Berliner Zeitung, 2. Dezember 2024, Nr. 281, S. 17.
Egal ob bei VW, Ford, Continental, Bosch, Thyssenkrupp oder BASF: Kaum ein Tag im Jahr 2024 vergeht ohne eine neue Meldung über Gewinnverluste, Umsatzeinbrüche, massiven Stellenabbau, Werkschließungen oder sogar Insolvenzen. Die deutsche Wirtschaft ist in eine schwere Krise gestürzt.
Die Liste der Unternehmen, die deswegen in schwere Fahrwasser geraten, wird länger und länger. Dabei dürfte die von den angeschlagenen Firmen angeführten Probleme des Wirtschaftsstandorts Deutschland mittlerweile jeder im Land auswendig können: zu viel Bürokratie, hohe Energiepreise, Fachkräftemangel, Personalkosten, schlechte Infrastruktur, fehlende Digitalisierung oder auch vergleichsweise hohe Steuern.
Die Suche nach einem Weg aus der Krise wirft ebenso viele Fragen auf wie die Ursachenforschung der Krise. Ist Deutschland mittlerweile von anderen Ländern abgehängt? Ist – wie von Kritikern häufig zu hören – allein die gescheiterte Ampelregierung für den Zustand des Landes verantwortlich? Welche Fehler wurden bereits zuvor in den letzten Jahren begangen? Der Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn, ehemaliger Leiter des ifo Instituts, liefert im Interview mit der Berliner Zeitung einen Erklärungsversuch und rechnet mit der Arbeit der Bundesregierung und der EU-Politik ab.
Berliner Zeitung: Herr Sinn, Deutschlands Wirtschaft durchlebt momentan eine äußerst schwere Zeit. Zahlreiche Unternehmen schließen Werke und bauen umfangreich Stellen ab. Jüngstes Beispiel ist Thyssenkrupp. Überraschen Sie solche Meldungen überhaupt noch?
Hans-Werner Sinn: Nein, das überrascht mich nicht, denn ich habe jetzt seit einigen Jahren genau davor gewarnt als Folge der EU-Verbrennerverbote.
Trotz Miniwachstum im dritten Quartal wird erwartet, dass die deutsche Wirtschaft 2024 im zweiten Jahr in Folge eine Rezession verkraften muss. Wie schätzen Sie die Situation ein?
Es findet eine Deindustrialisierung statt. Die Industrie ist mit ihren Exporten das Rückgrat unserer Wirtschaft, sie macht ein Fünftel der Wirtschaftsleistung aus. Die meisten Industriesektoren sind jetzt schon seit 2018 im Rückschritt. Wir haben in diesen sieben Jahren zweistellige Schrumpfungsraten.
Sie sagten kürzlich, Deutschland stehe an einem historischen Wendepunkt seiner Entwicklung. Wie ernst ist die Lage für unser Land?
Die Deindustrialisierung wurde bislang vor allem durch die Klima- und Energiepolitik der EU hervorgerufen, die auf dem Wege von EU-Verbrauchsverboten für fossile Brennstoffe und hohen Energiepreisen zu einer Drosselung der Wirtschaft führte. Und nun kommt noch Trump. Als die EU der deutschen Autoindustrie mitteilte, sie könnten ihre Verbrennungsmotoren bald nicht mehr in Europa verkaufen, blieb noch das Schlupfloch, diese Motoren anderswo, zum Beispiel in den USA, zu verkaufen. Aber das will Trump jetzt mit neuen Zöllen verhindern, während er zugleich ein ganz anderes Schlupfloch öffnet: Die deutschen Hersteller sollen nicht die Autos, sondern gleich ihre ganzen Autofabriken in die USA exportieren. Die Vorstände der Autofirmen mögen bei dem Thema gelassen bleiben. Doch für die Bevölkerung ist das der Supergau.
Was bedeutet diese Wirtschaftskrise perspektivisch für den einzelnen deutschen Bürger?
Sie bedeutet perspektivisch eine Verminderung unseres Wohlstands. Davor bliebe keiner verschont. Die Autoindustrie ist das Herzstück unserer Wirtschaft. Wir haben die Verbrennungsmotoren im 19. Jahrhundert erfunden und produzieren heute hocheffiziente Motoren, die uns keiner nachmachen kann – nicht einmal die Koreaner oder die Japaner. Sie sind quasi ein Alleinstellungsmerkmal der deutschen Automobilindustrie geworden. Der Doppelgriff von EU und Trump droht nun aber, die Hersteller aus Deutschland herauszuquetschen.
Die Amerikaner fingen an mit Stickoxid-Vorgaben, dann kam Volkswagen mit der Mogelei bei den Abschaltvorrichtungen und dann die EU, die sich plötzlich am CO₂-Thema aufgehängt hat und die Automobilfirmen seit 2018 mit getürkten Formeln für den CO₂-Ausstoß der Autos stranguliert. Und dann kommt ab 2035 noch ein hartes Verbrennerverbot. Schon im Jahr 2018 sind CO₂-Grenzwerte für die Flotte eines Herstellers verhängt worden, die darauf hinauslaufen, dass ein Auto im Schnitt nur mit nur 2,2 Litern Diesel-Äquivalenten pro 100 Kilometer fahren soll. Das ist technisch gar nicht darstellbar.
Der Trick der EU ist, dass Elektroautos in die Flotte eingebaut werden sollen, die angeblich einen CO₂-Ausstoß von null haben. Zwei Drittel Elektroautos machen aus 2,2 Litern 6,6 Liter – das geht dann schon für das eine Drittel Verbrennerautos, die man noch produziert. Aber eben nur mit einer Mogelei: Denn die Elektroautos haben selbstverständlich auch einen CO₂-Ausstoß in Form des Schornsteins, der einfach etwas weiter weg im Kohle- oder Gaskraftwerk liegt.
Dennoch gibt es Stimmen aus der Politik, die sagen, dass die Situation dramatisiert würde. Auch Kanzler Scholz wird nicht müde zu betonen, was für ein Wunder es sei, dass Deutschland die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt ist und betonte kürzlich in einer Fragerunde bei Instagram, dass sich die Bürger in Deutschland keine Sorgen machen müssten. Reden der Kanzler und andere Politiker das Problem klein?
Ja, ganz offensichtlich. Seit 2018 ist die Industrieproduktion um 15 Prozent und der Automobilbau um 18 Prozent zurückgegangen. Diese Zahlen sprechen für sich.
Ob Bürokratie, Energiepreise, Fachkräftemangel, mangelnde Digitalisierung oder zu hohe Steuern: Die Liste der beklagten Probleme von Unternehmen ist so lang wie bekannt. Was aber ist das entscheidendste Problem unseres Wirtschaftsstandorts?
Das Kernproblem ist der Extremismus in der Klimapolitik. Denken Sie nur mal an das Energie-Effizienz-Gesetz vom letzten Jahr, das diesen komischen euphemistischen Namen trägt. In Wahrheit ist es ein Deindustrialisierungs-Gesetz, denn von 2008 bis 2045 muss der Energieverbrauch insgesamt in Deutschland um 45 Prozent schrumpfen – selbst dann, wenn er bis dahin vollkommen grün geworden sein sollte.
Es kommen andere Themen hinzu: Facharbeitermangel, Demografie oder die exzessive Regulierung der EU, die inzwischen 30 Prozent unserer Gesetzgebung erklärt. Und dann gibt es ja noch zusätzlich Verordnungen, die in der EU beschlossen und direkt wirksam werden. Das ist ein Geflecht aus Zwirnsfäden, welches um den Gulliver herumgewickelt wird. Die Zwirnsfäden sind der Trick der Zwerge, um den Riesen Gulliver zu fesseln.
Wann hat dieser wirtschaftliche Abschwung Deutschlands begonnen? Gibt es einen bestimmten Zeitpunkt?
Ja, 2018. Da kam der Trend-Bruch durch die massive Verschärfung der CO₂-Verordnung für den Flottenausstoß eines Fahrzeugherstellers. Hinzu trat der allmähliche Ausbau der Wind- und Solarenergie. Der hat die Stromkosten nicht gesenkt, wie viele meinten, sondern erhöht, denn wegen der Unstetigkeit des Wetters kann zwar der grüne Strom den schwarzen Strom temporär ersetzen, doch machen die grünen Anlagen die traditionellen Anlagen als solche nicht entbehrlich. Die müssen dauerhaft in Wartestellung bleiben und einspringen, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint. Allein funktioniert der Flatterstrom nun mal nicht.
Man muss die Kraftwerke nicht immer laufen lassen – aber die Mannschaft muss Gewehr bei Fuß stehen und die Anlagen müssen gewartet und erneuert werden, damit die Stromversorgung gesichert ist. Es entstehen also doppelte Fixkosten. Kein Wunder, dass Deutschland so ziemlich die höchsten Stromkosten auf der Welt hat. Der Bundesrechnungshof nennt diese Politik der Bundesregierung „wirklichkeitsfremd“. Dass auch Putin zum Schluss noch zur Krise beitrug, sollte man allerdings auch nicht vergessen.
Sie sagen, die Deindustrialisierung sei bereits im vollen Gange. Was bedeutet das für die Auto- und die Chemiebranche? Können VW oder BASF überhaupt noch gerettet werden?
Ja, man kann sie retten, man muss sogar. Sie können von heute auf morgen gerettet werden, wenn man diese unsinnigen Verbrennerverbote aufgibt.
Und die Chemieindustrie?
Dafür muss das Verordnungsgerüst abgebaut werden. Beispielsweise die Taxonomie-Verordnung, die Unternehmen dazu zwingt, mit grünerer Energie zu arbeiten und dadurch auch teurere Energie abzunehmen. Beispielsweise ist die Vorstellung, die Chemieindustrie auf Wasserstoffbasis arbeiten zu lassen, zwar technisch möglich, aber unbezahlbar. Dann geht die Industrie lieber weg.
Sie halten also den unter anderem von Wirtschaftsminister Robert Habeck stark forcierten Umstieg auf Wasserstofftechnologie für unrealistisch?
Sie ist einfach sehr teuer. Das lässt sich in einer wettbewerblichen Weltwirtschaft noch nicht realisieren. In der Chemie jedenfalls definitiv nicht. Man hat das mal ausgerechnet: Man könnte zwar einen Großteil der traditionellen Chemieprodukte herstellen. Doch, wie eine Studie des Chemieverbandes zeigt, würde man dafür so viel Strom verbrauchen, wie die Bundesrepublik heute insgesamt verbraucht. Deswegen sagen die sich da natürlich: „Nein danke, da gehe ich lieber woanders hin auf der Welt und produziere da.“
Welchen Anteil tragen die deutschen Unternehmen selbst an der Krise?
Die Frage ist irrelevant für die Wirtschaftspolitik, weil die Antwort keine politikrelevanten Konsequenzen hätte. Wollen Sie etwa bessere Manager verordnen? Relevant ist indes die Feststellung, dass die Firmen von einem Übermaß staatlicher Bürokratie gefesselt werden und dass der Kapitalmarkt Defizite hat, die das Ansammeln großer Kapitalmengen und eine wirksame Unterstützung von Start-ups verhindern.
Auch muss man das Ausbildungssystem in den Blick nehmen. Die duale Ausbildung ist die eigentliche Stärke unseres Landes. Sie funktioniert im Prinzip zwar noch. Schade ist jedoch, dass sie bei jungen Menschen aus dem Ausland kaum Anklang findet. Auch die Pisa-Tests für die 15-jährigen Schüler zeigen schon seit zwei Jahrzehnten einen Rückschritt. Ausbildungsmäßig liegt vieles bei uns im Argen – deswegen ist auch die Digitalisierung in Deutschland kaum fortgeschritten. Hier kann der Staat helfend eingreifen.
Bei einer Veranstaltung des Wirtschaftsbeirats Bayern im Mai, bei der auch Sie eine Rede hielten, holte Börsenchef Theodor Weimer zu einem denkwürdigen Rundumschlag gegen die Wirtschaftspolitik aus und sagte, Deutschland befinde sich auf dem Weg zum Entwicklungsland. Teilen Sie diese drastische Darstellung?
Der Weckruf war wichtig und kam zur richtigen Zeit. Unsere Industrie wird zerbröseln wie einst die englische, wenn wir nicht aufpassen. Unsere letzten beiden Kanzler waren im Ökonomischen eher taktisch als strategisch orientiert. Die mediale Macht der grünen Bewegung hatte sie in Angst und Schrecken versetzt. Angela Merkel sprach von der asymmetrischen Demobilisierung, also ihrem Versuch, den Grünen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Und Olaf Scholz hat noch im letzten Jahr behauptet, wir würden aufgrund der grünen Energie Wachstumsraten wie zur Zeit des Wirtschaftswunders bekommen. Davon kann ja wirklich nicht die Rede sein.
Wie kann man durch lauter Produktionsverbote Wachstum erzeugen? Das war eine völlig abwegige Behauptung. Den Leuten wurde vorgemacht, sie könnten zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – also grüne Energie haben und gleichzeitig wirtschaftliche Vorteile durch eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Tatsächlich war es umgekehrt.
Ich will nicht gegen grüne Energie an sich reden, sie hat viele Vorteile. Sie ist sauber und macht uns autark, Elektroautos fahren elegant. Grün ist aber auch die Atomenergie, und sie hat den Vorteil der Regelbarkeit. Die paar Brennstäbe, die gebraucht werden, kann man überall einkaufen und lange bevorraten. Die viel behaupteten Gesundheitsrisiken lassen sich im Vergleich zu anderen Energieformen empirisch nicht belegen. Mit der Atomenergie kommt wirklich Leistung aus den Meilern. Ich halte es für unverantwortlich, dass man mitten im Krieg, den Russland angezettelt hat, sowohl die Kohlekraftwerke als auch die restlichen Atomkraftwerke abgestellt hat. Kein Land außer Deutschland steigt aus der Atomkraft aus. Wir sind die Geisterfahrer auf der Autobahn.
Sie sagen einerseits, dass das Verbrennerverbot und die CO₂-Beschränkungen zurückgenommen werden müssen. Andererseits sagen auch Sie, dass Klimaschutz und eine Verringerung des CO₂-Ausstoßes notwendig sind. Wie können wirtschaftlicher Erfolg und Klimaschutz Hand in Hand gehen?
Das kann nur gehen, indem man es global macht. Unilateral funktioniert es nicht, also wenn man es allein macht, so wie Europa. Die EU ist für acht Prozent des weltweiten CO₂-Ausstoßes verantwortlich. Da könnte man natürlich sagen: Wenn man diese acht Prozent beseitigt, ist ja schon einiges geschafft. Aber: Wenn Europa sich beispielsweise beim Öl Verbrennerverbote verhängt, ob für Autos oder Ölheizungen, verbietet es ja nur die Öl-Nachfrage auf den Weltmärkten und senkt dadurch allenfalls die Weltmarktpreise. Das regt andere Länder an, uns Europäer zu unterlaufen und das frei werdende Öl zu kaufen. Die Einschränkung der Nachfrage nach Öl führt indes nicht dazu, dass mehr Öl in der Erde bleibt.
In den letzten 40 Jahren hat man ja gesehen, wie der Ölmarkt funktioniert. Die Preise gingen rauf und runter. Und was passierte mit der weltweiten Ölproduktion? Nichts! Sie stieg ungeachtet der Preisausschläge kontinuierlich an, und was aus der Erde herauskam, wurde auch verbrannt. Wenn eine Region weniger kaufte, fielen die Preise und die Tanker fuhren dann anderswohin.
Nur die Corona-Pandemie war eine Ausnahme. Als überall die Räder der Industrie stillstanden, blieb den Ölproduzenten nichts anderes übrig, als weniger zu fördern, weil die Preise sonst unter die Extraktionskosten gefallen wären. Erst da ging der CO₂-Ausstoß zurück. Also: Unilaterale Maßnahmen wie das europäische Verbrennerverbot ruinieren unsere Industrien, haben aber keinen Einfluss auf den Klimawandel. Ein Klimaklub, bei dem alle mitmachen, würde jedoch funktionieren.
Deutschland hat also ihrer Meinung nach gar keinen Einfluss auf den Anteil fossiler Energien?
Es hat keinen Einfluss auf die Menge Öl, die weltweit gefördert und verbrannt wird, nur auf die geografische Verteilung der Verbrauchsmengen. China hat beispielsweise in den letzten 15 Jahren den Anteil von Öl an seiner Gesamtenergie vergrößert. Das könnte auch an der Nachfragedrosselung in Europa gelegen haben. Sicher, China geht auch in die grüne Energie. Auch baut es viele neue Kernkraftwerke. Aber die grüne Energie kommt da eben einfach on top. Sie verhindert jedenfalls kein Öl in die Erde.
Es gibt genug Regionen auf der Welt, wo das Öl zu den fallenden Preisen gerne aufgenommen wird. Deswegen ist diese europäische Strategie eine Strategie der Industrievernichtung und der Subventionierung der weltweiten Konkurrenz. Es ist keine Politik, von der man annehmen könnte, dass sie irgendetwas zum Ziel beiträgt, den CO₂-Verbrauch zu vermindern. Wir können nicht einfach aufhören, irgendwas weniger zu kaufen, was auf den Weltmärkten so oder so gehandelt wird. Wir haben überhaupt keinen Einfluss darauf, wo die nicht verwendeten Mengen bleiben.
Wie sollte Klimaschutz stattdessen umgesetzt werden?
Man sollte die Nachfrage nach international handelbaren Brennstoffen nicht einschränken, sondern die Extraktion verringern, man muss das Zeug in der Erde lassen – nur haben wir leider keine Ölquellen bei uns. Man kann es aber auch wieder hineinstopfen, da reden wir über das Thema Sequestrierung.
Heißt: Man sondert das CO₂ ab, das bei der Verbrennung entsteht, verflüssigt es durch hohen Druck und pumpt es dann unter dem Meeresboden in irgendwelche alten Gasfelder. Da bleibt es dann auch liegen, weil diese Flüssigkeit schwerer ist als Wasser. Schon ab 42 Metern Meerestiefe bleibt das Methan flüssig und lässt sich in Kavernen und leeren Gasfeldern speichern, ohne dass es heraussprudelt. Das wäre der Weg, der geht. Dieser Kohlenstoff ist dann weg.
Zusätzlich könnten wir auch aufhören, die Braunkohle zu extrahieren – denn die liegt auf deutschem Territorium. Wenn wir damit aufhören, ist der darin gebundene Kohlenstoff gesichert, es sei denn, fremde Mächte greifen mit militärischen Mitteln darauf zu oder nachfolgende Generationen werden leichtfertig.
Fast nirgends auf der Welt sind die Energie- und Strompreise so hoch wie bei uns. Wie muss die deutsche Energiepolitik in Zukunft aussehen, damit unser Wirtschaftsstandort wieder attraktiver wird?
Ganz einfach: Wir müssen die Atomkraftwerke wieder anmachen. Die stehen ja zum Glück noch größtenteils. Und man kann sie zu vertretbaren, niedrigen Kosten wieder aktiveren – deutlich geringeren Kosten als beim Neubau. Das wäre bei weitem die billigste Energiequelle. Und sie ist – anders als der grüne Strom – regulierbar. Der grüne Strom darf ins Netz, wenn er kommt, und dann müssen die Netzbetreiber überlegen, ob sie ihn überhaupt brauchen.
Ein Atomkraftwerk können Sie beliebig regulieren und den Strom dann beziehen, wenn man ihn braucht. Er ist somit auch ein guter Partner für die grüne Energie. Zum Ausgleich des Wind- und Sonnenstroms könnten wir statt der Braunkohle auch Atomkraftwerke nehmen. Das wäre besser für die Umwelt.
Es gibt aber auch deutliche Kritik an der Atomkraft, unter anderem wegen der Endlagerungs-Problematik oder Fällen wie der Nuklearkatastrophe in Fukushima 2011.
Ich finde, dieses Thema ist total überzogen. Wenn die Strahlung unten in der Erde ist, dann addiert sie sich zur natürlichen Strahlung. Da kommt an der Oberfläche nichts an. Wenn Sie vom Schwarzwald an den Zaun eines Atomkraftwerks an der Unterweser umziehen, dann haben Sie dramatisch weniger Strahlenbelastung als durch die Felsen im Schwarzwald. Das bisschen Zusatzstrahlung, das durch die Atomenergie entsteht, ist im Vergleich zu den natürlichen Variationen der Strahlung je nach Standort absolut vernachlässigbar.
Und bezüglich der Sicherheit von Atomkraftwerken: Nichts ist ohne Risiko. Jedes Jahr sterben durch die Kohleverbrennung 120.000 Menschen, die meisten davon an Lungenerkrankungen, 20.000 in den Minen. Relativ zur erzeugten Energie ist die Atomkraft empirisch viel sicherer. Googeln Sie mal die Statista-Zahlen dazu. Bei Fukushima ist bislang überhaupt keiner an der Strahlung gestorben, das waren alles Opfer des Tsunamis. Wenn etwas nicht funktioniert an diesen Anlagen, dann muss man sie eben besser machen. Wir fahren ja auch noch immer mit Passagierschiffen freiwillig über die Meere, obwohl die Titanic untergegangen ist. Man muss die Gefahren eben ausmerzen, indem man sich durch bessere technische Anlagen davor schützt.
Halten Sie eine Rückkehr zur Atomkraft für realistisch?
Ja, ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass es da eine Kehrtwende geben wird. Es geht ja nicht anders. Die nackte Not zwingt uns zu einer Änderung des Kurses. Auch wenn das viele Menschen noch nicht eingesehen haben.
Muss sich Deutschland neu erfinden, falls die laut Ihnen eingetretene Deindustrialisierung nicht aufgehalten werden kann?
Sie kann und muss aufgehalten werden durch den sofortigen Stopp unilateraler Nachfrageeinschränkungen bei international handelbaren Brennstoffen. Im Übrigen: Welche Dienstleistungen sollen wir verkaufen? Gut, Sie können die Digitalisierung mit dazu rechnen, da müssen wir in der Tat sehr viel stärker werden. Wir könnten auch versuchen, auf den Zug der Quantencomputer aufzusteigen – da sind wir Deutschen gar nicht schlecht. Die neue Pharmaindustrie ist auch ganz toll. In der Grundlagenforschung haben wir vieles zu bieten, da kann man noch einiges herauskitzeln.
Aber wir können doch nicht unsere Industrie in ihrer Gesamtheit ersetzen – das ist das deutsche Erfolgsmodell. Mit diesem Modell sind wir 150 Jahre lang gefahren, mit immer wieder neuen Produkten. Deswegen halte ich es für verwegen, das zu probieren.
China subventioniert aufstrebende Unternehmen wie BYD mit rund zwei Milliarden Euro. Die USA locken mit ihrem Inflation Reduction Act (IRA), der große steuerliche Anreize für Unternehmen bietet. Wie kann Deutschland dagegenhalten und was kann es von anderen Ländern lernen?
Der Hang zum Protektionismus, der von Amerika ausgeht und jetzt auch von der EU verstärkt wird, ist ungut. Wenn es einen Protektionswettlauf in der Welt gibt, dann verlieren insbesondere die Länder, die bislang gut im internationalen Handel ihr Geld verdient haben. Und dazu gehört Deutschland in vorderster Linie.
Ich glaube, wir müssen versuchen, Trump auszusitzen und eine Gegenstrategie zu entwickeln. Die kann aber nicht darin bestehen, dass wir uns von ihm unter Druck setzen lassen, nun auch nicht mehr nach China zu liefern. Wir müssen die chinesische Karte spielen gegen Trump. Das kann natürlich nur behutsam geschehen, aber zwingend mit einem klaren Verständnis, wo die deutschen Vorteile liegen.
China ist auf absehbare Zeit die größte Volkswirtschaft der Erde. Es ist unvernünftig, die Verbindungen mit China zu kappen. Wir müssen möglicherweise die Chance nutzen und uns militärisch stärken. Trump sagt ja auch, dass wir da mehr Geld ausgeben sollen. Vielleicht hat Europa diesen Anstoß gebraucht, dass es jetzt endlich versucht, sicherheitstechnisch auf eigenen Beinen zu stehen. Ich will keinesfalls gegen die Nato sprechen. Die Verbindung ist sehr gut, und es wird auch eine Zeit nach Trump geben. Aber Europa muss hier eine solidere Position einnehmen, um zwischen den Mühlensteinen Trump und Putin – und auch ihren Nachfolgern – nicht zermahlen zu werden.
Wir können unsere Industrie nur dann stärken, wenn wir nicht akzeptieren, dass uns Auflagen gemacht werden, nicht an Dritte zu liefern. Wir müssen Kunden auf der ganzen Welt suchen. Zum Beispiel auch in Südamerika. Das Mercosur-Abkommen muss jetzt endlich beschlossen werden. Es ist ja auch schon ausgehandelt. Die Franzosen halten aus Angst vor den Agrarimporten dagegen, aber das kann sich Europa nicht leisten. Wir müssen uns Trump widersetzen, wenn er uns zwingen will, mit China zu brechen.
In einem Gastbeitrag in der FAZ bezeichneten Sie die deutsche Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre als utopisch. Was war ihr erster Gedanke, nachdem die Ampel ihr Aus bekanntgegeben hat?
Die Deindustrialisierung hat nicht nur mit der Ampelregierung zu tun. Die genannten Utopien beziehen sich auf die erwähnten klima- und energiepolitischen Vorgaben der letzten Jahrzehnte. Da gab es das Energie-Effizienz-Gesetz der letzten Regierung, die Fast-Verbrennerverbote der vorherigen Regierung 2018 oder 2011 den Beschluss, aus der Atomkraft auszusteigen. Es hat also eine längere Historie.
Einige der gefassten Beschlüsse waren utopisch. Überlegen Sie mal: Wir haben uns gesetzlich verpflichtet, von 1990 bis 2045 beim CO₂-Ausstoß der Bundesrepublik auf null zu kommen. Von diesem Weg haben wir 43 Prozent geschafft. Das sieht zwar gut aus, aber das lag am Untergang der DDR-Industrie, an der grünen Energie und an der beginnenden Deindustrialisierung der letzten Jahre.
Wir können die restlichen 57 Prozent nicht in 20 Jahren schaffen, denn die niedrig hängenden Früchte sind alle gepflückt. Die Vorstellung, die mit dieser Gesetzeslage in den Raum gestellt wird, ist vollkommen absurd. Man muss sich fragen, was die Gesetzgeber hier überhaupt getrieben haben, dass sie Ziele beschließen, die nur um den Preis der Deindustrialisierung zu erreichen sind. Dass es nicht funktioniert, merken wir jetzt alle. Alle diese Gesetze sind Makulatur und werden in Kürze geändert werden.
Welchen Anteil trägt die Ampelregierung?
Das kann ich nicht sagen. Die hat es nur fortgesetzt. Die Merkelpolitik ist ja auch schon aus Angst vor den Grünen entstanden.
Was muss die nächste Bundesregierung tun, um die deutsche Wirtschaft wieder zu stärken?
Sie muss eine Kehrtwende machen. Stellen Sie es sich so vor: Die Deutschen sind gerade auf einer Wandertour und sehen auf einem Hügel eine wundervolle Burg, zu der sie hinwollen. Der eingeschlagene Weg wird aber immer steiler und führt erkennbar anderswohin. Unser Gruppenleiter will seinen Fehler nicht eingestehen und fordert, dass wir durchhalten. Aber irgendwann müssen wir doch erkennen, dass das der falsche Weg war, zur letzten Gabelung zurückgehen und einen anderen Weg probieren.
Welche Partei müsste denn regieren, damit solch ein Kurswechsel stattfinden könnte?
Ich sehe bei allen Parteien einen Umdenkprozess. Und das ist auch gut so.
Das Interview führte Flynn Jacobs.
Nachzulesen auf www.berliner-zeitung.de.