Die Presse, 04.08.2016, S. 26
Nach einer Präferenz für Unabhängigkeit an sich war beim Referendum vom 23. Juni über einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union die Migrationsfrage das bei Weitem wichtigste Thema, das die Austrittsbefürworter unter den Wählern umtrieb. Das zeigte auch eine Umfrage von YouGov, die am Tag des Referendums durchgeführt worden war.
Manche erblicken im Wahlverhalten der Briten Fremdenfeindlichkeit und verorten sie in einer unmoralischen rechten Ecke. Sie haben aber die Natur des Problems nicht verstanden. Die Briten sind dank ihres Commonwealth eines der weltoffensten Länder überhaupt. Gerade ihnen Xenophobie vorzuwerfen ist absurd.
EU sollte ihre Regeln ändern
In Wahrheit ist das Ergebnis dieses Votums eine berechtigte Kritik an der Konstruktion der EU, die auf weitgehend offenen Grenzen nach außen und einer Kombination aus Freizügigkeit und Inklusionsprinzip nach innen basiert. Die EU sollte deshalb das britische Misstrauensvotum zum Anlass nehmen, ihre Migrationsregeln grundlegend zu ändern. Der inzwischen abgelöste britsche Premier David Cameron hatte nämlich mit seinem Ansinnen recht. Die EU hätte ihm bei der Einschränkung des Inklusionsprinzips viel stärker entgegenkommen müssen, als sie es getan hat.
Die EU sollte das, was Cameron gefordert und nicht bekommen hat - nämlich eine stark verzögerte Integration auch der Arbeitsmigranten in das Sozialsystem - jetzt im eigenen Interesse realisieren. Wenn sie ihre Wohlfahrtsmagneten nicht abschaltet, wird die Union zerfallen. Denn die Migration ist auch für die anderen EU-Bürger das alles überragende Thema. Parteien, die das noch immer nicht wahrhaben wollen, werden noch ihr blaues Wunder erleben.
Das Grundproblem liegt in einem unauflösbaren Trilemma, das darin besteht, dass sich das Ziel der Freizügigkeit innerhalb der EU, das Ziel der Sozialstaatlichkeit und das Ziel der Inklusion der Migranten in das Sozialsystem des Gastlandes nicht alle gemeinsam realisieren lassen. Heute ist es so, dass ein EU-Bürger, der in ein anderes EU-Land zieht, dort sehr rasch in das soziale Sicherungssystem integriert wird. Wer nicht arbeitsfähig ist, hat spätestens nach fünf Jahren den vollen Anspruch auf steuerfinanzierte Sozialleistungen wie die Einheimischen auch.
Ein früherer Zugang ist Sache des nationalen Rechts, teilweise auch der Rechtsprechung. In Deutschland haben EU-Bürger - auch solche, die, ohne Arbeit zu suchen, da sind - sofort Anspruch auf Wohngeld und Kindergeld, wobei Letzteres auch dann gewährt wird, wenn die Kinder zu Hause bleiben und von den Großeltern versorgt werden.
Erosion der Sozialstaaten
Bei fünf Kindern beträgt das Kindergeld 1018 Euro monatlich. Das dürfte in etwa das Doppelte bis Dreifache dessen sein, was einem durchschnittlichen Arbeitnehmer in Bulgarien oder Rumänien nach Steuern und Sozialabgaben von seinem Arbeitseinkommen verbleibt.
Wer Arbeit sucht, aber keine findet, hat nach einer Entscheidung des Bundessozialgerichts schon nach sechs Monaten Anspruch auf Hartz-IV-Leistungen, freie Krankenversicherung und die Miete für als angemessen eingestuften Wohnraum sowie natürlich auch den Anspruch auf das Kindergeld für die mitkommenden oder daheim gebliebenen Kinder. Wer als Selbstständiger kommt, hat ebenfalls sofort Anspruch auf aufstockende Hartz-IV-Leistungen, Wohngeld und Kindergeld.
Lässt man alle diese Regeln so bestehen, wie sie derzeit sind, werden die Sozialstaaten der EU erodieren, weil sie immer mehr zum Ziel der Armutsmigration werden. Da die Migranten zusätzlich zu ihrem Arbeitslohn auch noch das Umverteilungsgeschenk des Sozialstaats erhalten, kommen sie im Übermaß in die besser ausgebauten Sozialstaaten und belasten dort die Staatsbudgets.
Die Sozialstaaten aber geraten in einen ruinösen Abschreckungswettbewerb, der die einheimische Bevölkerung immer mehr auf die Barrikaden treiben wird.
Verhindern kann man die Erosion nur, wenn die Freizügigkeit oder das Inklusionsprinzip eingeschränkt wird. Die EU muss also eine Güterabwägung zwischen der Qualität des Sozialstaats, der Freizügigkeit und der Inklusion vornehmen und sodann entscheiden, welches der Ziele am ehesten geopfert werden kann.
Inklusionsprinzip beschränken
Es wäre am besten, sie würde das Inklusionsprinzip für EU-Migranten einschränken. Denn wer Hand an den Sozialstaat legt, destabilisiert die Gesellschaft. Und wer die Freizügigkeit einschränken möchte, verletzt eine der Grundfreiheiten der EU. Für EU-Binnenwanderungen sollte die Einschränkung des Inklusionsprinzips kein Problem sein, denn alle EU-Länder genügen dem Acquis Communautaire und stellen einen sozialen Minimalschutz sicher. Es ist deshalb möglich, bei jenen Sozialleistungen vom Inklusionsprinzip zum Heimatlandprinzip zu wechseln, die man sich nicht erarbeitet hat, also bei den steuerfinanzierten Leistungen sowie den beitragsfinanzierten Leistungen in den ersten Jahren der Anwesenheit am neuen Wohnort.
Gilt das Heimatlandprinzip, kann sich jeder EU-Bürger innerhalb der EU frei bewegen, er kann aber nicht im Gastland die Hand aufhalten. Dort erhält er nur die Leistungen, die er sich in einem Versicherungssystem mit kostengerechten Prämien selbst erarbeitet hat.
EU-Außengrenzen schließen
Die EU muss außerdem ihre Außengrenzen schließen. Denn mit der frei zugänglichen Natur, der Infrastruktur, dem Rechtssystem und ihren Sozialleistungen verwaltet sie wertvolle Klubgüter, deren Konsum nicht beliebigen Wirtschaftsmigranten aus der ganzen Welt erlaubt sein kann. Wer glaubt, eine liberale Gesellschaft verlange offene Grenzen, hat nicht verstanden, dass Freiheit den Schutz des Eigentums voraussetzt. Nur wenn man sich die Güter, die man haben will, kaufen muss (oder sie allenfalls geschenkt bekommt), statt sie sich selbst anzueignen, herrscht Frieden auf dieser Welt.
Dessen ungeachtet bleibt selbstverständlich die humanitäre Aufgabe zu erfüllen, politisch Verfolgten aus Drittländern Asyl und dann natürlich die Inklusion in das Sozialsystem des Gastlandes zu gewähren. Aber um die wenigen Menschen, die in diese Kategorie fallen (in Deutschland 2015 gerade einmal 0,7 Prozent der bearbeiteten Anträge) von den Wirtschaftsflüchtlingen zu trennen, braucht man Antragssysteme, notfalls auch Aufnahmelager, die außerhalb der Grenzen der EU zu einer Entscheidung kommen. Jeder andere Weg provoziert noch mehr Chaos und EU-Austritte. (s. Project Syndicate, Juli 2016)