Welt am Sonntag, 24.01.2016, S. AV12.
Der Staat ist Treuhänder der öffentlichen Güter. Es ist nicht liberal, Ausländern unbegrenzten Zugang dazu einzuräumen.
Im vergangenen Jahr hat Deutschland Erstaunliches geleistet. Mit der Hilfe vieler Freiwilliger hat das Land über eine Million Flüchtlinge aufgenommen. Die Flüchtlinge wurden von den Behörden untergebracht und versorgt. Die Bundeskanzlerin verbreitete Optimismus: „Wir schaffen das.“ Diese Großzügigkeit ist beeindruckend, stieß aber angesichts der Massen, die unkontrolliert einreisen, an Grenzen. Schaffen wir das wirklich? Oder überfordern wir nicht die Helfer und das Gemeinwesen?
Die Ereignisse der Neujahrsnacht in Köln sind Vorboten massiver gesellschaftlicher Konflikte in den kommenden Jahren und Jahrzehnten. Mit der unkontrollierten Immigration aus wirtschaftlich schwachen Ländern handelt sich Deutschland zahlreiche Probleme ein. Je schneller sich die Kanzlerin zu einem Kurswechsel durchringt, desto glimpflicher wird die Sache für alle Beteiligten abgehen, auch für sie selbst.
Nur ein geringer Teil der Flüchtlinge ist asylberechtigt. Bei den in Deutschland im Jahr 2015 abgeschlossenen Verfahren wurden gerade einmal 0,7 Prozent der Antragsteller nach dem deutschen Grundgesetz als Asylsuchende anerkannt. 48 Prozent wurden pauschal nach der Genfer Flüchtlingskonvention akzeptiert, weil sie aus Kriegsgebieten stammen. Die Aufnahme dieser Menschen ist ein humanitärer Akt, aber keine rechtliche Notwendigkeit. Nach der Genfer Flüchtlingskonvention, dem Dublin-III-Abkommen und dem Grundgesetz ist Deutschland nicht gezwungen, Flüchtlingen Asyl zu gewähren, wenn sie über sichere Drittstaaten einreisen. Das haben kürzlich die ehemaligen Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier und Udo Di Fabio unabhängig voneinander betont. Allenfalls sehr kurzfristig sind Ausnahmeregelungen zulässig, wie sie Deutschland aber nun schon viele Monate lang praktiziert. Beide Verfassungsrichter betonen die Pflicht des deutschen Staates, seine Grenzen zu sichern, und verlangen fast schon ultimativ von der Bundesregierung, nun endlich die selbst geschlossenen Verträge einzuhalten. Die Vorstellung, dass man Millionen von Menschen erst nach Deutschland einreisen lassen könne, um die nicht berechtigten anschließend wieder abzuschieben, ist unrealistisch.
Die humanitäre Aufgabe und die Chancen und Gefahren einer multikulturellen Gesellschaft zu bewerten, fällt schwer. Umso wichtiger ist es, die ökonomischen und sachlichen Argumente zu diskutieren, die von der Bundeskanzlerin und von vielen ethisch getriebenen Kommentatoren hilfsweise zur Begründung einer Politik der offenen Grenzen angeführt werden.
Theoretisch kann es positive Arbeitsmarkteffekte für die deutsche Bevölkerung geben. Flüchtlinge könnten als Selbstständige tätig werden und die Ökonomie durch neue Geschäftsideen bereichern. Doch die meisten werden wie schon die bisherigen Migranten nur schwer in den Arbeitsmarkt zu integrieren sein. Und wenn, dann nur bei einer sich weiter spreizenden Lohnskala. Am unteren Rand der Qualifikationsskala wird diese Spreizung allerdings durch den Mindestlohn behindert. Angesichts der geringen Qualifikation wird es zu einem erheblichen Teil eine Immigration in die Arbeitslosigkeit geben.
Wegen der Schuldenfinanzierung der Kosten gibt es kurzfristige Konjunktureffekte, weil Mittel ausgegeben werden, die sonst zur Schuldentilgung verwendet worden wären. Aber das sind keine Netto-Effekte, weil die zusätzlichen Schulden ja später durch Entzug von Steuermitteln bedient werden müssen, was genau die gegenteiligen Nachfrageeffekte hervorruft.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) argumentiert, man könne Deutschland mit seinen 3600 Kilometern Landgrenze nicht abriegeln. Damit übersieht sie nicht nur, dass Deutschland relativ zu seiner Größe aus geometrischen Gründen extrem kurze Grenzen hat, sondern auch, dass sie vom Grundgesetz zum Schutz der deutschen Grenzen verpflichtet wird.
Der Staat ist Treuhänder des öffentlichen Vermögens in Form der freien Natur und der über Generationen aufgebauten Infrastruktur, und er muss die Funktionsfähigkeit der für jedermann verfügbaren öffentlichen Einrichtungen wie Ämter, Kammern, Gerichte, Polizei, Schulen und Universitäten erhalten. Bei der Nutzung all dieser Leistungen besteht eine Rivalität zwischen Flüchtlingen und Einheimischen, und die Erbringung und Sicherung der Nutzungsqualität kostet viel Geld. Ökonomen sprechen hier von Klubgütern. Die Vorstellung, der Zugang zu den Klubgütern müsse Ausländern unbeschränkt zustehen, ist aus ökonomischer und staatsrechtlicher Sicht abwegig.
Ähnliches gilt für die Funktion des Staates als einer Versicherungsinstitution, die Glück und Pech im Leben ausgleicht, indem sie einkommensabhängige Steuern erhebt und den unterdurchschnittlich verdienenden Bürgern mehr soziale Leistungen und öffentliche Güter zur Verfügung stellt, als diese Bürger via Steuern und Sozialversicherungsbeiträge selbst an den Staat entrichten, während die überdurchschnittlich Verdienenden per Saldo Mittel an den Staat abführen müssen. So wie eine private Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit in Schwierigkeiten geriete, wenn sie zunehmend schlechte Risiken mitversichern müsste, wird auch der Sozialstaat bei einer freien Immigration der Bedürftigen lädiert.
Sicher, es könnte theoretisch sein, dass junge und gebildete Migranten zu uns kommen, die den Staat finanziell unterstützen, statt ihn zu belasten. Aber das ist leider nicht der Fall. Das ist durch die Studien von Bernd Raffelhüschen von der Universität Freiburg belegt. Bernd Raffelhüschen hat berechnet, dass eine Million Flüchtlinge den deutschen Staat per Saldo und auf die Dauer 450 Milliarden Euro kosten würden. Dabei unterstellt er, dass sie nach sechs Jahren so integriert würden, wie es die bislang schon in Deutschland anwesenden Alt-Migranten im Durchschnitt sind. Bereits die Alt-Migranten kosten den Staat per Saldo viel Geld, weil sie unterdurchschnittliche Markteinkommen haben und deshalb von der Umverteilung des Sozialstaats profitieren. Und die neuen Migranten werden noch teurer als die alten, weil sie erst noch integriert werden müssen.
Wie wichtig die Integration ist, zeigt Professor Raffelhüschen anhand einer fiktiven Rechnung. Gesetzt den Fall, die eine Million Flüchtlinge, die bislang zu uns kamen, hätten bei gleicher Altersstruktur über die durchschnittliche Ausbildung der in Deutschland bereits ansässigen Bevölkerung verfügt und wären sofort einsetzbar. Dann würden sie dem deutschen Staat einen langfristigen Einnahme-Überhang verschaffen, der einem Versicherungswert von 300 Milliarden Euro entspricht.
Die humanitäre Aufgabe, den Flüchtlingen zu helfen, ist also nicht zugleich ein Geschäft für den deutschen Staat. Denn die Migranten, die zurzeit nach Deutschland drängen, sind nicht identisch mit jenen, die wir uns aufgrund eines Punktesystems nach kanadischem Muster aussuchen würden.
So gesehen geht es bei der Entscheidung der Bundesregierung, eine unkontrollierte Zuwanderung zuzulassen, keineswegs nur um die Frage, ob die immateriellen Werte einer freien Gesellschaft gefährdet werden. Es geht auch um die konkrete Frage, wie viel die Staatsbürger von ihrem öffentlichen Vermögen und dem sozialstaatlichen Versicherungsschutz hergeben wollen. Das sollte wegen der langfristigen Bindungswirkungen heutiger Entscheidungen nicht die Bundesregierung festlegen, sondern der Bundestag.
Bisweilen wird unterschwellig in Kommentaren die Auffassung vertreten, ein offener, freiheitlicher Staat dürfe seine Grenzen nicht schützen und befestigen. Dieses Argument hat die gleiche logische Qualität wie die Aussage, dass das Privateigentum im Widerspruch zu einer liberalen Gesellschaft stehe: Das Gegenteil ist der Fall. Ohne Privateigentum, das notfalls durch Zäune geschützt wird, entsteht eine Wildwest-Gesellschaft mit Mord und Totschlag. Beim Zusammenleben der Staaten ist es nicht anders. Chaos, Gewalt und Ineffizienz werden die Folge sein, wenn die Staaten darauf verzichten, ihre Grenzen und damit das öffentliche Eigentum der Staatsbürger wirksam zu schützen.
Das heißt nicht, dass jeder einzelne Staat Grenzen braucht. So wie ich den Zaun zu meinem Nachbarn beseitigen kann, wenn ich sicher bin, dass er Fremden den Zutritt zu unseren Grundstücken nicht erlaubt, so können sich auch benachbarte Länder zusammenschließen, um den Tausch ihrer öffentlichen Güter durch freie Migration zu ermöglichen. In diesem Sinne erlaubt das Schengen-Abkommen den äquivalenten Tausch der nationalen Klubgüter durch Migration.
Dieser Tausch verlangt aber zwingend, dass die Außengrenzen des Schengen-Raums wirksam geschützt werden. Das heißt, dass vor allem die slowenische und die italienische Außengrenze zu sichern sind. Ungarn und Spanien sichern ihre Grenzen bereits. Nachdem Spanien inzwischen beschlossen hat, die Flüchtlinge nach Afrika zurückzubringen, ist die Zahl der Flüchtenden drastisch zurückgegangen, während zur gleichen Zeit vor der italienischen Küste immer noch Tausende die lebensgefährliche Flucht antreten. So sind im vergangenen Jahr nur noch 106 Personen vor der spanischen Küste bei Fluchtversuchen umgekommen. Vor der italienischen Küste kamen demgegenüber 2892 Personen zu Tode.
Am sinnvollsten wäre es, Italien zur Übernahme des spanischen Ansatzes zu drängen und Slowenien bei der Sicherung seiner Außengrenze zu helfen. Denn wenn die slowenische Grenze dicht ist, gibt es faktisch kaum noch Möglichkeiten, den zentraleuropäischen Schengen-Raum auf dem Landweg zu erreichen.
Das heißt nicht, dass das Asylrecht eingeschränkt werden sollte, denn an der slowenischen Grenze könnten mit finanzieller Unterstützung Deutschlands Auffanglager errichtet werden, in denen das Asylverfahren nach deutschem oder, noch besser, nach einem neuen einheitlichen EU-Recht durchgeführt wird. Die asylberechtigten Personen könnten nach einer Einzelfallprüfung von dort aus nach Deutschland und in andere aufnahmebereite Länder weitergeleitet werden. Die Geschichte der Bundesrepublik ist eine bleibende Verpflichtung, den politisch Verfolgten Schutz zu gewähren, nicht aber, den unkontrollierten Massenansturm von Wirtschaftsflüchtlingen hinzunehmen. Wenn der deutsche Staat beschädigt wird, kann er auch seine humanitären Aufgaben nicht mehr erfüllen.
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