Die Welt verbraucht so viel Kohle wie nie, die Klimaziele sind in weiter Ferne. Dies könnte auch mit Plänen zum Kohleausstieg zu tun haben. Über das "grüne Paradoxon" und wie es durchbrochen werden kann.
"Das Ende der Kohle ist in Sicht", verkündet die Webseite der "Powering Past Coal Alliance" (PPCA) recht feierlich. 2017 auf der Klimakonferenz in Bonn gestartet, strebt der Verbund an, die Nutzung von Braun- und Steinkohle so schnell wie möglich zu beenden, um die weltweiten Klimaziele zu erreichen. 48 Staaten haben sich der Allianz schon angeschlossen, 2019 trat Deutschland bei. Doch von einem Ende der Kohle kann bislang keine Rede sein.
2022 erreichte der weltweite Verbrauch von Kohle nach vorläufigen Zahlen der Internationalen Energieagentur (IEA) wahrscheinlich ein neues Allzeithoch. Erstmals verbrannte die Welt in einem Jahr mehr als acht Milliarden Tonnen von dem fossilen Energieträger. Und bei diesem Niveau dürfte es nach Einschätzung der IEA in den kommenden Jahren auch in etwa bleiben. Von einer Reduktion um 88 Prozent bis 2030, wie sie nötig wäre, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, ist die Welt jedenfalls weit entfernt. Das könnte paradoxerweise auch mit Initiativen wie der "Powering Past Coal Alliance" zu tun haben, berichten Forscher um Stephen Bi vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK).
Etwas verkürzt lautet ihr Argument, vorgetragen im Fachmagazin Nature Climate Change: Je mehr Regionen sich dem Kohleausstieg verschreiben, umso weniger stark wird der Energieträger nachgefragt - was seinen Preis einbrechen lässt. Die geringeren Kosten könnten dann aber andere dazu verleiten, massenhaft Kohle aufzukaufen und zu verbrennen. Die überschüssige Kohle könnte etwa in Staaten landen, die noch keinen Kohleausstieg geplant haben, oder selbst in manchen Fabriken in aussteigenden Ländern. Schließlich lässt sich Kohle nicht nur dazu verwenden, Elektrizität zu erzeugen, sondern etwa auch Stahl.
Bereits im Jahr 2008 hatte Hans-Werner Sinn, der langjährige Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, im Buch "Das grüne Paradoxon" vor ähnlichen Mechanismen gewarnt. Eine verschärfte Umweltpolitik in der EU werde den Ausstoß klimaschädlicher Treibhausgase wie Kohlendioxid (CO₂) am Ende sogar ankurbeln, behauptete Sinn. "Man muss immer gewärtig sein: Durch einen punktuellen Ausstieg kann man stets unbeabsichtigte Effekte induzieren", sagt auch Ottmar Edenhofer, Direktor und Chef-Ökonom des PIK, der an der aktuellen Studie nicht beteiligt war. Sobald fossile Energien günstiger werden, würden sie an anderer Stelle vermehrt genutzt. Edenhofer vergleicht das mit einem Wasserbett: "Wenn man an einer Stelle drückt, kommt der Druck an einer anderen wieder heraus."
"Freerider", also Trittbrettfahrer, nennen die Studienautoren um Stephen Bi jene Akteure, die vom Preisverfall fossiler Energien profitieren könnten - und empfehlen, gezielt gegen sie vorzugehen. Dafür dürften Initiativen wie die PPCA nicht wie derzeit auf die Stromerzeugung beschränkt bleiben, sondern müssten auf die Industrie und den Transport-Bereich ausgeweitet werden. Sonst könnten laut ihren Berechnungen von 100 Tonnen Kohle, die in Kraftwerken vermieden werden, 54 Tonnen in diese Sektoren abwandern.
Jan Steckel bezweifelt, dass diese Rechnung so einfach ist. "Nur weil man Kohle nicht ins Kraftwerk fährt, heißt das nicht, dass man daraus Stahl machen kann", sagt der Kohle-Experte vom Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC) in Berlin. So werde zur Stromproduktion Thermalkohle gebraucht, zur Stahlherstellung hingegen meist Kokskohle verwendet, die einen deutlich niedrigeren Aschegehalt aufweise. Die beiden Typen ließen sich nicht beliebig vertauschen, so Steckel.
An anderer Stelle rechnen die Autoren der Studie damit, dass ein fallender Kohlepreis zu einer Renaissance des Energieträgers im Transportbereich führen könnte, etwa indem Kohle in "Coal-to-Liquid"-Prozessen in flüssige Kraftstoffe umgewandelt wird - ein Verfahren, das als besonders schmutzig gilt. "In Asien ist das immer eine Option", sagt Edenhofer, vorausgesetzt solche Verfahren seien billig genug, der Ölpreis dagegen hoch. Auch Steckel kann sich solche kurzfristigen Mitnahme-Effekte vorstellen, vor allem in Ländern wie China, wo es bereits Anlagen zur Kohleverflüssigung gibt. Dass hierfür ganz neue Fabriken aufgebaut würden, sei hingegen eher unwahrscheinlich. Schließlich gebe es im Transportbereich mit der Elektromobilität eine ernsthafte Konkurrenz.
Mehr Sorge bereiten Steckel derzeit mögliche "Substitutionseffekte" in Ländern wie Pakistan, Vietnam oder Bangladesch. So hatte Pakistan vor Ausbruch des Kriegs in der Ukraine auf Flüssigerdgas (LNG) gesetzt, um keine weiteren Kohlekraftwerke mehr bauen zu müssen. Doch mit den Summen, die etwa die EU mittlerweile für Flüssiggas zu zahlen bereit ist, können diese Länder nicht mithalten. Um zu verhindern, dass nun wieder Kohlekraftwerke gebaut werden, brauche es Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft, sagt Steckel. Vor allem dafür, dass gleich Systeme mit erneuerbaren Energien entstehen statt fossiler Infrastruktur. In Europa lässt sich freilich ein ähnlicher Trend beobachten. So sei in der EU zuletzt auch deshalb wieder mehr Kohle verstromt worden, weil der Gaspreis schneller als der Kohlepreis gestiegen sei, sagt Edenhofer.
Doch wie könnte das "grüne Paradoxon" durchbrochen werden? Nach Ansicht vieler Ökonomen könnte ein globaler CO₂-Preis ein wirksames Instrument dafür sein. Energieträger wie Kohle, deren Verbrennung mehr Treibhausgase freisetzt, würden dann teurer und somit unattraktiver. Ein Kernproblem sei aber "die mangelnde Fähigkeit der Staaten zur Selbstverpflichtung", sagt Ottmar Edenhofer - etwa dazu, den CO₂-Preis nicht nur einzuführen, sondern ihn auch langfristig steigen zu lassen. "Wenn die Investoren nicht glauben, dass die Staaten am Ende hart bleiben, werden sie nicht in CO₂-freie Technologien investieren."
Wie schwierig der Weg bis zu einem globalen Kohleausstieg wird, unterstreicht auch eine weitere Studie, die kürzlich in Nature Climate Change erschienen ist. Darin untersucht ein Team um Greg Muttitt vom International Institute for Sustainable Development in Genf historische Einbrüche im Verbrauch von Energieträgern in 144 Staaten, etwa infolge der Ölkrisen. Die Geschwindigkeit für einen globalen Kohleausstieg, die zur Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad notwendig wäre, bewegt sich laut den Autoren nahe am Weltrekord für solche radikalen Energiewenden. Vergleichbar wäre dieses Tempo demnach mit recht drastischen Fällen wie dem Herunterfahren der Kernreaktoren in Japan nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima.
Allerdings sind die Lasten des Kohleausstiegs äußerst ungleich verteilt. So müssten Staaten wie China, Indien und Südafrika, die in hohem Maße von Kohle abhängig sind, sogar doppelt so schnell den Verbrauch senken, wie dies bislang je gelungen ist. Übertragen auf einen 100-Meter-Lauf würde das bedeuten, Usain Bolts Weltrekord von 9,58 Sekunden nicht nur zu schlagen, sondern die Strecke in der halben Zeit zu laufen wie der Jamaikaner. Um diese Lasten abzufedern, müssten daher vor allem die Industrieländer mehr Tempo an den Tag legen als bislang, so die Forscher.
"Dies könnte als schwerer Schlag für die Machbarkeit solcher Klimapfade interpretiert werden", schreibt der Transformationsforscher Ajay Gambhir vom Imperial College London in einem Kommentar zu der Studie. Es könne aber auch als Weckruf an die Regierungen verstanden werden, "den Ausstieg aus der Kohle mit viel größerem politischem Ehrgeiz anzugehen."
Nachzulesen auf www.sueddeutsche.de.