit oft Vergleiche des aktuellen wirtschaftlichen Einbruchs mit der Finanzmarktkrise von 2008 und 2009 vorgenommen. Sinn warnt hier aber davor, einfach Parallelen zu ziehen: „Denn 2008 war es eher eine Nachfragekrise. Da half die Geldpolitik. Heute ist es eine Angebotskrise wie 1974 die Ölkrise.“ Damals habe der Brennstoff gefehlt, heute seien es die Menschen als Produktionsfaktor, die wegen der Quarantänemaßnahmen nicht arbeiten können.
Daraus leitet der Professor die ernüchternde Botschaft ab: „Deshalb kann die Bundesregierung mit dem bloßen Geldausgeben heute nicht viel erreichen.“ Das war 2008 anders: Während dieser Krise waren die Finanzmärkte zusammengebrochen. In der Folge bekamen Investoren keine Kredite mehr, mit denen sie neue Güter hätten kaufen können. Die volkswirtschaftlich gefährliche Situation konnte durch eine lockere Geldpolitik der Notenbanken und Konjunkturprogramme der Staaten bekämpft werden. Die Krise war also im Gegensatz zu heute eine reine Nachfragekrise. Sinn hält nun nichts davon, in Zeiten ohnehin billigen Geldes den Menschen seitens der Zentralbanken noch günstigere Kredite zur Verfügung zu stellen: „Was macht das etwa in Italien für einen Sinn, wenn die Geschäfte bis auf die Apotheken meistens geschlossen sind? Die Menschen könnten das Geld gar nicht ausgeben.“ Da verwundert es nicht, dass der Wirtschaftswissenschaftler entschieden abwinkt, wenn er nach dem Nutzen von „Helikoptergeld“ gefragt wird. Bei einem solchen Experiment würde die Europäische Zentralbank die Drucker presse anwerfen und neu geschaffenes Geld direkt an die Bürger auszahlen. Der Wirtschafts-Nobelpreisträger Milton Friedman hatte einst einen derartigen Abwurf von Geld mit dem Hubschrauber als Metapher gebraucht, ohne ihn jemals als Politikmaßnahme verstanden zu haben. Ex-EZB-Chef Mario Draghi bezeichnete die Idee einmal als „sehr interessant“, schreckte aber dann doch davor zurück.
Wenn aber Helikoptergeld in Corona-Zeiten aus Sicht von Sinn nichts bringt, weil die Menschen das Geld gar nicht in der Menge ausgeben können und sollen, was muss dann geschehen? Der Top-Ökonom appelliert an Regierungen und Notenbanken, „Firmen und Banken vor dem Untergang zu retten“. Sinn meint: „Dazu kann die Europäische Zentralbank einen Beitrag leisten, indem sie die Freibeträge für die Negativzinsen vergrößert.“ Banken und Geldanleger müssen Strafgebühren zahlen, wenn sie bei der Zentralbank zu viel Geld bunkern.
Der einstige Ifo-Chef hält auch große Stücke auf das deutsche Kurzarbeitergeld, um auf diese Weise Entlassungen zu verhindern. Das Mittel hat sich während der Finanzmarktkrise bewährt. Zudem kann sich Sinn finanzielle Hilfen für Firmen vorstellen, damit sie solvent, also zahlungsfähig bleiben. Dabei würde es ihn nicht stören, wenn Deutschland die Vorgaben der Schuldenbremse nicht mehr einhalten kann: „Eine Seuche ist ein Ausnahmetatbestand des Grundgesetzes.“ Wichtig ist ihm jedoch:
„Wenn Deutschland unter Berufung auf den Notstand mehr Schulden aufnimmt, verlangt das Grundgesetz dazu immer auch einen konkreten Plan, wie diese getilgt werden sollen.“ Nichts hält der Wissenschaftler davon, wenn die EZB noch mehr Staatsanleihen kaufen würde: „Denn dann könnten sich Länder, die sich schwerer refinanzieren können, einfach noch mehr Geld aus der Druckerpresse nehmen, statt sich an die Märkte zu wenden.“
Bei allen ökonomischen Überlegungen beschäftigt sich Sinn mit der Angst der Menschen angesichts der Corona-Krise: „Solch eine Epidemie läuft eine begrenzte Zeit. Nach einer womöglich zweiten Welle im Winter gibt es hoffentlich einen Impfstoff. Dann kommen wir auch wieder ökonomisch auf einen grünen Zweig.“ Optimistisch stimmt ihn auch, dass in China wohl das Schlimmste überwunden zu sein scheint. „Die Chinesen haben die Durchseuchung der Bevölkerung mit ihren drakonischen Maßnahmen verhindert. Nun liefern sie wieder“, sagt er. Und Europa? Sinn bemerkt hier zumindest, „dass die Europäer aus ihrem Traum erwacht sind und erkannt haben, dass man mehr tun muss, als mit schönen Worten auf das Virus zu reagieren und Durchhalteparolen zu verkünden“. Er hofft nun, „dass die deutsche Regierung mit einem Maßnahmenbündel die Ausweitung der Seuche wirklich verhindert“. So sagt er: „Mit Selbstdisziplin und sich in die Armbeuge zu schnäuzen, ist es nicht getan.“
Auf Unverständnis stößt bei Sinndie Position der Bundesregierung, es reiche aus, die Durchseuchung der Bevölkerung zu verlangsamen. Das hält er „für eine Kapitulation“. Der Ökonom ist überzeugt: „Nun schlägt die Stunde einer radikalen Gesundheitspolitik. Da darf uns kein Geld zu schade sein.“ So müsste Deutschland kurzfristig in die Lage kommen, große Teil der Bevölkerung auf das Virus testen und Schutzmasken und Schutzanzüge im eigenen Land herstellen zu können.
Doch der Professor fragt sich: „Wo sind denn bitte die Pläne der Bundesregierung, solche Masken und Schutzanzüge in Deutschland zu erzeugen, wo die Pläne zur Beschaffung der nötigen Lungenmaschinen, wo die Pläne zur Ausweitung der Intensivstationen der Krankenhäuser?“ Sinn ist überzeugt: „Wir befinden uns im Krieg gegen das Coronavirus. Drakonische Eingriffe in die Wirtschaft sind erforderlich, um den Krieg nicht zu verlieren.“
Das Interview führte Stefan Stahl.
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