Keine Zinsen, dafür eine galoppierende Inflation. Mit ihrem Zaudern und Zögern in der Geldpolitik befeuert Christine Lagarde die Entwertung des Euro. In Deutschland sitzen deswegen ihre ärgsten Kritiker. Wie lange noch hält sie ihren Kurs durch? Und was treibt die Französin wirklich an?
Sie wartet noch ein bisschen. Die Kollegen der wichtigen Zentralbanken haben es bereits getan: Jerome Powell zum Beispiel von der US-Notenbank hat den Leitzins erhöht. Die Australier haben es gemacht. Und auch die Bank of England hat angesichts einer Rekordinflation die Zinsen angehoben. Wann kommt endlich die Zinswende?
Nur Christine Lagarde wartet. Erst war es das erste Halbjahr 2022, dann sollte es Juli werden. Jetzt ist eher von September die Rede, bis sich die Chefin der Europäischen Zentralbank aufraffen will, die Zinsen im Euroraum zu erhöhen und damit zumindest einen entscheidenden Schritt zu unternehmen, um die überschießende Geldentwertung einzudämmen. Sie zögert, sie zaudert, sie macht den Euro zu einer Weichwährung und entwertet das Geld der Menschen und Unternehmen, die es auf dem Konto oder in der Kasse haben, in einer Geschwindigkeit, wie die es seit bald einem halben Jahrhundert nicht erlebt haben. Christine Lagarde ist die Mutter der Inflation. Was treibt diese Frau?
Geboren am Neujahrstag 1956 in Paris, aufgewachsen in der Normandie als Tochter einer Lateinlehrerin und eines Literaturdozenten, später Synchronschwimmerin in der französischen Nationalmannschaft, Arbeitsrechtlerin und von 1999 bis 2004 Chefin der internationalen Anwaltskanzlei Baker & McKenzie in Chicago - ist Lagarde eines nicht: Ökonomin. „Dabei hat sie das meiste Geld", sagt der frühere Ifo-Chef Hans-Werner Sinn und fügt hinzu: „Es wäre gut, sie hätte auch die ökonomische Fachausbildung, um zu wissen, wie man es ausgibt.“
EZB-Bilanz auf Rekordwert aufgebläht
Der Hieb sitzt. Denn ganz offenbar ist ihr die Ausgabenseite etwas aus dem Blick geraten. 8,8 Billionen Euro beträgt inzwischen die Bilanzsumme der EZB, das ist einsamer Rekord in ihrer Geschichte. Obwohl die Inflation mit Monatsraten von deutlich über sieben Prozent die Menschen im Euroraum, dessen Wirtschaft lange nicht so schnell wächst, ärmer macht, flutet die Europäische Zentralbank die Märkte noch immer mit Geld aus der Notenpresse. Seit Jahresbeginn sind 250 Milliarden Euro hinzugekommen. Lagarde, die elegante Französin, die von sich sagt, sie kenne die Preise, weil sie selbst an ihrem Arbeitsort in Frankfurt Joghurt und Milch im Supermarkt einkaufe, könnte die Notenpresse anhalten. Aber sie macht es nicht.
Im Gegenteil. Ende 2019 kurz nach Lagardes Amtsantritt lag die EZB-Bilanzsumme bei 4,7 Billionen Euro. Unter ihrer Führung druckt die Notenbank jeden Monat 137 Milliarden Euro neues Geld, an jedem einzelnen Tag sind das 4,6 Milliarden zusätzlich. Hierin liegt eine Ursache für die galoppierende Inflation. Wer einmal versucht hat, Sand in der Sahara zu verkaufen, weiß, dass ein Gut, von dem alle viel haben, nichts wert ist. Mahnungen, das ausufernde Gelddrucken zu beenden, prallen an ihr und ihren Beratern ab: Es handele sich bei der Inflation nur um ein vorübergehendes Phänomen, sagen sie. Sonderfaktoren wie die Pandemie oder Lieferkettenprobleme seien schuld, es werde sich alles normalisieren.
Der ehemalige deutsche Bundesbankpräsident Jens Weidmann, ein beharrlicher Mahner für eine solide Geldpolitik, hatte sich noch im vergangenen Jahr auf einem Kongress in Frankfurt ein Rededuell mit Lagarde geliefert: „Dem Eurosystem wurde Unabhängigkeit gewährt, um sein vorrangiges Ziel der Preisstabilität zu erreichen. Je weiter wir unser Mandat auslegen, desto mehr laufen wir Gefahr, uns mit der Politik zu verstricken und uns mit zu vielen Aufgaben zu überfrachten.“ Angesichts der beträchtlichen Unsicherheiten über die Inflationsaussichten sollte sich die Geldpolitik nicht zu lange auf ihren derzeit sehr expansiven Kurs festlegen, sagte Weidmann: „Wenn es zur Sicherung der Preisstabilität erforderlich ist, muss die Geldpolitik insgesamt normalisiert werden. Das sollte jedem klar sein - den Finanzmärkten ebenso wie den Regierungen, deren Finanzierungskosten steigen könnten."
Der Satz war an Lagarde gerichtet, die damals entgegnete: Die Notenbank dürfe „nicht zu einer vorzeitigen Straffung der Geldpolitik übergehen, wenn sie mit vorübergehenden oder angebotsbedingten Inflationsschocks konfrontiert ist. (…) In einer Zeit, in der die Kaufkraft bereits durch höhere Energie- und Treibstoffkosten geschmälert wird, würde eine unangemessene Straffung einen ungerechtfertigten Gegenwind für den Aufschwung bedeuten.“ Der Ausgang dieses Rededuells ist bekannt: Weidmann trat zurück. Dann kam mit dem Ukraine-Krieg der nächste Inflationsschock. Die Energiepreise explodierten, aber Lagarde reagierte immer noch nicht.
Folge von Lagardes Zögern: Schuldenländer bekommen weiter billiges Geld
Die ökonomische Begründung für ihr Nichtstun beim Zins kann nur eine sein: Die Geldschwemme soll es der EU, Frankreich und den südeuropäischen Ländern leichter machen, die hohen Verschuldungen zu refinanzieren und die Pandemiefolgen abzumildern. Auch Deutschland profitiert: Die schwarze Null im Bundeshaushalt, die zunächst Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) propagiert hatte und die Olaf Scholz (SPD) als Finanzminister dann von ihm lange Zeit übernahm, kam zustande, weil es mit einmal so günstig wie nie war, Schulden zu machen. Ob dies ein echter oder ein scheinbarer Vorteil ist, dazu äußern sich Finanzminister in der Regel nicht. Klar ist jedoch inzwischen: Die Inflation frisst alle Vorteile auf, die echten und die scheinbaren.
Lagarde kann Dinge aussitzen. 2005 hatte sie ihre Karriere als Anwältin zugunsten einer politischen Laufbahn an den Nagel gehängt. Sie trat in die französische Regierung ein, erst als Handelsministerin, dann als Wirtschafts- und Finanzministerin. In diese Zeit fällt auch die bis dahin kritischste Episode ihrer Karriere, die sonst so gerade nach oben gerichtet war. In einem Wirtschaftsprozess ging es darum, ob Lagarde dem früheren Adidas-Großaktionär Bernard Tapie begünstigt hat, indem sie vorschnell einen Vergleich zwischen Tapie und einer staatlichen Bank absegnete.
Ein Schiedsgericht hatte Tapie rund 400 Millionen Euro Schadensersatz zugesprochen - aus öffentlichen Geldern. Lagarde hatte den Spruch akzeptiert und keinen Einspruch erhoben – was zu einer Anklage wegen Fahrlässigkeit führte. Der Schuldspruch erreichte sie, als sie bereits die nächste Sprosse auf der Karriereleiter genommen hatte: Sie war Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF) geworden. Da war es gut, dass die Richter sie zwar für schuldig befanden, aber keine Strafe verhängten. Und im Amt erhielt sie Lob: Der damalige US-Finanzminister Timothy Geithner beschied ihr außergewöhnliches Talent und große Erfahrung, die für den Chefposten beim IWF von unschätzbaren Wert seien. Die so Gerühmte wird 2019 Nachfolgerin von Mario Draghi an der Spitze der Europäischen Zentralbank. Es war eine Art Gegengeschäft: Deutschland hatte Ursula von der Leyen als EU-Präsidentin aufs Schild gehoben, Frankreich bekam nun den EZB-Vorsitz. Lagarde übernimmt von Draghi dessen Credo vom „Whatever it takes“.
Amtsstart in Krisenzeiten
Statt langsam in das Amt hineinzuwachsen zu können, fand sie sich angesichts der Corona-Pandemie schnell im Krisenmodus wieder. Der Leitzins lag bereits unter Draghi bei Null, die EZB fuhr gigantische Kaufprogramme für Staatsanleihen, um Geld in die Märkte zu pumpen. Unter Lagarde legte sie mit dem Pandemie-Notfallankaufprogramm PEPP nach, das inzwischen 1,85 Billionen Euro umfasst. „Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliches Handeln", twitterte Lagarde damals.
Einer ihrer Kritiker ist der CSU-Europaparlamentarier Markus Ferber. Er hat vor einigen Monaten in der „Augsburger Allgemeinen“ Lagarde so beschrieben: Sie „bewegt sich auf einer Ebene, auf der sie an keine Weisungen gebunden ist.“ Nur eine Fessel müsse sie tragen: „Gefangen ist sie in der Politik der EZB, die sie von ihren Vorgängern geerbt hat.“ Die EVP, größte Fraktion im Europaparlament, warnt Lagarde seit Monaten, dass die Bürger das Vertrauen in die Geldpolitik verlieren, wenn ihnen durch hohe Inflation „Monat für Monat Geldwert geraubt“ werde. Der „Inflationssteuer-Effekt“ sei politisch explosiv, weil hier ohne demokratische Legitimation Millionen Bürger kalt enteignet würden. Andere Kritiker sitzen bei den Banken, deren Geschäft mangels Zinsen unter Druck gekommen ist. Die Währungshüter hätten monatelang die Inflation selber befeuert, heißt es beispielsweise von den Sparkassen. Damit verstoße die EZB gegen ihren zentralen Auftrag, Preisstabilität zu sichern.
Inzwischen ist Lagarde etwas dünnheutiger geworden. Um wenigstens interne Kritik zu unterbinden, hat sie im April einen EZB-internen Maulkorberlass zur Kommunikation verhängt. Kritik einzelner Währungshüter an Zinsbeschlüssen seien zu unterbinden, damit die Glaubwürdigkeit der EZB nicht Schaden nehme. Die allerdings ist aus deutscher Sicht längst beschädigt. Denn die Deutschen haben ein Trauma: Sie kennen die Geschichten ihrer Großeltern von der Hyperinflation in den 20iger Jahren, vom Tanz auf dem Vulkan, der in Chaos und Verderben endete. Derzeit ist es Christine Lagarde, die ihre Erinnerungen daran schmerzvoll wachhält.
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Inzwischen ist Lagarde etwas dünnheutiger geworden. Um wenigstens interne Kritik zu unterbinden, hat sie im April einen EZB-internen Maulkorberlass zur Kommunikation verhängt. Kritik einzelner Währungshüter an Zinsbeschlüssen seien zu unterbinden, damit die Glaubwürdigkeit der EZB nicht Schaden nehme. Die allerdings ist aus deutscher Sicht längst beschädigt. Denn die Deutschen haben ein Trauma: Sie kennen die Geschichten ihrer Großeltern von der Hyperinflation in den 20iger Jahren, vom Tanz auf dem Vulkan, der in Chaos und Verderben endete. Derzeit ist es Christine Lagarde, die ihre Erinnerungen daran schmerzvoll wachhält.