Wie die Konjunktur auf den 11. September und den Kriegseintritt der USA reagieren würde, konnte man lange Zeit nur erahnen, denn obgleich die Gefahr eines Konjunktureinbruchs auf der Hand lag, fehlten die Belege. Es dauert nun einmal seine Zeit, bis die regelmäßig erhobenen Konjunkturindikatoren vorliegen. Selbst die Forschungsinstitute mussten sich bei der Gemeinschaftsdiagnose noch weitgehend auf begründete Vermutungen verlassen.
Woche für Woche kommen nun aber doch die "harten" Fakten herein, und sie verheißen wahrlich nichts Gutes. Der amerikanische Index der Konsumentenstimmung hat im Oktober den niedrigsten Wert seit 1994 angenommen, die Arbeitslosenquote ist von 4,9% auf 5,4% gestiegen, und die Zahl der Eigenheimkäufe sackte von August bis September so stark ab wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen. Die amerikanische Wirtschaft ist im dritten Quartal erstmals seit langem geschrumpft. Der englische CBI-Konjunkturindikator verzeichnete den stärksten Einbruch seit 17 Jahren. Ähnliche Einbrüche sind in den letzen Tagen aus Schweden, Belgien und Italien gemeldet worden. Für Deutschland liegt mittlerweile der erste Wert des ifo Klima-Indikators vor, der nach den Anschlägen in der ersten Oktober-Hälfte bei 7000 deutschen Unternehmen erhoben wurde. Der Indikator fiel im Vergleich zum Vormonat so stark wie seit der ersten Ölkrise im Jahr 1973 nicht mehr.
Die schlechten Nachrichten zeugen von einem Gewitter, das sich zusammenbraut. Der Silberstreif am Horizont, den man mit etwas Phantasie noch im Sommer aus verschiedenen Konjunkturindikatoren herauslesen konnte, ist endgültig vertrieben. Die Wirtschaftsforschungsinstitute wähnten Deutschland bereits in ihrem Herbstgutachten am Rande einer Rezession, und sie prognostizierten in diesem und im kommenden Jahr nur noch Wachstumsraten von 0,7% bzw. 1,3%. Inzwischen ist die Gefahr eher noch größer geworden.
Das verarbeitende Gewerbe ist in besonderem Maße gefährdet. Nach einem Wachstum von 6,4% im Jahr 2000 wird für dieses Jahr nur noch mit 0,8% gerechnet. Neben der schwachen Nachfrage spricht vor allem auch der rasch angeschwollene Lagerdruck gegen eine baldige Tendenzänderung in der Produktion. Besonders hart sind die Sektoren im Umfeld des Bausektors betroffen. Die Bauinvestitionen werden in diesem Jahr wohl um etwa 5% und im nächsten Jahr noch einmal um mehr als 1% sinken. Erst für das Jahr 2003 ist ein Ende des Schrumpfungsprozesses in Sicht.
Die Anzeichen für eine drohende Rezession haben sich so deutlich verstärkt, dass die Politik zu energischem Handeln aufgerufen ist. In den USA wurden nachfragestimulierende Maßnahmen beschlossen, die das Budgetdefizit um etwa 1,5% des Sozialproduktes erhöhen. Die deutsche Steuerreform kam gerade zu rechten Zeit, denn sie lässt die Defizitquote im Vergleich zum Stabilitätsprogramm in diesem Jahr vermutlich von den zunächst geplanten 1,5% auf 2,5% und im nächsten Jahr von 1% auf 2% ansteigen. Die Rezessionsgefahr ist aber immer noch nicht gebannt.
Die Wirtschaftsforschungsinstitute haben deshalb empfohlen, die nächste Stufe der Steuerreform um ein Jahr vorzuziehen. Das ist, wenn die Bundesländer mitspielen, auf einfache Weise möglich, ohne die Gefahr einer Verletzung der im Stabilitätspakt vorgesehenen 3%-Grenze mit sich zu bringen. Das Budgetdefizit würde dadurch im Jahr 2002 um weitere 0,3% des Sozialprodukts erhöht, und auf dem Wege über eine Konsumankurbelung wäre ein Wachstumsschub von etwa 0,5% zu erwarten.
Beim nächsten Boom sollte das Budget dann allerdings umso energischer konsolidiert werden. Die Gefahr, den im Stabilitätsprogramm bis zum Jahr 2006 vorgesehenen Schuldenabbau nicht mehr zu schaffen, ist gering. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es zuvor einen Wirtschaftsaufschwung geben, der verstärkte Sparanstrengungen des Staates verträgt.
Sicherlich kann die Regierung immer noch mehr Informationen sammeln wollen, bevor sie Maßnahmen zur Konjunkturbelebung beschließt, und sicherlich werden sich die Indikatoren in den nächsten Wochen wieder etwas beruhigen. Ein weiteres Zögern würde die Wirtschaft aber teuer zu stehen kommen, denn ein Produktionsausfall, der einmal stattgefunden hat, lässt sich nie wieder hereinholen. Jetzt ist der Zeitpunkt für nachfragestützende Maßnahmen gekommen. Die Konsumenten und Investoren brauchen Signale, die Mut machen und den Weg nach vorne weisen.
Dass die Europäische Zentralbank bei ihrer letzten Sitzung die Zinsen nicht gesenkt hat, obwohl die amerikanischen Zinsen mittlerweile unter die europäischen hinabgetaucht sind, kann man nur mit Kopfschütteln registrieren. Ist denn der irische und der finnische Boom so wichtig für Europa, dass deswegen die drohende Rezession im Herzen des Kontinents nicht bekämpft werden kann? Wo bleibt eigentlich die viel beschworene Verantwortung eines jeden einzelnen Zentralbankmitglieds für das Ganze, deretwegen Deutschland sich mit der Hälfte des Stimmgewichtes dieser beiden Länder begnügt hat, obwohl es selbst neun mal so groß ist?
Und warum versteckt sich die deutsche Regierung? Was soll die Metapher der ruhigen Hand, wenn energisches Zupacken gefragt ist? Hat die amerikanische Regierung etwa eine zittrige Hand, weil sie ein riesiges keynesianisches Konjunkturprogramm beschlossen hat?
Es ist nun auch die Zeit, das 1967 beschlossene Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, die Magna Charta der Stabilisierungspolitik, anzuwenden. Nach diesem Gesetz sind Bund und Länder verpflichtet, bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu berücksichtigen. Sie dürfen also ihre Politik nicht allein am Ziel einer möglichst raschen Budgetkonsolidierung ausrichten, denn das Gleichgewicht in der Wirtschaft rangiert nicht hinter dem Gleichgewicht in den Büchern der Finanzminister.
Da heute das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ganz eindeutig durch einen Nachfragemangel gestört ist, sollten die Regierungen des Bundes und der Länder von den im Gesetz vorgesehenen Maßnahmen zur Nachfragebelebung Gebrauch machen. Dazu gehört die Gewährung einer Investitionsprämie von 7,5% für private Investoren und Gemeinden genauso wie die Absenkung der Einkommensteuer um bis zu 10%. Die Maßnahmen können von der Regierung durch einfache Rechtsverordnung sofort erlassen werden, denn sie sind für den Notfall konzipiert und sollen ein rasches Handeln ermöglichen. Der Notfall ist eingetreten.
Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts
Erschienen unter dem Titel "Des Kanzlers ruhige Hand muss zupacken" im Handelsblatt Nr. 213 vom 5.11.01, S. 10.