ifo Standpunkt Nr. 11: Das Dilemma der Globalisierung

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 6.3.2000

Viele sehen die Globalisierung als Bedrohung, andere begreifen sie als Chance für einen neuen Entwicklungsschritt in der Geschichte der Menschheit. Beide haben recht. Die Globalisierung verbessert den Handel mit Gütern, den Austausch von Arbeitskräften und den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr, und davon profitieren grundsätzlich alle Länder. Ein allgemeiner Wachstumsschub, der den Wohlstand aller Länder vergrößert, ist zu erwarten.

Freilich steigt der Wohlstand innerhalb eines jeden Landes nur im Durchschnitt. Es gibt Gewinner und Verlierer. Die Gewinner sind die Vermögensbesitzer und die Anbieter hochqualifizierter Arbeit in den entwickelten Ländern sowie die meisten Arbeitnehmer in den weniger entwickelten Ländern. Zu den Verlierern werden die einfachen Arbeiter und Angestellten gehören, die ihre internationalen Spitzenlöhne nicht, oder nur um den Preis einer weiter wachsenden Arbeitslosigkeit werden verteidigen können. Der freie Güterhandel und die Wanderung von Kapital und Arbeit werden den Kuchen für die Deutschen größer machen, doch der einfache Arbeiter und Angestellte wird nur noch ein kleineres Stück davon abbekommen. Einbußen beim Lohnwachstum sind unvermeidlich.

Erhebliche Probleme wird die Globalisierung für den Sozialstaat bringen. Den Reichen, die ihm mehr geben müssen, als sie zurück erhalten, fällt es immer leichter, ihm durch Auswanderung auszuweichen, und immer mehr Arme, die Nettoempfänger staatlicher Leistungen sind, werden in die Lage versetzt, sich den großzügigsten Sozialstaat auszusuchen. Es stimmt zwar, daß unser Sozialstaat dringend eine grundlegende Reform braucht. Doch daß eine solche Reform durch den Wettbewerb der Staaten induziert wird, ist nicht zu erwarten. Auch der gut konstruierte, aktivierende Sozialstaat (vgl. Standpunkt 6) kann in einem solchen Wettbewerb nicht bestehen. Staaten, die mit grenzüberschreitenden Wanderungen von Kapital und Menschen rechnen müssen, werden stets versuchen, die Nettoempfänger staatlicher Leistungen abzuschrecken und die Nettozahler anzulocken, und das bedeutet eine tendenziellen Abbau des Sozialstaates, nicht bloß einen Umbau.

Dies ist das wahre Dilemma der Globalisierung in den westlichen Industrieländern. Einerseits wächst der Bedarf an sozialstaatlichem Schutz wegen der weltweiten Niedriglohnkonkurrenz, und andererseits verringert der Systemwettbewerb die Möglichkeit, solchen Schutz auch weiterhin zu gewähren. Die Lohn- und Verteilungspolitik kann an dem Trend nichts ändern, ohne die Probleme noch zu vergrößern. Es bleibt nur wenig Spielraum für sinnvolle Reaktionen. Die Arbeitnehmer müssen noch produktiver werden, um der wachsenden Lohnkonkurrenz Stand zu halten, und die Staaten müssen sich darauf einstellen, Macht und Kontrollmöglichkeiten aufzugeben. Zur Linderung der steigenden Ungleichheit kommen die Förderung von Forschung und Ausbildung, Investivlohn- und Arbeitnehmersparmodelle sowie ein Übergang zu einer partiellen Kapitaldeckung in der Rentenversicherung in Betracht. Alle Staaten zusammen können versuchen, mittels einer begrenzten Harmonisierung von Steuern und der Anwendung des Heimatlandprinzips bei der Sozialhilfe (vgl. Standpunkt 9) der Erosion des Sozialstaats gegenzusteuern. Aufhalten können sie die Entwicklung jedoch nicht. Dazu sind die Kräfte, von denen sie getrieben werden, viel zu stark.

Hans-Werner Sinn
Präsident des ifo Instituts

Gekürzte Fassung eines Artikels in "Die Zeit", Nr. 10, 2. März 2000, S. 30.