Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Februar 2018, S. 20.
Reisende solle man ziehen lassen. So hört man es achselzuckend aus deutschen Regierungskreisen. Der Brexit wird kommunikativ als ein Ereignis von minderer Bedeutung dargestellt. Schade zwar, aber auch kein Beinbruch. Diese Position ist entweder naiv, oder sie soll beschwichtigen. Großbritannien ist nicht nur eine von zwei Nuklearmächten der EU, sondern die zweitgrößte Volkswirtschaft Europas. Gemessen an der Wirtschaftskraft, ist der Brexit gleichbedeutend mit dem simultanen Austritt von 19 der 28 EU-Länder. Der Austritt ist ein größerer, ja katastrophaler Unfall in der Geschichte Europas. Er zerstört die Nachkriegsordnung und lässt eine lädierte EU zurück.
Deutschland selbst hatte in den 1960er Jahren mit großem Nachdruck daran gearbeitet, Großbritannien in die EU zu bringen, und war 1973 erfolgreich, nachdem der französische Präsident Charles de Gaulle, der große Gegner eines Beitritts, verstorben war. Mit dem Beitritt Großbritanniens wurde der Schutz der Nato glaubhafter, einseitige Abhängigkeit von Frankreich vermieden, und unter dem Einfluss der weltläufigen Briten, die den Freihandel mit den Ländern ihres ehemaligen Weltreichs in der EU erfolgreich verteidigten, gelang es der deutschen Industrie, die Weltmärkte zu erobern.
Daran gemessen, verwundert die Gleichgültigkeit gegenüber den Sorgen Großbritanniens, die schon bei den Verhandlungen zur Vermeidung des Brexits zu beobachten war. Als der damalige Premierminister David Cameron eine Verlängerung der Wartezeit bis zur Inklusion der EU-Migranten in das Sozialsystem des jeweiligen Gastlandes verlangte, um seine Landsleute vom Verbleib in der EU zu überzeugen, ließ man ihn abblitzen. Die Regelung, die die EU Cameron angeboten hatte und die auch die Bundeskanzlerin unterstützte, war wertlos, weil sie nach einer Übergangszeit von sieben Jahren auslaufen sollte. Cameron kam im Februar 2016 mit fast leeren Händen nach London zurück und hatte wenig Substanz für einen positiven Ausgang des Referendums anzubieten. Er hat sich später über die mangelnde Unterstützung durch die Kanzlerin beklagt.
Warum wurde Angela Merkel nicht aktiv? Hatte sie, wegen ihrer Flüchtlingspolitik unter Druck, keine Zeit, sich dem Thema zu widmen? Oder war sie nicht handlungsfähig, weil sie Frankreich nicht verprellen wollte, auf dessen Unterstützung sie bei der Umsetzung einer Flüchtlingsquotenregelung angewiesen war?
So oder so stand das Migrationsthema im Mittelpunkt der Brexit-Entscheidung. Die Austrittspartei Ukip warnte unter Verweis auf die Flüchtlinge vor dem Tunnel von Calais davor, dass ein Teil der Flüchtlinge, denen Deutschland damals die Tore geöffnet hatte, auch nach Großbritannien kommen werde, sei es auf illegalem Wege, sei es durch das von Deutschland angestrebte Quotenverfahren. Bei den Exit Polls, den Umfragen, die das Befragungsinstitut Yougov nach dem Verlassen der Wahlkabinen am 26.Juni 2016 durchführte, wurde das Migrationsthema von den Brexiteers fünfmal so häufig genannt wie das nächstwichtige Thema, Arbeitsplätze und Investitionen. Insofern trägt die deutsche Regierung eine doppelte Mitverantwortung für den Brexit.
Worauf sich Großbritannien einstellen muss
Deutschland ist für Großbritannien der zweitgrößte Exportmarkt, die EU als Ganzes ist Großbritanniens wichtigster Exportmarkt. Eine Einschränkung des Handels träfe Großbritannien empfindlich und bescherte dem Land erhebliche Wohlfahrtsverluste. Besonders große Verluste sind beim Handel mit Finanzdienstleistungen zu erwarten, denn die werden sicherlich in besonderem Maße eingeschränkt werden, schon weil die EU es nicht zulassen wird, dass sie Institutionen, von denen systemische Risiken auf ihr Territorium ausgehen, nicht selbst kontrollieren kann.
Wenn der Dienstleistungshandel eingeschränkt wird, wird die City of London ihre Funktion als Umschlagplatz für die Transaktionen des europäischen Finanzmarktes teilweise verlieren. Allein schon an der Clearing-Funktion im Derivate-Handel hängen Zehntausende Arbeitsplätze. Aber auch die normalen Arbitrage-Geschäfte der Banken, bei denen Ersparnisse eingesammelt und an Kreditnehmer in Europa weitergeleitet werden, sowie das Versicherungswesen bieten direkt und indirekt Millionen Menschen Arbeit und Brot. Der Wertschöpfungsanteil der Finanz- und Versicherungsbranche ist in Großbritannien mit 6,5 Prozent der Wirtschaftsleistung (gemessen am Bruttoinlandsprodukt) fast doppelt so groß wie in Deutschland.
Der Austritt erzeugt in Großbritannien aber nicht nur Verlierer. Gewinner könnten die alten Industriegebiete sein. Sie hatten durch die Aufwertung des Pfunds, die auf die wachsende Attraktivität der Finanzdienstleistungen der City zurückzuführen war, ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren und könnten mit der Zurückdrängung der City nun wieder hochkommen. Auf dem Weg über eine Normalisierung des Pfundkurses erhalten die alten Industriegebiete mit neuen stofflichen und digitalen Produkten neue Chancen.
In der Sprache der Ökonomen liegt dieser neue Vorteil darin, dass Großbritannien von der sogenannten „holländischen Krankheit“ geheilt wird. In den 1960ger Jahren hatte Holland Gas gefunden, dessen Verkauf zu einer Aufwertung des Guldens und einem Reallohnanstieg führte, der die holländische Industrie dezimierte. Erst als in den achtziger Jahren die Gaspreise fielen und die Produktion zurückging, erholte sich das Land. Auch Norwegen leidet unter der holländischen Krankheit, denn wegen des Verkaufs seiner Ressourcen hat es die höchsten Lohnkosten der Welt mit der Folge, dass man ein verarbeitendes Gewerbe dort vergeblich sucht. Was für Norwegen das Öl und für Holland das Gas ist, sind für Großbritannien die Produkte der City. So gesehen, folgten die Wähler aus den alten Industriegebieten nicht nur irgendwelchen populistischen Rattenfängern, wenn sie sich gegen das Londoner Establishment auflehnten, sondern entschieden sich für eine Strategie, die ihnen Vorteile bringen kann. Das heißt nicht, dass diese Vorteile die Nachteile der City aufwiegen, es heißt nur, dass es sie gibt.
Auch Deutschland wird zu den Verlierern des Austritts gehören
Obwohl sich ein Teil der britischen Finanzbranche nun nach Frankfurt verlagert, wird Deutschland zu den Verlierern des Brexits gehören. So wird die strukturelle Abwertung des Pfundes im Verein mit einer allgemeinen Beschränkung des Handels der deutschen Exportindustrie zusetzen, die in Großbritannien noch vor kurzem ihren drittgrößten Absatzmarkt hatte. Deutsche Autos sind zwar nach wie vor begehrt, doch ist die eigene Automobilindustrie schon wieder im Kommen. Daran hat übrigens auch BMW seinen Anteil, weil es sein Wissen mitsamt vieler deutscher Fachleute dort hinterließ.
Wichtiger noch als die unmittelbaren Effekte einer Handelserschwerung mit Großbritannien wiegen freilich die indirekten Effekte aufgrund einer Verringerung des politischen Gewichts der nördlichen Länder der EU, die traditionell eher an Freihandel interessiert sind und einer Transferunion à la Macron skeptisch gegenüberstehen. Diese Gewichtsverringerung lässt sich präzisieren. So haben die nördlichen EU-Länder inklusive des Vereinigten Königreichs, der Niederlande, Deutschlands, Österreichs, der baltischen Länder, Dänemarks und Schwedens 39 Prozent der EU-Bevölkerung, und die mediterranen haben 38 Prozent. Nach dem Brexit schrumpft die nördliche Gruppe auf 30 Prozent, die mediterrane wächst auf 43 Prozent. Das ist problematisch, denn der Lissabon-Vertrag hatte beiden Ländergruppen eine Blockademacht bei den Entscheidungen des Ministerrats der EU gegeben, indem er vorsah, dass eine Ländergruppe, die mindestens 35 Prozent der EU-Bevölkerung auf sich vereint, nicht überstimmt werden kann. Diese Regelung verliert nun offenkundig ihre Bedeutung, indem die Blockademacht der mediterranen Länder gestärkt und die der nördlichen Länder beseitigt wird.
Der Rückzug Großbritanniens könnte im Übrigen auch im Europaparlament noch auf einem ganz anderen Wege zu einer Schwächung der politischen Macht Deutschlands beitragen. So hat das Parlament einen Vorlagebeschluss für den Europäischen Rat getroffen, nach dem von den 73 Parlamentssitzen, die nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs frei werden, 27 anderen Ländern zugeschlagen werden. So sollen zum Beispiel Frankreich und Spanien je fünf weitere Sitze erhalten, während Deutschland nicht einen einzigen neuen Sitz erhält. Seine Zahl der Parlamentssitze bleibt auf 96 gedeckelt, wie es der Lissabon-Vertrag vorsieht.
Die Verringerung der politischen Macht Deutschlands und der anderen nordischen Länder, wie sie insbesondere mit dem Verlust der Sperrminorität im Ministerrat verbunden ist, wird die Machtbalance in der EU drastisch zugunsten der wirtschaftlich weniger erfolgreichen Länder des Mittelmeerraums verändern. Die Prognose, dass sich Europa auch deswegen zu einer Transferunion entwickeln wird, bei der der Norden den Süden wird aushalten müssen und der Süden umgekehrt dauerhaft in der holländischen Krankheit mit Löhnen gehalten wird, die durch die Produktivität der jeweiligen Standorte nicht gedeckt sind, und deshalb nie wieder vom Fleck kommt, ist nicht gewagt.
Wider die Metapher vom Rosinenpicken
Die Verhandlungen der EU werden vom französischen Spitzenbeamten Michel Barnier geleitet, der als EU-Kommissar tätig ist und als nächster Kommissionspräsident gehandelt wird. Er hat die in Deutschland häufig nachgesprochene Devise vom Verbot des Rosinenpickens ausgesprochen. Wenn Großbritannien den Binnenmarkt verlasse, dann müsse es ihn ganz verlassen. Es könne nicht einerseits die Freizügigkeit für Menschen verbieten und andererseits Handelsfreiheit für Kapital, Güter und Dienstleistungen beanspruchen.
Barniers Devise mag eine vordergründige Logik haben. Aus ökonomischer Sicht ist sie grundfalsch, ja geradezu das Gegenteil dessen, was jedes Modell des reinen Außenhandels impliziert. Danach ist es zwar schade, wenn eine der Freiheiten eingeschränkt wird, doch wenn das nun einmal passiert, ist es umso wichtiger, die anderen Freiheiten weiterhin zu gewähren, denn sie nutzen grundsätzlich beiden Seiten. Handel ist die Voraussetzung für Spezialisierungsgewinne und gibt den Verbrauchern die Möglichkeit, dort zu kaufen, wo sie besser bedient werden. Mit dem Verbot des Rosinenpickens würden sich die EU-Länder selbst schädigen.
Der Grund für diese Aussage ökonomischer Modelle liegt darin, dass die freie Migration von Arbeitskräften und der Freihandel mit Gütern und Kapital ökonomische Substitute sind, die sich teilweise ersetzen können und jedenfalls ähnlich günstige Wohlfahrtswirkungen hervorrufen. Wenn eines gestört ist, braucht man das andere umso mehr. Konkret: Wenn wegen fehlender Arbeitskräftemigration die Lohnunterschiede zwischen den Ländern besonders groß sind, dann sind auch die relativen Güterpreise arbeits- und kapitalintensiv produzierter Güter zwischen den Ländern besonders groß, und das wiederum spricht für hohe Handelsgewinne. Diese Handelsgewinne würde man durch die Strategie Barniers zum Nachteil beider Seiten verhindern.
Es ist wie mit meiner rechten und meiner linken Hand. Wenn ich meine gebrochene rechte Hand in einer Schlinge trage, folgt nicht, dass ich nun auch die linke an meinen Körper anbinden sollte, um die Symmetrie zu wahren. Ganz im Gegenteil folgt, dass die linke Hand besonders frei sein muss, damit sie einen Teil der Arbeit der rechten Hand miterledigen kann.
Welche Union wollen wir?
Der wahre Grund für Barniers Rosinenpicker-Devise ist denn wohl auch, dass er eine Möglichkeit sucht, Großbritannien zu bestrafen, damit nicht auch andere Länder auf „dumme“ Gedanken kommen. Das ist als Motiv zwar zunächst plausibel, doch muss man sich fragen, welches Bild von der EU ihm zugrunde liegt. Wieso sollte ein freiwilliger Bund souveräner Staaten, die gerne zusammenkommen, weil sie sich Vorteile davon versprechen, Strafen für den Austritt aus der Union verhängen? Nur Gefängnisse brauchen solche Strafen.
Es gibt grundsätzlich zwei Arten von Union. Der eine Typus ist durch Freiwilligkeit der Mitgliedschaft und gegenseitige Vorteile gekennzeichnet, die grundsätzlich alle Mitglieder haben. Man kann hier in Anlehnung an die Theorie des italienisch-schweizerischen Ökonomen Vilfredo Pareto von einer Pareto-optimalen Föderation reden.
Die andere Union ist eine Umverteilungsunion, die einer Gruppe von Ländern Ressourcen nimmt und sie einer anderen Gruppe gibt. Die Verlierer einer solchen Union würden es vorziehen auszutreten, und um sie daran zu hindern, müssen sie mit Strafen bedroht werden. Sie ist offenbar das, was Barnier im Auge hat.
Wer ihm hier nicht folgen möchte, der muss die Option des straffreien Austritts wollen und im Übrigen bei den Abstimmungen starke Minoritätsrechte vorsehen. Nur so lassen sich die Umverteilungsgelüste der Mehrheit im Zaum halten. Der Verlust der Sperrminorität der nordischen Länder nach dem Brexit lässt erwarten, dass die EU sich in die falsche Richtung entwickeln wird. Sicher, man kann auch eine Umverteilungsunion im Sinne eines Versicherungsschutzes auf Gegenseitigkeit interpretieren. Eine solche Union benötigt jedoch einen bindenden dauerhaften Versicherungsvertrag, der auch dann noch gilt, wenn die jetzigen Nettozahler selbst bedürftig werden sollten. Der Abschluss eines solchen Vertrages ist die Gründung des europäischen Staates.
Davon ist Europa jedoch meilenweit entfernt, zumal ein französischer Präsident nach dem anderen erklärt hat, dass er das Fernziel der Vereinigten Staaten genauso ablehnt wie die damit verbundene Unterordnung der Force de Frappe unter ein europäisches Kommando. Die häufig von französischen Ökonomen beschworene Risikoteilung verdient diesen Namen schon deshalb nicht, weil kein europäisches Land durch Ereignisse in Schwierigkeiten gekommen ist, die es nicht selbst zu verantworten hätte.
Wie schwer sich selbst veritable Staaten tun, Umverteilungssysteme zu Lasten einzelner Regionen aufrechtzuerhalten, zeigt Katalonien. Das Land hat 16 Prozent der spanischen Bevölkerung und erzeugt 20 Prozent des Sozialprodukts. Von diesem Vorteil verbleibt aber nicht viel, weil viele Mittel über undurchsichtige Kanäle über Madrid nach Südspanien geleitet werden. Die Umverteilung zwischen Regionen und Ethnien stabilisiert Föderationen nicht, sondern ruft erhebliche Zentrifugalkräfte hervor. Auch der Separatismus der italienischen Lega Nord sollte ein warnendes Beispiel sein.
Exit from Brexit
Aus heutiger Sicht erscheint der Brexit, der all diese Gefahren heraufbeschwört, als kaum noch abwendbar. Das gesamte Establishment des Vereinigten Königreichs geht mit nur wenigen Ausnahmen heute davon aus, dass Großbritannien die EU zum 19.März 2019 verlassen und die sich anschließende Übergangsfrist mit dem Jahr 2020 enden wird.
Dennoch könnte es anders kommen. Zu viele Ereignisse, die eigentlich unmöglich zu sein schienen, fanden in den vergangenen Jahren statt, als dass man Gewissheit haben könnte. Wenn sich die Verhandlungen festfahren, wenn die Briten begreifen, wie groß ihre Verluste sind, wenn es zu einer krisenhaften Kapitalflucht kommen oder das Pfund kollabieren sollte: dann könnte sehr wohl ein Zustand eintreten, in dem das Unterhaus ein zweites Referendum vorschlägt, um das Volk über den ausgehandelten Vertrag entscheiden zu lassen. Nach den heutigen Umfrageergebnissen würden dabei die Remainers vermutlich gewinnen.
Für diesen Fall sollte sich die EU wappnen, indem sie den Briten einen großen Schritt entgegenkommt. Das ist auch die Position einen neuen Initiative unter Leitung einiger ehemaliger BDI-Präsidenten und des Unternehmensberaters Roland Berger, die auch vom Verfasser dieses Beitrags unterstützt wird. Wenn die EU über ihren Schatten spränge, könnten es auch die Briten tun, und beide Seiten kämen noch rechtzeitig zur Vernunft, bevor die Katastrophe ihren Lauf nimmt. Und wenn die Briten dennoch austreten, dann hätte man zumindest eine bessere EU.
Dazu müsste zweierlei geschehen: Erstens müsste die deutsche Regierung erklären, dass sie den Austritt für eine solch wichtige und für das Schicksal unseres Landes dermaßen zentrale Frage hält, dass sie die Verhandlungen darüber nicht der EU allein überlassen kann. Sie muss den EU-Vertrag in seiner heutigen Form selbst in Frage stellen, und dabei kann sie sich nicht von einem französischen EU-Kommissar vertreten lassen. Schon der drohende Verlust der Sperrminorität im Ministerrat sollte Anlass genug sein, aus wichtigem Grund eine Vertragsänderung zu verlangen.
Sie muss dabei natürlich auch Rücksicht auf andere Länder nehmen, aber sie muss dazu zunächst einmal couragiert agieren, ähnlich wie es Frankreich immer wieder tut. Wie die große spanische Zeitung „El País“ unter Berufung auf den spanischen Ministerpräsidenten Zapatero berichtete, hatte Präsident Nicolas Sarkozy im Mai 2010 mit dem Austritt seines Landes aus dem Euro gedroht, um Deutschland den Rettungsschirm EFSF abzutrotzen, eine Aktion, die selbst die damalige französische Finanzministerin Christine Lagarde als Vertragsverletzung ansah. Nun ist die Zeit gekommen, in der Deutschland auch einmal seine Interessen in die Waagschale werfen und offensiv für eine bessere EU werben muss. Wenn Angela Merkel nicht als Kanzlerin der Teilung Europas in die Geschichtsbücher eingehen will, sollte sie diesen Hinweis ernst nehmen.
Zweitens käme es darauf an, ein kluges Zugeständnis zu formulieren, das den Briten hilft, uns aber nicht schadet, ja anerkennt, dass die Briten mit ihrem Reformbegehren sogar recht hatten. Das könnte eine Verbesserung der Regeln für die EU-interne Migration sein. Dies war das Thema, das die Briten so sehr störte, dass die Austrittsbefürworter die Mehrheit gewannen. Konkret könnte man den Vorschlag Camerons, EU-Sozialmigranten verzögert in das Sozialsystem des Gastlandes aufzunehmen, einen Schritt weiterentwickeln, indem man die Sozialleistungen in erarbeitete und ererbte Sozialleistungen aufteilt. Erarbeitete Leistungen sind zum Beispiel die Arbeitslosen- oder die Rentenversicherung, die durch Beiträge finanziert wurden. Ererbte Leistungen könnten andere Leistungen wie das Wohngeld, das Kindergeld oder die soziale Grundsicherung für nicht erwerbsfähige Personen sein, die nichts mit dem Arbeitsverhältnis zu tun haben. Diese ererbten Leistungen könnten grundsätzlich vom EU-Heimatland erbracht werden, während es den Betroffenen vollständig freigestellt bleibt, sie an einem Ort ihrer Wahl zu konsumieren.
Dieser Vorschlag ginge sogar noch über Camerons Wünsche hinaus und ermöglichte den Briten gesichtswahrend ein neues Referendum. Auch wäre er geeignet, die Wohlfahrtsmagneten der nördlichen Länder abzuschwächen, die die Migrationsströme in Europa in erheblichem Maße verzerrt haben, ohne dabei die Freizügigkeit einzuschränken. Ob mit oder ohne Großbritannien: Es entstünde ein besseres Europa, in das wir unsere Kinder mit mehr Zutrauen hineinwachsen lassen könnten.
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