Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 5. August 2018, S. 20.
Die wachsenden Target-Salden bringen die EZB in Erklärungsnot. Ihr Präsident weicht Fragen zur Tilgung, Limitierung oder Besicherung der Target-Salden aus und unterstellt den Kritikern, sie wollten den Euro abschaffen. Der DIW-Präsident und Ex-EZB-Mitarbeiter Marcel Fratzscher rückt die Kritiker der EZB gar in die Nähe der AfD und wirft ihnen Panikmache vor. Andere vermuten zumindest eine europafeindliche Gesinnung. Auch Martin Hellwig reiht sich hier ein (FAS vom 29. Juli). Er war einst, als das Target-Thema aufkam, bei der EZB für die Beobachtung der makroökonomischen Risiken zuständig. Schon damals sah er nur belanglose Salden. Nun verteidigt er sich, doch nicht mit überzeugenden Argumenten.
Lesen Sie den Beitrag von Martin Hellwig hier.
Die Target-Forderungen der Bundesbank sind ein Aktivum, ein grundsätzlich verzinslicher, unbesicherter Anspruch gegen das Eurosystem auf der linken (Soll-) Seite der Bilanz, dem verzinsliche Verbindlichkeiten anderer Notenbanken auf deren rechter (Haben-) Seite gegenüberstehen. So verbucht die spanische Notenbank etwa 400 Milliarden Euro und die italienische etwa 500 Milliarden Euro an Target-Verbindlichkeiten. Selbst Frankreich steht mit etwa 80 Milliarden Euro im Minus.
Es ist eine irreführende Verharmlosung, hier von bloßen Gegenbuchungen im Rahmen des Zahlungsverkehrs zu reden, denn die Target-Salden messen Nettoüberweisungen anderer Länder nach Deutschland, die die Bundesbank zwingen, im Auftrag anderer Notenbanken Zahlungsaufträge auszuführen. Man tilgte seine Schulden in Deutschland und ging dort einkaufen. Dadurch gelangte ein Nettobestand an Gütern und Vermögenstiteln im Wert von bald 1000 Milliarden Euro in ausländische Hand, ohne dass wirkliche Substanz zurückkam. Die Ansprüche der Bundesbank werden in der Zahlungsbilanzstatistik als Auslandsvermögen Deutschlands verbucht und entsprechen der Hälfte des gesamten Nettoauslandsvermögens der Bundesrepublik Deutschland.
Die Bundesbank stellt durch die Überweisungsaufträge sogenanntes „Außengeld“ her, für das sie im Gegensatz zum „Binnengeld“, das sie an heimische Banken verleiht, Target-Forderungen gegen das Eurosystem und damit indirekt gegen die anderen Notenbanken des Eurosystems erhält. Aus der Sicht der einzelnen deutschen Empfänger der Zahlungen ist die Herkunft des Geldes einerlei, doch ist das Zentralbankgeld, das sie erhalten, ein Anspruch gegen die eigene Notenbank und damit gegen eine Institution, die ihnen als Bürger selbst mitgehört. Fallen die Target-Ansprüche aus, würde Deutschland tatsächlich nicht für die gelieferten Güter und Vermögenstitelkompensiert. In diesem Fall haben die deutschen Steuerzahler die Schulden der Ausländer getilgt und die Lieferanten bezahlt. Für Verluste der Deutschen Bundesbank muss der deutsche Steuerzahler nämlich haften, entweder durch Verzicht auf Ausschüttungen oder durch eine Rekapitalisierung der Bundesbank, was auf dasselbe hinausläuft.
Nach meiner Interpretation handelt es sich bei der Target-Forderung der Bundesbank um einen Überziehungskredit im Innenverhältnis des Eurosystems, der von ähnlicher Natur ist wie die Sonderziehungsrechte des Internationalen Währungsfonds oder auch die Kreditlimits, die sich Notenbanken im Rahmen von Festkurssystemen einräumen.
Hellwig zieht die Krediteigenschaft der Target-Salden in Zweifel, weil er die Bundesbank eher als Filiale der EZB sieht, und er findet eine auf die deutsche Volkswirtschaft bezogene Betrachtung der internationalen Leistungsströme innerhalb des europäischen Binnenmarkes ohnehin „semantisch unsinnig“, weil dahinter immer einzelne Personen und Institutionen stehen, deren staatliche Zuordnung seiner Meinung nach unwichtig ist. Damit greift er dem Gang der Geschichte sehr weit voraus, denn der europäische Staat, der einen stillschweigenden Verzicht auf die Forderungen gegenüber anderen Gebieten vielleicht erlauben würde, wurde in Europa noch nicht gegründet. Bislang gehört das Vermögen der Bundesbank noch dem deutschen Staat. Das deutsche Verfassungsgericht hat der Bundesbank strikt verboten, sich einem Leistungsmechanismus zugunsten anderer Länder zu unterwerfen.
Beim Euro hat man, anders als beim Dollar in den Vereinigten Staaten, Vorschriften zur Tilgung der Salden „vergessen“. Verständlich ist daher, dass die Entscheidungsträger der jetzigen Krisenländer es attraktiver fanden, sich immer mehr Geld von ihren eigenen Notenbanken drucken zu lassen, anstatt es sich auf dem europäischen Kapitalmarkt leihen zu müssen. Die Geschäftsbanken der überschuldeten Länder haben dann das frisch gedruckte Kreditgeld zu Konditionen an die private Wirtschaft und den Staat weitergereicht, die im Vergleich zum Markt extrem günstig waren. Dadurch wurde es möglich, immer mehr Nettoüberweisungen in andere Länder zu realisieren, ohne dass die nationale Liquidität wegtrocknete, ein Aspekt, der bei Hellwig überhaupt nicht vorkommt.
Die Aushebelung des Kapitalmarktes durch den Verzicht auf adäquate, länderspezifische Risikoprämien stellt eine fundamentale Verzerrung der Kapitallokation im Raum dar, die Europa nachhaltig schwächt. Das ist kein Übergangsproblem und kein Thema von Altlasten, sondern ein strukturelles Dauerproblem, an dem die Eurozone zugrunde gehen kann.
Die asymmetrische Kreditgeldschöpfung ist aber nur ein Grund für die Target-Salden. Seit 2015 traten die Käufe im Zuge des mittlerweile 2,4 Billionen Euro schweren QE-Programms hinzu, die etwa zur Hälfte Investoren aus Nicht-Euro-Ländern betrafen. Da die Investoren ihre Verkaufserlöse vor allem in einige nördliche Länder der Eurozone überwiesen, um sie dort anzulegen, allen voran Deutschland, wurden deren Notenbanken zur Bereitstellung der dafür nötigen Liquidität gezwungen, was einen weiteren Zuwachs der Target-Salden induzierte. Der technische Vorgang, von dem die EZB in diesem Zusammenhang gerne spricht, bedeutete, dass in den Portfolios der Anleger dieser Welt in riesigem Umfang Staatspapiere Südeuropas durch Vermögenwerte aus Deutschland ersetzt wurden, während die deutschen Verkäufer von der Bundesbank Euros bekamen und die Bundesbank mit Target-Forderungen gegen das Eurosystem kompensiert wurde. Es war und ist eine gewaltige Umschuldungsaktion, die verbriefte Staatsschulden durch Target-Schulden beim Eurosystem und damit indirekt vor allem bei der Bundesbank ersetzte und den Anlegern aus aller Welt die Möglichkeit gab, ihre Bestände an südeuropäischen Staatspapieren gegen deutsche Aktien, Wertpapiere, Bankkonten und andere Vermögenstitel einzutauschen.
Gefahren drohen aus den Target-Salden im Euro, wenn nationale Finanzsysteme in den Konkurs geraten, vor allem aber, wenn einzelne oder alle Länder das Eurosystem verlassen. Sollte das Eurosystem kollabieren, sitzt der deutsche Teil des Währungsgebietes auf einem Riesenhaufen Zentralbankgeld, der für ihn allein viel zu groß ist und gewaltige Inflationsgefahren birgt. Die Bundesbank müsste dann einen Währungsschnitt machen und/oder das Geld wieder einsammeln und verbrennen, z.B. indem sie Staatspapiere verkauft, die sie vorher vom deutschen Fiskus geschenkt bekommt. Dieses Szenarium ist der Drohpunkt, mit Hilfe dessen Deutschland in den nächsten Jahren in eine Transferunion gedrängt werden könnte. Die Verluste werden sich dann unmittelbar im Staatsbudget zeigen.
Unangenehm wird es bereits dann, wenn nur ein einzelnes Land wie Italien mit dem Austritt droht. EZB-Chef Mario Mario Draghi sagt, Italien müsse seine Target-Schulden im Fall des Austritts „vollständig“ begleichen. Nach Meinung von Martin Hellwig gibt es dafür aber gar keine Rechtsgrundlage, und tatsächlich könnte die Banca d’Italia ihren Verpflichtungen im Innenverhältnis auch gar nicht nachkommen, weil ihre Aktiva aus abgewerteten Lire bestehen und auf der Passivseite der Bilanz die Euro-Target-Schulden stehen. So oder so träfe die Bundesrepublik ein anteiliger Verlust in Höhe von 31 Prozent der nicht beglichenen italienischen Target-Schulden, während man weder den Rückkauf der italienischen Staatsschulden durch die Banca d'Italia noch die Übereignung deutscher Vermögenstitel und Güter an Ausländer anullieren kann.
Diese Fassung enthält stilistische Korrekturen, die in der FAS-Fassung nicht mehr berücksichtigt werden konnten, weil sie erst nach Redaktionsschluss ankamen.