Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17.04.2016
Unter dem Titel "Kritik an Draghi ist noch keine Lösung" verteidigten Marcel Fratzscher und Kollegen an dieser Stelle in der vergangenen Woche die ultra lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB). Ihr Argument war, dass (berechtigte?) Kritik alleine nicht ausreiche. Die Gegner müssten konstruktive Antworten auf die Krise finden. Dieser Aufforderung wollen wir nachkommen.
Zunächst muss man verstehen, wie die Krise entstanden ist. Die Ankündigung des Euros ließ die Zinsen in Südeuropa und Irland schon ab 1998 auf das niedrige deutsche Niveau fallen. Das veranlasste die Staaten, Ausgaben und Schulden aufzublähen. Die niedrigen Kreditzinsen trieben Immobilienblasen. Beides ermöglichte exorbitante Lohnerhöhungen, die sich nicht mehr an Produktivitätszuwächsen orientierten. Das heizte die Inflation an, unterminierte die Wettbewerbsfähigkeit und ließ hohe Leistungsbilanzdefizite entstehen. Als die amerikanische Finanzkrise 2007/2008 nach Europa überschwappte, riss der Zustrom von Krediten ab, und die Blasen platzten.
Die Krisenländer schlossen mit Hilfe von Krediten der Notenbanken durch nationale Geldschöpfung die Finanzierungslücken. So entstanden die sogenannten Target-Schulden der Euro-Krisenländer über die Notenbanken. Sie lagen in der Spitze im Jahr 2012 bei 1003 Milliarden Euro. Das Eurosystem half zudem, indem es für 223 Milliarden Euro Staatspapiere der Krisenländer kaufte. Die EZB bot für den Notfall sogar unbegrenzte Käufe an. Sie senkte die Zinsen auf null und kauft seit Anfang 2015 in riesigem Umfang Staatsanleihen aller Euroländer.
Die Rettungspolitik der EZB hat in Südeuropa zwar Staats- und Bankenkrisen vorgebeugt. Doch statt der Bevölkerung schmerzliche Reformen zuzumuten, gewöhnte man sich an die Droge des billigen Geldes. Die rechtlichen Schranken in Form des Stabilitäts- und Wachstumspaktes aus dem Jahr 1996, des Fiskalpaktes aus dem Jahr 2012 und des Verbots der monetären Staatsfinanzierung (Art. 123 AEUV) erwiesen sich als unfähig, dem Treiben Einhalt zu gebieten.
In Südeuropa hält die Wachstumskrise an, weil die EZB zu viel Zeit fürs Nichtstun gekauft hat. Mit ihrer Nullzinspolitik hat sie die Allokationsfunktion des Zinses außer Kraft gesetzt, sodass nicht mehr zwischen Investitionen mit hoher und niedriger Grenzleistungsfähigkeit getrennt wird. Da Ressourcen in Projekten mit geringen Renditen gebunden bleiben, werden weniger neue Investitionen mit hoher Rendite auf den Weg gebracht. Zombie-Banken hängen weiter am Tropf der EZB und subventionieren Zombie-Unternehmen, die ohne eine "nachsichtige Kreditvergabe" nicht lebensfähig wären. So lähmt die Geldpolitik Investitionen, Innovationen, Produktivitätsgewinne und Wachstum, ähnlich wie es früher in den sozialistischen Planwirtschaften der Fall war.
In Deutschland treibt die ultra lockere Geldpolitik nun die Preise von Aktien und Immobilien in den Himmel. Es entstehen neue Blasen, die platzen werden. Man kann nicht Blasen mit Blasen bekämpfen. Diese Strategie wird am Ende die Geldordnung und damit das Vertrauen der Bürger zerstören. Es ist deshalb an der Zeit, ein klares Signal zu geben, dass die expansive Geldpolitik beendet wird. Längst fällige Reformen würden so erzwungen. Die Spekulation auf einen Fortgang der Geldschwemme würde eingedämmt. Das Vertrauen der Sparer in die Geldordnung würde wieder gestärkt. Die Federal Reserve hat diese Trendwende bei den Zinsen schon umgesetzt.
Denkbar wären glaubhafte Zinsschritte von je 0,25 Prozentpunkten pro Halbjahr über einen langen Zeitraum hinweg. Würden so die Erwartungen hin zu einer langsamen geldpolitischen Straffung gedreht, hätten überschuldete Staaten, wacklige Finanzinstitute und lahme Unternehmen ausreichend Zeit für das längst fällige Aufräumen. Wenn einige dennoch scheitern, wird Neues entstehen. Wer die schöpferische Zerstörung Schumpeters verhindern will, wird Siechtum ernten.
Da die Regierungen mit steigenden Zinslasten rechnen müssten, wären sie zum Sparen gezwungen, um die Schuldenberge abzutragen. Die Verringerung der öffentlichen Ausgaben würde privater wirtschaftlicher Aktivität wieder mehr Raum gegeben. Den Banken und Versicherungen, die darunter leiden, dass die Geldpolitik die Gewinnmargen drückt, würde eine wichtige Einkommensquelle zurückgegeben. Damit ließen sich faule Kredite abtragen und das traditionelle Kreditgeschäft zur Investitionsfinanzierung wiederbeleben.
An die Unternehmen würde das Signal gesendet, dass sie, statt auf billige Kredite zu warten, wieder höhere Renditen erwirtschaften müssen. Das wäre ein Anreiz zu neuen Innovationen und Investitionen. Die Produktivitätsgewinne, die seit Einsetzen der sehr expansiven Geldpolitiken immer kleiner wurden, würden wieder zunehmen. Dies würde Raum für reale Lohnerhöhungen und mehr Konsum schaffen. Die Kapazitäten der Unternehmen würden wieder ausgelastet. Das Vertrauen der Bürger in Marktwirtschaft und Politik würde wiederbelebt.
Der Ausstieg aus der sehr lockeren Geldpolitik ist nur dann möglich, wenn er international koordiniert wird. Sonst kommt es zu schmerzhaften Aufwertungen. Da in allen großen Ländern die expansiven Geldpolitiken das Wachstum lähmen, ist gemeinsames Handeln sinnvoll und erforderlich. Äußerungen auf dem jüngsten G-20-Treffen in Schanghai gingen in diese Richtung.
Die EZB sollte ihr Inflationsziel wieder stärker am Maastricht-Vertrag orientieren, der Preisstabilität und nicht etwa eine Inflationsrate von nahe zwei Prozent vorschreibt. Mit der semantischen Umdeutung des Mandats sollte Schluss sein. Die Schweiz hat in der Vergangenheit gezeigt, dass in Perioden der Preisstabilität das Wachstum nicht beeinträchtigt wird. Darüber hinaus muss das Regelwerk, unter dem der EZB-Rat seine Beschlüsse trifft, reformiert werden.
Dazu sind folgende Schritte unerlässlich: Erstens sollten die Stimmgewichte im EZB-Rat die Haftungsanteile widerspiegeln. Es geht nicht an, dass Deutschland für ein Viertel der Investitionsrisiken der EZB haftet, obwohl es nur ein Stimmgewicht wie Malta hat. Der Zentralbankpräsident des wirtschaftlich größten Eurolandes darf bei den fiskalischen Kreditoperationen der EZB nicht laufend überstimmt werden können.
Zweitens sollte für geldpolitische Entscheidungen, die starke fiskalische Wirkung haben, eine qualifizierte Mehrheit von mindestens 80 Prozent der Stimmen vorgesehen sein, zum Beispiel bei Käufen von Staatspapieren. Drittens muss die asymmetrische Kreditgewährung aus der Druckerpresse, die Deutschlands Target-Forderungen mittlerweile wieder auf über 600 Milliarden Euro getrieben hat, ein Ende finden. Es geht nicht an, dass man unbegrenzt bei der Bundesbank anschreiben lassen kann, ohne jemals zur Tilgung gezwungen zu sein. In den Vereinigten Staaten müssen die Target-analogen Salden zwischen den Distrikt-Zentralbanken jährlich abgegolten werden. Die Tilgung nimmt den Appetit für die Selbstrettung mit der Druckerpresse.
Dies alles ist ein Entzugsprogramm für Drogensüchtige. Es kann zwar erhebliche Kopfschmerzen verursachen, doch ist es unvermeidbar, wenn man Europa nicht zu einem Bund überschuldeter Junkie-Staaten machen will, der politisch und wirtschaftlich in der Welt nicht Schritt halten kann.
Diejenigen, denen die Therapie zu beschwerlich ist, sollten unter Streichung eines Teils ihrer Schulden temporär aus der Währungsunion austreten können. Nachdem das betroffene Land nach Abwertung und Strukturreformen seine Wettbewerbsfähigkeit wiedererlangt hat, wäre der Wiedereintritt zu einem neuen Wechselkurs möglich. Die Abwertung würde die Arbeitslosigkeit senken. Die Aussicht auf Wiedereintritt würde Reformkräfte stärken und das Land politisch stabilisieren.
Die Probleme sitzen tief und sind politisch nicht einfach zu lösen. Doch der Versuch, strukturelle Probleme mit immer mehr billigem Geld zu therapieren, ist kontraproduktiv. Da die ultra lockere Geldpolitik neue Blasen treibt, das Wachstum lähmt und wachsende Ungleichheit begründet, bildet sie den Nährboden für eine zunehmende politische Polarisierung in der EU. Es ist an der Zeit, Mario Draghi die Bazooka zu entreißen.
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