Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.06.2016, S. 21
Noch vor zwei Jahren hatte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in einer vorläufigen Stellungnahme die Meinung vertreten, dass die Europäische Zentralbank (EZB) mit dem OMT-Beschluss zum Notkauf von Staatsanleihen ihr Mandat überschritten habe. Das Gericht hatte sogar den Begriff der "Machtusurpation" verwendet. Nachdem dann aber der Europäische Gerichtshof (EuGH) das OMT voriges Jahr für rechtmäßig erklärt hatte, trat das deutsche Gericht mit seinem Urteil in dieser Woche den Rückzug an. Zwar überzeugt es mit seiner Grundsatzdiskussion der Schranken europäischer Institutionen, doch kneift es im konkreten Fall. Bei aller Kritikwürdigkeit könne man die Auslegung des EuGH gerade "noch hinnehmen", schreibt das Gericht. Die Auslegung sei jedenfalls nicht "offensichtlich" falsch, und das genüge, um die Klagen gegen das OMT abzuweisen. Die Angst vor dem Organstreit führte den Richtern die Feder.
Von der Sache her geht es beim OMT um das "Whatever it takes" von EZB-Präsident Mario Draghi, das Versprechen, den Investoren die Staatspapiere von Krisenländern in unbegrenztem Maß aus ihren Portfolios herauszukaufen, bevor ein Staat pleitegeht. Kommt nämlich ein Staat in Schwierigkeiten, so schlüpft er unter den Euro-Rettungsschirm ESM, und wenn er da ist, kauft die EZB den Investoren die Papiere ab. Der OMT-Beschluss bedeutet eine Entgrenzung des vorher schon realisierten Securities Markets Programme (SMP) der EZB, im Rahmen dessen die Zentralbanken der Eurozone in gemeinschaftlicher Haftung für 223 Milliarden Euro die Staatspapiere der Krisenländer erwarben. Die Zentralbank setzt die Steuerzahler der Eurozone einem finanziellen Risiko aus, weil die Gewinnausschüttungen der EZB bei einem Ausfall der von ihr erworbenen Papiere schrumpfen. Für die Märkte kommt das einem kostenlosen CDS-Versicherungsschutz gleich, wie ihn jeder Anleger auch selbst hätte erwerben können, um sich vor dem Konkurs seines Schuldners zu schützen. Insofern ist das OMT im Gegensatz zu einer verbreiteten Meinung sehr wohl aktiviert und bewirkt nun schon seit vier Jahren einen beträchtlichen Transfer marktwerter ökonomischer Leistungen von Nord- nach Südeuropa sowie eine Subventionierung des privaten Kapitalflusses dorthin.
Als Reaktion auf das OMT und den ESM fielen seit dem Sommer 2012 die Zinsen, zu denen die Krisenländer sich verschulden konnten. Da die Anleger nun kein Risiko mehr trugen beziehungsweise selbst keine CDS-Versicherungen mehr kaufen mussten, konnten sie sich mit entsprechend niedrigeren Zinsen begnügen. Die Zinssenkung wiederum verringerte die Konkursgefahr und ermunterte die Krisenländer, sich verstärkt zu verschulden. Das half zunächst über die Runden, verhinderte aber die zur Vermeidung neuer Schulden notwendige Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Mit Ausnahme Irlands, das schon zuvor schmerzliche Reformen durchgeführt hatte, weil zunächst niemand half, nahmen die Schuldenquoten überall ganz erheblich zu. Die politischen Schuldengrenzen, die zur Verhinderung des Missbrauchs der Gemeinschaftshaftung gezogen wurden, erwiesen sich als wirkungslos.
Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts wird sich die Schuldenspirale in Südeuropa immer weiter drehen Der OMT-Schutz senkt die Zinsen, die fallenden Zinsen erhöhen die Verschuldung, und die höhere Verschuldung verlangt immer mehr Systeme zur Gemeinschaftshaftung, was die Zinsen wiederum niedrig hält. Die Sparer werden ihrer Zinseinkünfte beraubt, weil sie die Zinsen in ihrer Funktion als Steuerzahler und Rückversicherer der EZB selbst und ohne Entgelt nach unten drücken müssen. Später wird man sie bitten, ihre Steuern direkt zu überweisen.
Die Vereinigten Staaten von Amerika, auf die sich die EZB sonst gerne beruft, hatten nach ihrer Gründung ein ähnliches System der Gemeinschaftshaftung für die Schulden der Bundesstaaten. Doch nachdem die daraus resultierende Schuldenorgie in der Zeit von 1837 bis 1842 neun von 29 Staaten und Territorien in den Konkurs getrieben und nachdem 1861 bis 1865 ein blutiger Bürgerkrieg stattgefunden hatte, wurde eine strikte Nichtbeistandsregel eingeführt. Bis zum heutigen Tage hilft der Bund nicht, wenn ein Staat in Konkurs geht, und die Notenbank Fed kauft überhaupt keine Papiere von Gliedstaaten. Die in den letzten Jahren drohenden Konkurse von Minnesota, Illinois und Kalifornien begleitete die Fed nur mit einem Achselzucken. Und weil die Gläubiger das wissen, leihen sie ihr Geld von vornherein nicht an solche Staaten aus.
Nur geringen Schutz vor der europäischen Schuldenspirale bieten die Beschränkungen für eine Beteiligung der Bundesbank am OMT-Programm, die das Verfassungsgericht in seinem Urteil auflistet. So ist es ziemlich irrelevant, dass die EZB ihre Maßnahmen im Einzelnen vorher nicht ankündigen darf, nachdem sie diese ja im Grundsatz bereits verkündet hat. Auch spielt es keine Rolle, dass jeweils nur feste Kontingente an Staatspapieren erworben werden können, wenn die Zahl und der Umfang solcher Kontingente nicht begrenzt ist. Unerheblich ist ferner die Einhaltung einer nicht näher begrenzten Karenzperiode zwischen der Emission eines Staatspapiers und seinem Aufkauf.
Erheblich wäre es gewesen, wenn der Senat der Bundesbank untersagt hätte, Papiere bis zur Fälligkeit zu halten, denn der Marktwert eines Wertpapiers leitet sich immer von der Kaufbereitschaft des letzten Halters vor seiner Fälligkeit ab. Doch begnügte man sich mit der Einschränkung, dass die Papiere "nur ausnahmsweise bis zur Endfälligkeit" gehalten werden. Da der Ausnahmefall wohl der drohende Staatskonkurs ist, wird der Wert der kostenlosen Deckungszusage dadurch nicht wirklich geschmälert.
Allenfalls die Regelung, dass die Bundesbank keine Papiere von Staaten kaufen darf, die keinen Zugang zum Kapitalmarkt mehr haben, könnte theoretisch eine gewisse Haftungsbegrenzung bedeuten. Doch ist das ein Verbot, das auch der Euro-Rettungsfonds ESM für seine Interventionen gebraucht, ohne dass daraufhin irgendeine praktische Einschränkung ersichtlich wäre. Da der ESM und die EZB die Anschlussfinanzierung für auslaufende Schulden bedrängter Staaten ermöglichen, sichern beide Systeme selbst die Bedingungen, unter denen sie ihre Schutzwirkungen entfalten dürfen. Damit wird die Schuldenspirale immer weiter gedreht, bis die Transferunion fest etabliert ist. Für die Deutschen stellt sich nun die Frage, wie lange sie sich dieser Entwicklung noch aussetzen sollen. Wenn das Verfassungsgericht keinen Schutz vor einer Haftungsunion bietet, muss man nach politischen Schutzstrategien suchen.