Handelsblatt, 02.06.2016, S. 48
Der Juni 2016 wird zu einem Schicksalsmonat für Europa, denn es stehen zwei Entscheidungen an, die maßgebliche Bedeutung für die Zukunft der EU haben werden: am 23. Juni die Entscheidung über den Brexit und zwei Tage vorher, am 21. Juni, die Entscheidung des deutschen Verfassungsgerichts über das OMT-Programm der Europäischen Zentralbank.
Wichtiger ist natürlich die Brexit-Entscheidung. Nachdem der französische Staatspräsident De Gaulle bereits 1963 und 1967 Beitrittsgesuche des Vereinigten Königreichs abgeblockt hatte, gelang es dem Land erst im dritten Anlauf 1973 beizutreten. Doch war der Widerstand gegen die ausgehandelten Bedingungen in Großbritannien groß, was 1975 bereits zu einem Referendum zur Frage der Mitgliedschaft führte, bei dem sich die Mehrheit aber für den Verbleib aussprach. Erst die Sonderkonditionen, die Margaret Thatcher später heraushandelte, schienen die EU-Skeptiker einstweilen zu beruhigen.
Neue Europa-Skepsis wurde in Großbritannien durch die Euro-Krise geschürt. Obwohl Großbritannien die Krise praktisch gar nicht mitfinanziert, sind die britischen Ängste gewachsen, eines Tages doch in den Strudel der Haftung für die Schulden der Banken und Staaten Südeuropas hineingezogen zu werden. Außerdem zerrt neuerdings die Flüchtlingskrise an den Nerven der Briten.
Nachdem die Premiers Edward Heath und Thatcher der Zuwanderung aus dem Commonwealth einen Riegel vorgeschoben hatten, befürchten die Briten nun, Opfer einer neuen Migrationswelle aus der EU zu werden. Nur die Angst der noch unentschiedenen Wähler vor den Risiken eines Austritts wird vermutlich eine knappe Mehrheit für den Verbleib im Euro bedeuten.
Dennoch ist die EU angeschlagen. Die Unfähigkeit der Brüsseler Spitzenkräfte, eine glaubwürdige und überzeugende Strategie für Europa zu präsentieren, die auf die Selbstheilungskräfte und die Marktdynamik des Kontinents setzt, ist so offenkundig, dass es vielen Europäern derzeit schwerfällt, diesen Kräften weiterhin Vertrauen entgegenzubringen. Die Zeit des bedingungslosen Vertrauens in die Alternativlosigkeit des in Brüssel eingeschlagenen Weges nach Europa ist vorbei.
Obgleich weniger spektakulär, hat auch die im Juni anstehende OMT-Entscheidung des deutschen Verfassungsgerichts das Potenzial, die EU zu verändern. Es geht um die Frage, ob die Bundesbank sich an der unbegrenzten Deckungszusage beteiligen darf, die die EZB im Jahr 2012 den Käufern der Staatspapiere der Krisenländer gegeben hat.
Anleger, die die Staatspapiere eines Krisenlandes kaufen, brauchen vor dem Konkurs dieses Landes keine Angst mehr zu haben, denn bevor eine Konkursgefahr virulent wird, kauft ihnen die EZB die kritischen Papiere ab. Nur ein Antrag beim ESM muss gestellt werden.
Damit wird das Konkursrisiko den Steuerzahlern der noch gesunden Länder der Euro-Zone zugeschoben, die in einem solchen Fall dauerhaft auf einen Teil der Gewinnausschüttungen des Euro-Systems verzichten müssen.
Bei dieser Entscheidung geht es um die Frage, ob die vom EuGH bereits abgesegnete Interpretation der Verträge mit dem deutschen Grundgesetz kompatibel ist oder ob das allein dem Bundestag zustehende und vom Bundestag gar nicht aufhebbare Budgetrecht ausgehöhlt wird. Hierüber kann der EuGH nicht entscheiden.
Zwei Gründe sprechen dafür, dass das deutsche Verfassungsgericht der Bundesbank Bedingungen für die OMT-Teilnahme setzen wird. Zum einen ist das deutsche Gericht dem Vernehmen nach bereits von der Bundesbank konsultiert worden, als es um das neue QE-Kaufprogramm ging, und hat dabei eine Einschränkung der Gemeinschaftshaftung der Zentralbanken verlangt. Zum anderen hat das Gericht in einer vorläufigen Stellungnahme zum OMT bereits vor zwei Jahren den Verdacht geäußert, dass die EZB ihr Mandat überdehnt.
Wenn das deutsche Gericht bei seiner Linie bleibt, werden die Spreads auf den Märkten, die heute viel zu niedrig sind und die wahren Risiken der Investitionen gar nicht mehr widerspiegeln, wieder ansteigen. Das würde manche Tagträume beenden, doch wäre es ein Schritt zur Stärkung der Eigenverantwortung und zu einer Rückkehr zu festen Budgetbeschränkungen, ohne die kein Wirtschaftssystem überleben kann, auch das Euro-System nicht.
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