Eigentlich sollte es eine Stunde lang um die deutsche Konjunktur gehen – aber wen interessiert auf einer Abschiedsfeier schon die Entwicklung der Wirtschaft? In der Berliner Bundespressekonferenz präsentierte das Münchner Institut für Wirtschaftsforschung (Ifo) am Mittwoch seinen Konjunkturausblick auf das kommende Jahr.
Mit dabei: Institutspräsident Hans-Werner Sinn, der zum letzten Mal an der Präsentation teilnahm. Vor allem seinetwegen waren die Journalisten gekommen.
Der 67-Jährige wird im März kommenden Jahres in Rente gehen und das Ifo verlassen. Bis dahin allerdings wird noch viel von Sinn zu hören sein; sein Abschied wird ein lauter sein; das machte Sinn auf dieser Pressekonferenz deutlich. Kurz soll er ohnehin nicht werden, darauf achten Sinn und das von ihm geführte Institut.
Die Teilnahme Sinns an der Präsentation des Konjunkturberichts war angekündigt, und auch seine Abschiedsvorlesung am Montag findet in großem Rahmen statt. Einige Nachrichtenseiten haben gar vor, einen Livestream der Vorlesung aus der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität zu übertragen.
Da kommt es gerade recht, dass der Hochschulverband Sinn zu Beginn der Woche zum "Hochschullehrer des Jahres" gekürt hat. Es dürfte nicht die letzte Ehrung dieser Art gewesen sein, bevor sich der Ökonom von der Spitze des Instituts verabschiedet.
Sinn: "Mir hat das großen Spaß gemacht"
Und so geht es denn auch bei der Präsentation des Konjunkturausblicks, ganze vier Monate vor dem geplanten Abschied vom Ifo, bereits schon um die Bilanz des Ifo-Präsidenten. Als er vor 17 Jahren zum Institut gewechselt sei, sei ihn schon mulmig gewesen, gibt Sinn zu. "Ich wusste damals, dass es die Abkehr von der akademischen Forschung sein würde", sagte der Wirtschaftswissenschaftler mit dem markanten Abraham-Lincoln-Bart. "Die war bisher mein Lebenselixier gewesen."
Überrascht sei er gewesen, wie sehr es ihn befriedigt habe, sich in die aktuelle Debatte einzumischen, erinnert sich der Ökonom. "In den zeitgebundenen Fragen ist es leichter, der Erste zu sein", strahlt Sinn. In der Wissenschaft, wo schon weite Teile des Feldes abgegrast seien, sei das ungleich schwerer.
"Mir hat das großen Spaß gemacht, ich will es auch nicht aufgeben", sagt Sinn noch. In den großen Talkshows dürfte er also weiterhin auftauchen, um sich zu den Themen der Stunde zu äußern – sei es die Flüchtlingskrise oder die Schuldenkrise in der Euro-Zone.
Es war vor allem die Rettungspolitik in der Euro-Zone, die der geborene Westfale in den vergangenen Jahren wieder und immer wieder kritisierte – zuletzt in einem mehr als ein Kilo schweren Buch über die Gemeinschaftswährung. Dabei hat der streitbare Finanzökonom immer wieder auch Beharrungsvermögen bewiesen; etwa als seine Thesen zur verdeckten Finanzierung der Krisenländer durch die Zentralbanken öffentlich in Zweifel gezogen wurden.
Umso genussvoller greift Sinn heute die Rettungspolitik der Europäischen Zentralbank an, zu der ultraniedrige Zinsen und der Aufkauf von Staatsschulden gehören. "Im Ganzen geht es Europa besser", diagnostiziert der Ökonom, aber warum Mario Draghi den Aufkauf von Staatsanleihen noch einmal ausgeweitet habe, das verstehe er nicht.
"Das ist eine verdrehte und verkehrte Welt", warnt Sinn. "Die Niedrigzinsen sorgen dafür, dass Schuldner wie Italien und Frankreich jede Disziplin verlieren. Dadurch werden Blasen aufrechterhalten, und die Krise wird für den Moment vermieden, aber nicht dauerhaft."
An einer Stelle musste gar Gregor Mayntz, der Vorsitzende der Bundespressekonferenz, Sinn ermahnen, nachdem der Starökonom lange seine Sicht der Euro-Krise dargelegt hatte. Ob es nicht an der Zeit sei, Timo Wollmershäuser, den jüngeren Leiter der Ifo-Konjunkturabteilung, ans Mikro zu lassen, um die Konjunkturprognose zu präsentieren?
Allerdings war wohl auch Wollmershäuser klar, dass der scheidende Institutspräsident mehr Interesse weckte als der Konjunkturausblick – bewegt sich die deutsche Wirtschaft doch gerade in relativ ruhigem Fahrwasser. Getragen von einem Immobilienboom und der weiterhin außergewöhnlich hohen Bereitschaft der hiesigen Verbraucher, Geld auszugeben, wächst die Wirtschaftsleistung sehr solide um voraussichtlich 1,5 Prozent in diesem Jahr.
Deutsche Wirtschaft wächst noch schneller
In den kommenden Monaten soll sich das Wachstum sogar auf ein überdurchschnittlich hohes Tempo beschleunigen: Um 1,9 Prozent soll die deutsche Wirtschaft im kommenden Jahr zulegen. "Das Wachstum beschleunigt sich, weil die Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, zusätzliche Nachfrage schaffen", erklärte Wollmershäuser.
Zum einen steigen die Ausgaben des Staates, weil Bund, Länder und Gemeinden zusätzliches Geld in die Hand nehmen, um die nötige Infrastruktur für die Neuankömmlinge zu schaffen. Hinzu kommen die Transfers, die die Flüchtlinge erhalten und wiederum in ihren eigenen Konsum stecken.
Wollmershäuser gab allerdings zu bedenken, dass alle Berechnungen zu den konjunkturellen Auswirkungen der Flüchtlingskrise mit extremen Unsicherheiten behaftet sind. "Es ist schwer, konkrete Zahlen zu diesem Thema zu bekommen", klagt der Ökonom. "Wir wissen ja noch nicht einmal, wie viele Flüchtlinge überhaupt da sind.
Die einzig konkreten Zahlen könne man zu den Auswirkungen der Flüchtlingskrise auf die Staatsfinanzen machen, weil die entsprechenden Haushalte bereits geplant seien. Der Überschuss, den Finanzminister Schäuble und seine Kollegen in vielen Ländern und Gemeinden erzielen, werde im kommenden Jahr durch die zusätzliche Belastung um rund 20 Milliarden Euro geringer ausfallen als bisher prognostiziert.
Während der Gesamtstaat im laufenden Jahr noch einen Überschuss von rund 31 Milliarden Euro erzielt, der etwa einem Prozent der Wirtschaftsleistung entspricht, werden es im kommenden Jahr wegen der zusätzlichen Ausgaben für die Neuankömmlinge nur noch zwölf Milliarden sein – und damit nur noch 0,4 Prozent der Wirtschaftsleistung.
Im Jahr 2017 dürften die öffentlichen Kassenwächter demnach gerade noch einen ausgeglichenen Haushalt erzielen und keine Überschüsse mehr. Die Staatsverschuldung werde unter diesen Bedingungen weiter sinken – von gegenwärtig rund 71 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf nur noch 66 Prozent am Ende des Jahres 2017; ein Wert, der allerdings immer noch über dem Grenzwert liegt, den der Maastricht-Vertrag vorschreibt.
An dieser Stelle musste Hans-Werner Sinn noch einmal ans Mikrofon: Diese 20 Milliarden würden die Konjunktur nur kurzfristig aufpolieren, weil sie aus zusätzlichen Staatsschulden finanziert seien, stellte der Ökonom klar. "Zu einem späteren Zeitpunkt werden sich diese Ausgaben negativ auf die Konjunktur auswirken. Gott zahlt aber die Schulden nicht", warnte Sinn. Nein, ein leiser Abschied wird es wohl wirklich nicht werden.
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