Handelsblatt, 07.12.2015, S. 48.
Der Streit um die Flüchtlinge und der zögerliche Beistand, den manche Länder Frankreich beim Kampf gegen den IS gewähren, zeigen, dass Europa Lichtjahre von einer Politischen Union entfernt ist. Der Fiskalunion ist man durch die fiskalischen Rettungsschirme und die Bail-out-Maschinerie der EZB schon nahe gekommen. Doch gibt es keinen gemeinsamen Außenminister, keine gemeinsame Außenpolitik, keine einheitliche Immigrationspolitik, kein gemeinsames Asylrecht, keine gemeinsame Polizei und insbesondere keine gemeinsame Armee. 28 Armeen mit 28 separaten Kommandozentralen werden lediglich locker durch die Nato koordiniert.
François Hollande und Jean-Claude Juncker meinen gleichwohl, Europa müsse sich nun zunächst noch weiter einer Fiskalunion annähern. Sie fordern eine gemeinsame Einlagensicherung, ein gemeinsames Budget, gemeinsame Schuldverschreibungen und eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung.
Aber sie irren, denn diese Maßnahmen zementieren nur die falsche Struktur der relativen Preise, die die Euro-Kreditblase hervorbrachte, und erhalten damit die Arbeitslosigkeit in Frankreich und Südeuropa. Europa geriete noch tiefer in den Schuldensumpf, weil der Kapitalmarkt seiner Kontrollfunktion beraubt würde. Europa würde die Fehler wiederholen, die die USA nach ihrer Gründung machten, indem sie in mehreren Runden die Schulden der Einzelstaaten in Bundesschulden umwandelten und eine gefährliche Kreditblase hervorriefen, die in den Jahren 1835 bis 1842 neun von 29 amerikanischen Staaten und Territorien in den Konkurs trieb und den Boden für den amerikanischen Bürgerkrieg bereitete.
Tatsächlich behindert der weitere Ausbau der Fiskalunion Europas Weg in die Politische Union, weil sich Frankreich der Notwendigkeit enthoben sieht, seine Force de Frappe als Tauschobjekt einzusetzen. Frankreich hat bislang alle Versuche, die Armeen zusammenzulegen, abgelehnt. So hat die französische Nationalversammlung im Jahr 1954 den Vertrag über die Westeuropäische Verteidigungsunion abgelehnt, und später lehnte das französische Volk die europäische Verfassung ab, die einer stärkeren Politischen Union den Weg geebnet hätte. Ein französischer Präsident nach dem anderen hat das Fernziel eines vereinten Europas verworfen.
Frankreich will aber die Fiskalunion, weil seine Banken der große Profiteur einer europäischen Fiskalunion sind. So hatten die französischen Banken zur Zeit der Lehman-Krise mit 58 Milliarden Euro der griechischen Volkswirtschaft doppelt so viel Geld geliehen wie Deutschland. Frankreich will die Fiskalunion auch, um mit den Gemeinschaftstransfers seine Absatzmärkte in Südeuropa zu stärken. Wenn Deutschland darauf eingeht, werden sich die Chancen für eine politische Integration des Kontinents weiter verringern.
Vielleicht bringen die hässlichen Attacken der IS-Kämpfer Frankreich nun zu einem Einsehen, weil sie dem Élysée-Palast zeigen, dass selbst eine solch große militärische Macht wie Frankreich eine Politische Union braucht. Europa muss heute beim Kampf gegen die Terroristen und bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise zusammenstehen. Die EU muss ihre Grenzen kontrollieren, und sie braucht eine gemeinsame Polizei, ein gemeinsames Asylrecht, eine gemeinsame Außenpolitik und vor allem eine gemeinsame Armee, bevor sie den Weg in eine Fiskalunion fortsetzen kann.
Dabei sollte die EU dem Beispiel erfolgreicher Bundesstaaten wie der Schweiz oder der USA folgen. Diese Bundesstaaten begannen als militärische Verteidigungsbündnisse und entwickelten sich erst viel später zu Fiskalunionen. Es dauerte Jahrzehnte, ja Jahrhunderte, bis umfangreiche gemeinsame Budgets zustande gekommen waren und man damit begann, Einkommensrisiken zu vergemeinschaften. Bis zum heutigen Tage gilt die Nicht-Beistandsregel, nach der der Bund oder die Zentralbank bedrohten Einzelstaaten oder Kantonen nicht hilft, wenn eine Pleite droht.
Es ist nun an der Zeit, Europa vom Kopf auf die Füße zu stellen, indem man endlich von der weitere Vergemeinschaftung der Geldbörsen Abstand nimmt und sich stattdessen den wahren Sicherheitsproblemen zuwendet, zu deren Lösung Solidarität und Gemeinschaftsaktionen dringend erforderlich sind.