oekonomenstimme.org, 18. Januar 2016
Martin Hellwig kritisiert in seinem Beitrag "Si tacuissent..." die Argumentation von Clemens Fuest und Hans-Werner Sinn, was die Beurteilung der ELA-Kredite und den möglichen Vertragsbruch der EZB angeht. In diesem Beitrag reagieren letztgenannte auf die geäusserte Kritik.
Unter dem selbstbewussten Titel "Si tacuissent ..." beharrt Martin Hellwig auf seiner schon zuvor im Handelsblatt geäußerten Auffassung, dass selbst die normalen Zinsen auf ELA-Notkredite, die die nationalen Zentralbanken den lokalen Geschäftsbanken gewähren, nicht in die Seignorage-Umverteilung des Eurosystems eingehen. Ähnliches hatten zuvor schon Willem Buiter et. al. gemutmaßt. Wir indes hatten argumentiert, dass die normalen Zinsen auf ELA-Kredite genauso wie die Zinsen für Refinanzierungskredite an der Umverteilung unter den Notenbanken des Eurosystems teilnehmen, dass es also insofern für die Zinsausschüttungen der nationalen Notenbank gegenüber dem Eurosystem nicht darauf ankomme, ob normale Refinanzierungskredite oder ELA-Kredite vergeben wurden. Wir wiesen darauf hin, dass nur die über das Normalmaß hinausgehenden Zinsaufschläge – üblicherweise etwa 100 Basispunkte –, die die nationale Notenbank für die ausgegebenen ELA-Kredite von ihren Banken verlangt, von der Sozialisierung im Eurosystem ausgenommen sind, und argumentierten, dass eine andere Regelung auch gar keinen Sinn gehabt hätte, weil sich dann jede einzelne Notenbank auf Kosten der anderen Notenbanken hätte bereichern können, indem sie ELA-Kredite vergibt. Aber es geht nicht um das, was sinnvoll und plausibel gewesen wäre, sondern um eine institutionelle Faktenfrage. Nur einer kann Recht haben, Martin Hellwig oder wir.
Der Sachverhalt ist wichtig für die Beurteilung der Frage, ob die EZB mit ELA-Krediten den anderen Notenbanken ein Haftungsrisiko aufbürdet, obwohl sie das Kreditrisiko bei diesem Typ von Geldschöpfungskrediten rechtlich selbst tragen soll. Gehören die Zinsen auf ELA-Kredite zur Gänze der emittierenden Notenbank, dann erleiden die anderen Notenbanken keinen Verlust, wenn die finanzierten lokalen Geschäftsbanken Konkurs anmelden, denn es geht etwas verloren, was ihnen ohnehin nicht gehört. Stehen die Zinserträge indes der Gemeinschaft aller Notenbanken zu, dann tragen die anderen Notenbanken anteilig an diesem Kreditrisiko mit, wenn die nationale Notenbank über eine unzureichende Haftungsmasse in Form von Eigenkapital oder in Form ihres Anteils am gemeinschaftlichen Aufkommen am Zinseinkommen aus geldpolitischen Operationen des Eurosystems verfügt. Wir hatten in unserem Beitrag argumentiert, dass die griechische Notenbank 47 Mrd. Euro mehr an ELA-Krediten emittiert hatte als das, wofür sie haften konnte, und insofern den anderen Notenbanken in dieser Höhe faktisch doch ein Haftungsrisiko auferlegt hatte.
Der Sachverhalt ist auch für die Beurteilung der Target-Verbindlichkeiten und der Verbindlichkeiten aus einer überproportionalen Banknotenausgabe wichtig. Werden die Zinsen aus ELA-Krediten nicht der Vergemeinschaftung im Eurosystem unterworfen, dann bedeuten diese Verbindlichkeiten, falls sie durch zusätzliche ELA-Kredite entstanden, in einem gewissen Sinne nur dann ein Risiko für andere Länder, wenn der Euro aufgelöst wird. Diesen Standpunkt hat Martin Hellwig vertreten. Werden die Zinsen indes genauso der Sozialisierung unterworfen wie die Zinsen aus normalen Refinanzierungskrediten, dann verkörpern die Target-Verbindlichkeiten und die Verbindlichkeiten aus einer überproportionalen Bankennotenausgabe den Barwert der Zinsansprüche der anderen Notenbanken aus einer über das Normalmaß hinaus gehenden nationalen Geld- und Kreditschöpfung und stellen auch schon dann ein Risiko dar, wenn die Geschäftsbanken des jeweiligen Landes von Konkurs bedroht sind, ohne dass ein Euro-Austritt droht.[ 1 ]
Hellwig verweist zum Beleg seiner Aussage auf Artikel 14.4 der ESZB-Satzung, wo von "anderen Aufgaben" der EZB die Rede ist, zu denen nach herrschender Meinung auch ELA-Kredite gehören, die "von den nationalen Zentralbanken in eigener Verantwortung und eigener Rechnung wahrgenommen" werden. Aber er interpretiert mehr in diesen Passus hinein, als dort steht. Gemeint ist damit nur, dass die nationalen Notenbanken das Ausfallrisiko selbst tragen sollen, nicht, dass sie keine Zinsen in den Gemeinschaftstopf zahlen müssen.
Die relevante Interpretation folgt im Gegensatz zur Meinung Martin Hellwigs sehr wohl aus dem von uns zitierten Artikel 32 der ESZB-Satzung, Neufassung gemäß Beschluss vom 25. November 2010 (zuletzt geändert am 19. November 2015). In Artikel 3 dieses Beschlusses wird die Bemessungsgrundlage für die Berechnung der zu sozialisierenden Zinseinnahmen erläutert, und im zweiten Absatz dieses Artikels wird ein Korrekturposten ("Differenzbetrag" oder "gap" genannt) definiert, der unter anderem dazu dient, die normalen Zinsen auf ELA-Kredite (oder auch normale Zinsen auf Assets, die im Rahmen des Anfa-Geheimabkommens erworben wurden) der Verteilungsmasse hinzuzufügen, die im ersten Rechenschritt bei der Feststellung der Bemessungsgrundlage nicht erfasst werden. Im Ergebnis bleiben die Zinsverpflichtungen einer Notenbank gegenüber dem Pool des Eurosystems unverändert, wenn normale Refinanzierungskredite durch ELA-Kredite ersetzt werden.
Wir geben zu, dass das höhere Buchhaltungsmathematik ist, die sich dem flüchtigen Leser nicht sofort erschließen mag. Indes hatten wir uns seinerzeit vor der Veröffentlichung unserer Aussagen bei der Bundesbank rückversichert. Das haben wir nun ein zweites Mal getan, und die Bundesbank hat uns autorisiert, aus ihrem Anschreiben an uns zu zitieren. So schreibt sie im Hinblick auf die Berechnungsmethode, die durch den zitierten Artikel impliziert wird, dass die nationale Zentralbank (NZB) "einen Zinsertrag in Höhe des Hauptrefinanzierungssatzes (multipliziert mit dem Kreditbetrag) in die Verteilung der monetären Einkünfte unabhängig davon einbringen muss, ob eine Liquiditätsbereitstellung mittels ELA (A6) oder geldpolitischer Refinanzierung (A5) erfolgt. Die NZB kann nur den über den Hauptrefinanzierungssatz hinausgehenden Anteil der ELA-Verzinsung für sich behalten". Die Bundesbank beschreibt hier die relevante rechtliche Interpretation der Regeln zur Zinssozialisierung sowie die bei der Zinsverteilung realisierte Praxis im Eurosystem. Damit sollte der Sachverhalt nun endgültig geklärt sein.
1 In Hans-Werner Sinn, Der Euro. Von der Friedensidee zum Zankapfel, Hanser, München 2015, wird in Box 8.1 und Tabelle 8.2 in Kapitel 8 auf der Basis dieser Überlegungen errechnet, welche Risiken Deutschland und andere nördliche Länder aufgrund der Rettungsschirme, der Target-Salden und der über- oder unterproportionalen Banknotenausgabe tragen, falls die GIPSIZ-Länder (Griechenland, Irland, Portugal, Spanien, Italien und Zypern) mitsamt ihren Bankensystemen in den Konkurs gehen, doch im Euro verbleiben. Für Deutschland ergab sich ein Betrag von 260 Mrd. Euro, was ähnlich wie bei den anderen noch gesunden Ländern der Eurozone einem Betrag von etwas über 3000 Euro pro Einwohner entspricht.
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