Des Kanzlers ruhige Hand muss zupacken

GASTKOMMENTAR
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Handelsblatt, 05.11.2001, S. 10

Die Regierung darf mit Maßnahmen zur Konjunkturbelebung nicht länger zögern

Wie die Konjunktur auf den 11. September und den Kriegseintritt der USA reagieren würde, konnte man lange Zeit nur erahnen, denn obgleich die Gefahr eines Konjunktureinbruchs auf der Hand lag, fehlten die Belege. Es dauert nun einmal seine Zeit, bis die regelmäßig erhobenen Konjunkturindikatoren vorliegen. Selbst die Forschungsinstitute mussten sich bei der Gemeinschaftsdiagnose noch weitgehend auf begründete Vermutungen verlassen.

Woche für Woche kommen nun aber doch die "harten" Fakten herein, und sie verheißen wahrlich nichts Gutes. Der amerikanische Index der Konsumentenstimmung hat im Oktober den niedrigsten Wert seit 1994 angenommen, die wöchentlichen Arbeitslosenmeldungen, die in den USA am 29. September einen einmaligen Höhepunkt erreicht hatten, steigen seit dem 6. Oktober wieder an, .und die Zahl der amerikanischen Eigenheimkäufe sackte von August bis September so stark ab wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen. Die amerikanische Wirtschaft ist im dritten Quartal erstmals seit langem geschrumpft. Der englische CBI-Konjunkturindikator verzeichnete den stärksten Einbruch seit 17 Jahren. Ähnliche Einbrüche sind in den letzten Tagen aus Schweden, Belgien und Italien gemeldet worden. Für Deutschland liegt mittlerweile der erste Wert des Ifo-Klima-Indikators vor, der nach den Anschlägen in der ersten Oktober-Hälfte bei 7 000 deutschen Unternehmen erhoben wurde. Der Indikator fiel im Vergleich zum Vormonat so stark wie seit der ersten Ölkrise im Jahr 973 nicht mehr.

Die schlechten Nachrichten zeugen von einem Gewitter, das sich zusammenbraut. Der Silberstreif am Horizont, den man mit etwas Phantasie noch im Sommer aus verschiedenen Indikatoren herauslesen konnte, ist endgültig vertrieben. Die Wirtschaftsforschungsinstitute wähnten Deutschland bereits in ihrem Herbstgutachten am Rande einer Rezession, und sie prognostizierten in diesem und im kommenden Jahr nur noch Wachstumsraten von 0,7 beziehungsweise 1,3 Prozent. Inzwischen ist die Gefahr eher noch größer geworden.

Das verarbeitende Gewerbe ist in besonderem Maße gefährdet. Nach einem Wachstum von 6,4 Prozent im Jahr 2000 wird für dieses Jahr nur noch mit 0,8 Prozent gerechnet. Neben der schwachen Nachfrage sprechen vor allem auch die rasch gestiegenen Lagerbestände gegen eine baldige Tendenzänderung in der Produktion. Besonders hart sind die Sektoren im Umfeld des Bausektors betroffen. Die Bauinvestitionen werden in diem Jahr wohl um etwa 5 Prozent und nächsten Jahr noch einmal um mehr als 1 Prozent sinken. Erst für das Jahr 2003 ist ein Ende des Schrumpfungsprozesses in Sicht.

Die Anzeichen für eine drohende Rezession haben sich so deutlich verstärkt, dass die Politik zu energischem Handeln aufgerufen ist. In den USA wurden nachfragestimulierende Maßnahmen beschlossen, die das Budgetdefizit um etwa 1,5 Prozent des Sozialproduktes erhöhen. Die deutsche Steuerreform kam gerade zur rechten Zeit, denn sie lässt die Defizitquote im Vergleich zum Stabilitätsprogramm in diesem Jahr vermutlich von den zunächst geplanten 1,5 Prozent auf 2,5 Prozent und im nächsten Jahr von ein Prozent auf zwei Prozent ansteigen. Die Rezessionsgefahr ist aber immer noch nicht gebannt.

Die Wirtschaftsforschungsinstitute haben deshalb empfohlen, die nächste Stufe der Steuerreform um ein Jahr vorzuziehen. Das ist möglich, ohne die Gefahr einer Verletzung der im Stabilitätspakt vorgesehenen Drei-Prozent-Grenze mit sich zu bringen. Das Budgetdefizit würde dadurch im Jahr 2002 um weitere 0,3 Prozent des Sozialprodukts erhöht, zugleich wäre über eine Konsumankurbelung ein Wachstumsschub von etwa 0,5 Prozent zu erwarten. Beim nächsten Boom sollte das Budget dann allerdings umso energischer konsolidiert werden.

Sicherlich kann die Regierung immer noch mehr Informationen sammeln wollen, bevor sie Maßnahmen zur Konjunkturbelebung beschließt. Ein weiteres Zögern würde die Wirtschaft aber teuer zu stehen kommen. Jetzt ist der Zeitpunkt für nachfragestützende Maßnahmen gekommen. Die Konsumenten und Investoren brauchen Signale, die den Weg nach vorne weisen.

Dass die Europäische Zentralbank bei ihrer letzten Sitzung die Zinsen nicht gesenkt hat, kann man nur mit Kopfschütteln registrieren. Ist denn der irische und der finnische Boom so wichtig für Europa, dass deswegen die drohende Rezession im Herzen des Kontinents nicht bekämpft werden kann? Wo bleibt eigentlich die viel beschworene Verantwortung des einzelnen Zentralbankmitglieds für das Ganze, deretwegen Deutschland sich mit der Hälfte des Stimmgewichtes dieser beiden Länder begnügt hat, obwohl es selbst neunmal so groß ist? Und warum versteckt sich die deutsche Regierung? Was soll die Metapher der ruhigen Hand, wenn energisches Zupacken gefragt ist? Hat die amerikanische Regierung etwa eine zittrige Hand, weil sie ein riesiges keynesianisches Konjunkturprogramm beschlossen hat? Es ist nun auch die Zeit, das 1967 beschlossene Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, die Magna Charta der Stabilisierungspolitik, anzuwenden. Nach diesem Gesetz sind Bund und Länder verpflichtet, bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu berücksichtigen. Sie dürfen also ihre Politik nicht allein m am Ziel einer möglichst raschen Budgetkonsolidierung ausrichten, denn das Gleichgewicht in der Wirtschaft rangiert nicht hinter dem Gleichgewicht in den Büchern der Finanzminister.

Da heute das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ganz eindeutig durch einen Nachfragemangel gestört ist, sollten die Regierungen des Bundes und der Länder von den im Gesetz vorgesehenen Maßnahmen zur Nachfragebelebung Gebrauch machen. Dazu gehört die Gewährung einer Investitionsprämie von 7,5 Prozent für private Investoren und Gemeinden genauso wie die Absenkung der Einkommensteuer um bis zu zehn Prozent. Die Maßnahmen können von der Regierung durch einfache Rechtsverordnung sofort erlassen werden, denn sie sind für den Notfall konzipiert und sollen ein rasches Handeln ermöglichen. Der Notfall ist eingetreten.